53.
Peking, China
Tatarenstadt
Britische Botschaft
31. Mai 1900
Ortszeit: 20.46 Uhr
Da ihm bewusst wurde, dass dies die beste Gelegenheit war, die Gesandten zu treffen, klopfte Wilson sich den Staub aus dem Anzug und zog ein frisches Hemd an. Die chinesischen Diener hatten seine Reitstiefel so blank poliert, dass er sein Gesicht darin sehen konnte. Er war müde von der langen Reise, gab sich aber dennoch Mühe mit der weißen Fliege, die die Diener ihm gegeben hatten, und kämmte sich die Haare nach hinten. Es war so drückend heiß, dass er sich wehrte, das Jackett anzuziehen; das wollte er erst tun, wenn es nicht mehr anders ging. Darum nahm er es über den Arm und ging zur Tür.
Er trat auf die Veranda des zweiten Stocks und blickte über das Botschaftsgelände und die hohe Mauer ringsherum. Von allen Botschaften war die britische am besten geschützt. Nach Westen zu lag der kaiserliche Wagenpark, ein großes, freies Gelände mit wenigen Gebäuden. Und hinter der Ostmauer floss der stinkende Jadekanal, der so voller Krankheitskeime und Abfälle war, dass sicher niemand hineinspringen würde. Wilson schnupperte und tatsächlich drang der widerliche Gestank bis zu ihm herauf.
Als der Vollmond hinter einem Wolkenstreifen hervorkam, hörte Wilson schwach das Spiel eines Streichquartetts.
Es war schwer zu glauben, dass er im Jahre 1900 in Peking stand. Als er sich nach Nordwesten drehte, schlug sein Herz schneller, denn er dachte an Randall Chen hinter den zinnoberroten Mauern der Verbotenen Stadt. Er wusste, dass Randall beunruhigt war, weil man ihm berichtet haben dürfte, dass dreihundertfünfzig bewaffnete Soldaten aus sechs Nationen im Laufschritt durch das unbemannte Chienmen-Tor gekommen waren.
Wilson dachte daran, wie er zwischen den US-Marines durch die Straßen gehastet war, begleitet vom Geheul Tausender Pekinger, die sich am Straßenrand drängten und ihnen Schimpfwörter zuriefen, mit denen sie die Vorfahren der Soldaten beleidigten. Er hatte um sein Leben gefürchtet, obwohl er Bewaffnete zu seinem Schutz bei sich gehabt hatte, und war heilfroh gewesen, als Captain McCalla Laufschritt befahl, sowie sie sich dem Gesandtschaftsviertel näherten. Wilson hatte gelegentlich einen Boxer in der Menge gesehen, in weißer Tracht mit roten Bändern an Hand- und Fußgelenken. Um den Kopf trugen sie einen roten Schal und auf der Brust das chinesische Zeichen für Glück.
Welche Ironie, dachte er.
Der Hass, den sie ausstrahlten, war enorm. Selbst jetzt in der Gesandtschaft, auf britischem Boden, spürte er ihn, als würde die Aggression wie eine Schwingung durch die warme Nachtluft übertragen.
Er griff in die Hosentasche und zog die Phiole heraus, die Minerva ihm gegeben hatte – sie hatte den Transport unbeschadet überstanden und schien nicht zu zerfallen. Er überlegte, sie einfach über die Mauer in den Jadekanal zu werfen, doch er wurde abgelenkt, als ihn aus dem Garten jemand rief.
»Kommen Sie, Wilson, das Dinner wartet!«
Es war Captain McCalla.
Wilson ließ die Phiole wieder in die Tasche gleiten, zog sich das Jackett an und eilte die Treppe hinab.
Die Residenz des Botschafters war ein prächtiges chinesisches Bauwerk mit drei Etagen und grünen Dachziegeln, die bedeuteten, dass es von einem hochrangigen Beamten bewohnt wurde. Auf der Säulenveranda saß ein Streichquartett, drei Herren und eine Dame, die Beethoven spielten, und das sehr gut. Vom Ballsaal führten große Flügeltüren nach draußen, wo wenigstens vierzig männliche Gäste aller Nationalitäten im Smoking oder in Galauniform standen. Die Damen zählten etwa fünfundzwanzig und trugen üppige, farbenprächtige Abendkleider, viele hielten auch Fächer in der Hand, um sich das Gesicht zu kühlen. Chinesische Diener in weißen Anzügen gingen mit Silbertabletts herum, auf denen sie kühlen Champagner und Kanapees anboten. Es brannten hundert oder mehr Petroleumlampen, die mit ihrem flackernden Licht die luftige Höhe der Decken unterstrichen. Draußen im Garten hingen noch einmal ebenso viele rosafarbene Papierlaternen in den Bäumen.
Was Wilson am meisten überraschte, war die heitere, entspannte Haltung der Gäste; sie schienen die Lage jenseits der Grundstücksmauer überhaupt nicht zu beachten.
Captain McCalla führte ihn zu Sir Claude MacDonald, dem britischen Botschafter. Wilson kannte seinen Ruf. Neben diesem stand der amerikanische Botschafter, Edwin Conger, ein imposanter, bärtiger Bürgerkriegsveteran und ehemaliger Kongressabgeordneter, dem Captain McCalla unterstellt war.
»Wie ich höre«, sagte Sir Claude bei der Begrüßung, »sind Sie der Grund, dass so viele unserer Soldaten hier sind, um uns zu schützen.« Er war ein glatt rasierter, soldatisch wirkender Mann von fünfunddreißig mit einem gezwirbelten Schnurrbart, der seitlich über die Ohren hinausragte. An der Brust hatte er nicht weniger als sechs Orden, einschließlich der Egypt Medal, und Königin Victorias Auszeichnung, die ihn als Botschafter auswies.
»Wir hatten Glück, dass wir durchgekommen sind«, erklärte Wilson beim Händeschütteln.
»Offenbar waren die Sandstürme um Tientsin abscheulich«, erzählte Sir Claude. »Ich hörte einen der Offiziere sagen, er werde noch eine Woche lang husten.«
»Der Sand war meine geringste Sorge«, erwiderte Wilson.
»Sie hätten sich bei uns ankündigen können«, meinte Conger, der mit seinem Yankee-Akzent völlig aus dem Rahmen fiel. Er gab Wilson einen sehr kräftigen Handschlag. »Dann hätten wir eine Riesenfeier für unsere Soldaten abhalten können.«
»Das ist kein Augenblick zum Feiern«, widersprach Wilson ernst.
»In den Briefen, die wir von General Gaselee und Admiral Seymour erhalten haben, werden Sie für Ihre Führung und Tüchtigkeit mit Lob überhäuft«, fügte Sir Claude hinzu. »Sie seien ein Geschenk des Himmels, nichts weniger.«
»Sie sind bescheiden«, erwiderte Wilson. »Wie alle Führer der Acht-Nationen-Allianz erkennen sie die Gefahr, die hier in der Luft liegt.«
»Und Sie teilen ihre Befürchtungen?«
»Für uns ist es in Peking jetzt gefährlicher als je zuvor«, erklärte Wilson. »Gefährlicher als an jedem anderen Ort der Welt, schätze ich.«
»Was hoffentlich stark übertrieben ist, doch wir sind zweifellos dankbar, dass Sie uns heute so viele Soldaten mitgebracht haben«, sagte Conger. »Ich gebe zu, es hat mich überrascht, dass Sie ungehindert nach Peking hineingelangen konnten. Das chinesische Außenministerium hat uns mitgeteilt, dass keine weiteren Truppen zugelassen werden.«
»Aber wir werden sie nicht wieder hergeben«, meinte Sir Claude lachend, »selbst wenn das Außenministerium es verlangen sollte, nicht wahr!«
Wilson ging auf seine Heiterkeit nicht ein. »Ich habe General Gaselee geraten, von jetzt an nicht mehr den Telegrafen zu benutzen, um vertrauliche Informationen zu übermitteln. Besonders nicht, wenn es um Truppenbewegungen geht.«
Conger rückte näher heran. »Sie vermuten falsches Spiel?«
»Vorsicht ist unbedingt geboten«, antwortete Wilson.
»Unsere Nachrichten können unmöglich abgefangen werden«, meinte Sir Claude abfällig. »Wir haben die weltbeste Technik hier in Peking. Die Chinesen sind ein rückständiges Volk. Wie die Boxer halten sie mehr von Aberglauben und Tamtam als von allem anderen. Sie glauben sogar, sie könnten Kugeln mit bloßen Händen auffangen, du lieber Himmel!«
»Sie haben von diesen Gerüchten gehört?«, fragte Wilson.
»Das weiß ganz Peking«, erzählte Conger. »Da gibt es einen Mann, den die Boxer den Meister nennen, und es heißt, dass viele diese unglaubliche Fähigkeit bei ihm bezeugen können. Einer meiner Hausdiener behauptet, es mit eigenen Augen gesehen zu haben.«
»Chinesische Taschenspielertricks«, meinte Sir Claude.
»Wie dem auch sei«, sagte Wilson, »die Pekinger sind unruhig. General Gaselee rät Ihnen, unverzüglich alle Ausländer in die Gesandtschaften zu bringen und außerdem alle unbedeutenden Tore des Gesandtschaftsviertels anständig zu blockieren und die militärische Verteidigung zu verstärken.«
Sir Claude hob seine Bruyèrepfeife an die Lippen, und ein Diener riss augenblicklich ein Streichholz an und zündete sie ihm an. Durch die aufsteigenden Rauchwölkchen sagte er: »Ich werde das mit den übrigen Botschaftern besprechen. Wissen Sie, das amüsanteste Ereignis heute war, dass die Russen – fünfundsiebzig haben Sie mitgebracht, wie ich höre – versehentlich ihren Neunpfünder in Tientsin gelassen haben, diese Idioten! Es freut mich aber, dass sie wenigstens an die Munition gedacht haben. Sie haben die Kisten den ganzen Weg hierher geschleppt. Doch leider haben wir jetzt kein einziges Geschütz für die Granaten! Das ist wirklich ein Witz!«
Conger musste unwillkürlich grinsen und verkniff es sich erst, als er Wilsons ernstes Gesicht sah. »Ich habe fünfundzwanzig zusätzliche Männer abgestellt, die unsere Botschaft Tag und Nacht bewachen. Ich habe auch die Gatling im Vorhof aufstellen lassen, die die Seesoldaten mitgebracht haben.«
»Ich bitte Sie, meine Herren!«, rief Sir Claude gut gelaunt aus. »Unsere Sorgen sind beseitigt! Die Krise ist abgewendet, und weitere Hilfe ist unterwegs. Dem Brief zufolge marschiert Admiral Seymour in diesem Moment mit zweitausend Mann und Nachschub gegen Peking, um unsere Lage zu verbessern. Die Chinesen wissen das und werden es nicht wagen, uns anzugreifen. Und Sie müssen bedenken, Mr. Dowling, die kaiserliche Garde ist auch hier, um uns zu schützen.«
»Die werden uns nicht verteidigen kommen«, widersprach Wilson nachdenklich. »Kaiser Kuang Hsu wurde abgesetzt, und die Kaiserinwitwe ist wieder an der Macht.«
»Sie wurde seit über zwanzig Jahren nicht gesehen!«, erwiderte Sir Claude selbstgefällig. »Sie versteckt sich hinter dem gelben Seidenvorhang. Die alte Frau würde es nicht wagen, uns die Stirn zu bieten.«
»Hören Sie auf mich, Exzellenz«, sagte Wilson. »Die Kaiserinwitwe wird uns keine Hilfe gewähren, wenn die Boxer angreifen. Das Außenministerium hat dieselbe Haltung zu verstehen gegeben. Wir sind auf uns allein gestellt und müssen wachsam sein. Wenn die Boxer die Mauer dieses Viertels durchbrechen, werden Sie Ihre Familie sterben sehen.«
»Machen Sie sich nicht lächerlich!«, schnaubte der Botschafter.
»Die Lage wird immer brisanter«, warnte Wilson. »Sie müssen auf alles gefasst sein. Bis Morgen vor Sonnenuntergang werden alle Bediensteten, die für westliche Ausländer arbeiten, kleine schwarz-rote Kärtchen bekommen haben, die ihnen sagen, dass sie Folter und Tod erwarten, wenn sie weiter für die fremden Teufel arbeiten.«
»Woher wollen Sie das wissen?«, fragte Conger.
Da Wilson die Frage erwartet hatte, antwortete er ohne Zögern: »Weil ich von meinen Spitzeln in China Nachricht erhalten habe. Die Lage spitzt sich zu.«
Sir Claude stieß eine Rauchwolke aus. »Ich glaube, das Schlimmste haben wir hinter uns«, beharrte er zuversichtlich. »Wie Conger schon sagte: Sie übertreiben. Unsere militärische Position ist so stark wie nie. Und wie Admiral Seymour schreibt, ist er in knapp zwei Wochen hier mit den neuesten Geschützen und den bestausgebildeten Soldaten, um die Souveränität der Gesandtschaften zu schützen.«
»Der Hass der Boxer ist nicht zu unterschätzen«, hielt Wilson ihm entgegen. »Und auch nicht die Größe ihrer Streitmacht. Sie haben zwanzig Jahre mit Dürren, Überschwemmungen, Hunger und Seuchen hinter sich – und uns geben sie die Schuld daran. In der ganzen Stadt, in ganz China hängen Plakate, auf denen steht, dass die Abendländer das Blut der Chinesen trinken und dass ihre Eisenbahnen die Geister der Erde beleidigt haben. Darum gebe es die Dürren, und darum sei ihr Lebensunterhalt vernichtet worden.«
»Aber das ist doch gar nicht wahr!«, dröhnte Sir Claude. »Diese Leute sind dumm. Wissen Sie, ich lebe hier schon über fünf Jahre und bin noch keinem Chinesen begegnet, der sich mit einem Briten vergleichen ließe.«
»Sie sollten Ihre Haltung ändern«, riet Wilson mit durchdringendem Blick. »Ihr Hass ist zügellos, ihre Zerstörungswut grenzenlos. Tag für Tag werden sie zum Aufruhr angestachelt, und wenn der Funke einmal übergesprungen ist, geht alles in die Luft.« Wilson hielt inne. Die besänftigenden Melodien von Strauß klangen im Hintergrund. »Wenn die britische Botschaft fällt, fallen alle. Sie könnten ein Held werden, wenn Sie die Verteidigung verstärken und alle britischen Bürger auf das Gelände rufen; wenn Sie aber gar nichts tun, setzen Sie alles aufs Spiel. In dieser Stunde werden in Shantung Missionare gefoltert und getötet, sogar Frauen und Kinder. Die chinesischen Christen teilen ihr Schicksal zu Tausenden. Bis zum Ende dieser Woche wird es in den Straßen Pekings zu ausländerfeindlichen Unruhen kommen. Aber Sie schwelgen in Selbstzufriedenheit. Sie müssen handeln, Exzellenz! Und zwar umgehend!«
Sir Claude war wie vom Donner gerührt. »Sie wagen es, so mit mir zu reden?«, empörte er sich dann. »Sie stehen in meinem Haus, Sir!«
Captain McCalla war von Wilsons Ausbruch sprachlos.
»Ich möchte Sie gern mit meiner Frau bekannt machen«, sagte Conger und schob Wilson hastig auf eine größere Gruppe in einer Ecke zu. »Sie möchte Ihnen persönlich danken, weil Sie uns zu Hilfe gekommen sind. Ah, gut, Baron von Ketteler ist auch dort, der deutsche Botschafter. Es lohnt sich, ihn kennenzulernen – ein toller Bursche, auf den man sich im Kampf verlassen kann.«
Wilson wusste genau, wer er war und was ihm in Kürze zustoßen würde. »Freut mich sehr, Baron«, sagte Wilson und gab ihm die Hand.
»Ihre Anwesenheit wird hier sehr begrüßt!«, meinte der Baron mit starkem deutschem Akzent. »Meine Leute setzen großes Vertrauen in Sie. Das ist ungewöhnlich – sie trauen sonst nur Deutschen!« Er lachte schallend.
Während sie so weiterscherzten, wanderten Wilsons Gedanken zu Randall Chen. Er stellte sich vor, wie es sein würde, ihn wiederzusehen. Der Boxeraufstand würde zusammenbrechen, sobald der Meister in der Gleichung fehlte. Leider dauerte es noch eine Weile, bis er sich mit seinem einstigen Schützling befassen konnte. Und die Gelegenheit ergäbe sich erst, wenn die Botschaften einem grimmigen, pausenlosen Ansturm standgehalten hätten.
»Das ist Polly Smith«, sagte Conger und stellte ihm eine hübsche junge Frau im blauen Ballkleid vor. »Sie ist die Nichte des Präsidenten des Obersten Bundesgerichts der Vereinigten Staaten.«
Sie wäre besser nicht hier, dachte Wilson.
»Das ist Wilson Dowling«, fuhr Conger fort. »Ein Australier und wie George Morrison ein Mann, der keine Angst hat, seine Meinung zu äußern. Er ist der oberste Berater von General Gaselee.«
»Freut mich, Sie kennenzulernen«, sagte Wilson und verbeugte sich höflich. »Was bringt Sie nach Peking, Miss Smith?«
»Das Abenteuer natürlich«, antwortete sie mit einem Funkeln in den Augen.
Wilson war nicht überrascht. Offenbar hatten diese behüteten Ausländer keine Ahnung, in welcher Gefahr sie schwebten. Es kam ihnen nicht in den Sinn, dass ihnen eine blutige Belagerung bevorstand. Die würde so sicher folgen wie die Nacht auf den Tag.