6.
Küste bei Pei Tang, China
13 Kilometer nördlich der Taku-Festungen
7. August 1860
Ortszeit: 18.30 Uhr
Unternehmen Esra – Tag 157
Auch nach zwei Tagen war Randall Chen noch wütend, weil Sir Hope Grant gegen seinen ausdrücklichen Befehl mit der 2. Division Richtung Taku marschiert war. Natürlich war zu erwarten gewesen, dass Senggerinchin auf der Lauer lag. Die ganze Situation bewies nur die völlige Arroganz der Briten. Sie glaubten, an Ausbildung, Waffen und Taktik überlegen zu sein und selbstverständlich den Sieg davonzutragen. Doch sie hatten sich ganz erbärmlich geirrt. Senggerinchin war ein geborener Krieger und ein ausgekochter Feldherr. Kein Gegner unterschätzte ihn, ohne teuer dafür zu bezahlen. Er würde die Eigenschaften des Terrains und die Überzahl seiner Leute zu seinem Vorteil nutzen, und nach dem stattgefundenen Gefecht zu urteilen, kannte er Waffen und Taktik der Briten ebenso gut wie Sir Hope.
Dieser Sieg der Qing war in der Tat ein maßgebender Schlag. Denn er bedeutete, dass Randall von nun an alle Gefechtsvorbereitungen noch genauer zu überwachen hatte. Seine übergeordneten Pläne würden sich um wenigstens zehn Tage verzögern, bis der Himmel aufgeklart wäre. Für die Artillerie hatte die Ausgangslage perfekt zu sein. Noch ein taktischer Fehler oder eine Fehleinschätzung, und der Krieg würde sich Monate hinziehen. Jetzt hieß es, zurückhaltend sein und die Ereignisse wieder in die richtigen Bahnen lenken. Und er sollte zuversichtlich sein, trotz des Rückschlags.
An Bord der Furious hinkte Sir Hope durch Lord Elgins Kabine und goss sich noch einen Cognac ein. Der Wind hatte zwar nachgelassen und die smaragdgrüne See war flach wie ein Brett, doch der Regen klopfte nach wie vor gegen die Bullaugen.
»Ich wusste in dem Moment, als ich Probyns Horse hinter der Reiterkolonne hergeschickt hatte, dass das ein verflixter Fehler war«, jammerte Sir Hope. »Diese Tatarenbastarde!«
»Ihren größten Fehler begingen Sie in dem Moment, als Sie das Lager verließen«, erwiderte Randall.
Lord Elgin stemmte seinen schweren Körper aus dem Sessel und ging zu den beiden Kristallkaraffen. Sein Gesicht glänzte vor Schweiß. »Wir müssen daraus lernen«, sagte er nachdenklich. Unter dem leisen Klirren des Kristallglases füllte er seinen bayerischen Cognacschwenker zu zwei Dritteln und trank einen großen Schluck.
Um seine Frustration zu verbergen, knöpfte Randall sich die Nadelstreifenweste auf und zog die Uhr an ihrer Kette hervor, um sie aufzuklappen. Er blickte auf die Zeiger und schloss den Deckel. »Sie haben Glück gehabt, dass Senggerinchin Sie nicht bis zum letzten Mann niedergemacht hat«, sagte er rundheraus.
»Ich habe keine Angst, mit meinen Männern zu sterben!«, stieß Sir Hope hervor. Dann knallte er sein Glas auf den Mahagonitisch, dass der Stiel zerbrach. »Wenn diese Qing-Rüpel eine Schlacht wollen, sind sie bei mir an der richtigen Adresse! Ich werde ihnen selbst entgegentreten, mit dem Säbel in der Hand, in vorderster Reihe!«
»Niemand stellt Ihren Mut in Frage, Sir Hope«, versicherte Elgin.
»Königin Victoria wäre erfreut zu hören, dass Sie diesen draufgängerischen Mut haben«, sagte Randall. »Doch klare Überlegung wäre diesmal angebrachter, meine ich.«
Sir Hope erbleichte sichtlich gedemütigt. Noch nie hatte ein Chinese so herablassend mit ihm gesprochen. »Die Königin hat ihr Schwert auf meine Schulter gelegt, Sir, und mich zu einem Ritter des Empire geschlagen! Nennen Sie nie wieder ihren Namen in meiner Gegenwart. Dazu haben Sie kein Recht.« Unwillkürlich griff er an seinen Säbel, als wollte er blankziehen und Randall in Stücke hauen.
»Wir werden am 21. August angreifen«, bestimmte Randall mit großer Autorität, ohne auf Sir Hopes offensichtliche Beleidigung einzugehen. »Ein morgendlicher Überfall auf die Festung Wei, das ist die größte. Sie liegt am Nordufer des Flusses, der Küste am nächsten. Sie werden Ihre Artillerie und Ihre Leute genau so in Stellung bringen, wie ich gesagt habe – Sie werden mindestens zwanzig Haubitzen brauchen. Die Mauer auf der Ostseite muss zwei Tage lang mit Kanonenkugeln und Granaten beschossen werden. So werden Ihre Leute hineingelangen – durch die Öffnungen, die die Geschütze geschaffen haben.«
»Aber die Wei-Festung ist von allen am besten gesichert«, wandte Elgin ein.
»Genau darum greifen wir sie an. Der Name bedeutet ›mächtig‹, und die Qing glauben daran. Unser Ziel ist, dass die anderen Forts kampflos aufgeben. Wir wollen nicht jede Geschützstellung der Qing mit Gewalt einnehmen müssen. Das würde Zeit und viele Menschenleben kosten. Wie schon der große Sunzi gesagt hat: Es ist besser, die Ressourcen des Gegners unzerstört zu übernehmen, als ihn Mann gegen Mann zu vernichten.«
»Mein Gott!«, rief Sir Hope aus. »Jetzt besitzen Sie auch noch die Frechheit, einen toten chinesischen General zu zitieren! Es waren Chinesen, die meine Männer im Schlickwatt niedergemetzelt haben, Mr. Chen!«
»Wenn Sie meinen Befehlen gehorcht hätten, wäre das nicht passiert!«, entgegnete Randall.
»Ich gehorche nicht Ihren Befehlen, Sir!«
»Verzeihung«, sagte Randall, dem sein Schnitzer bewusst wurde. »Lord Elgins Befehlen. Doch das ändert nichts an der Tatsache, dass Sie das Lager nicht hätten verlassen dürfen. Senggerinchin hat nur darauf gewartet, dass Sie ihm in die Falle gehen. Wenn Sie gehorcht hätten, würden die hundertdreiundzwanzig Männer noch leben, und die anderen hundert hätten jetzt keine Wunden zu pflegen.«
Sir Hope griff nach einem neuen Glas und schenkte sich ein. »Unglaublich, dass ich mir das anhören muss!« Er trank den Cognac in einem Zug und goss sich den nächsten ein.
Randall fuhr fort: »Die 2. Division wird den Angriff auf die Wei-Festung führen. Die Männer werden ihre Niederlage auslöschen wollen. Es wird schwierig sein, aber sie werden siegen.« Randall blickte Sir Hope in die braunen Augen. »Und Sie werden derjenige sein, der sie überzeugt, dass sie das können. Sie werden für ihre Tapferkeit sorgen, Sir Hope.«
Da dieser vom Cognac schon benebelt und außerdem verblüfft war, weil Chen so unerwartet Vertrauen in seine Führungseigenschaften zeigte, konnte er seine Neugier nicht länger bezwingen. »Woher kommen Sie, Mr. Chen?«, fragte er mit dem leisen Tonfall des Zweifels.
»Ich bin mir nicht sicher, wie die Frage gemeint ist.«
»Sie kennen die Zukunft, Mr. Chen. Das haben Sie viele Male bewiesen. Wie können Sie das? Woher kommen Sie? Warum stehen Sie uns gegen Ihr eigenes Volk zur Seite? Denn Sie sind einer von ihnen, trotz Ihrer blauen Augen.«
Lord Elgin sah seinen chinesischen Ratgeber forschend an. Das waren Fragen, zu denen ihm bislang der Mut gefehlt hatte.
Randall blickte Sir Hope in die Augen. »Ich bin hier, damit Sie den Krieg gewinnen – mehr brauchen Sie nicht zu wissen. Sehen Sie es einfach so: Äußerlich bin ich Chinese, aber ich sehe die Welt mit abendländischen Augen.« Er wandte sich Lord Elgin zu. »Und es ist unerlässlich, dass Sie sich an unsere Abmachung halten. Ich werde Ihnen helfen, den Krieg zu gewinnen und den Vertrag von Tientsin durchzusetzen. Dann werden wir gemeinsam auf Peking marschieren. Und wie versprochen wird sich die Geschichte allein Ihrer fähigen, kühnen Führerschaft erinnern – als wäre ich gar nicht hier gewesen. Ihre Truppen werden Senggerinchin besiegen, und China wird offen vor Ihnen liegen wie eine nackte Frau mit gespreizten Beinen. Aber die Mauern der Verbotenen Stadt werden von Ihren Leuten nicht angetastet. Der Kaiser wird nicht geschwächt oder unterworfen. Wenn Sie den Vertrag von Tientsin durchsetzen wollen, in Ordnung. Aber Sie müssen versprechen, sich an unsere Abmachung zu halten, Lord Elgin. Das kann ich nicht klar genug sagen. Die Mauern der Verbotenen Stadt dürfen nicht angetastet werden.«
»Ja, ja, mein Freund«, versicherte Lord Elgin lächelnd und hob das Glas. »Die Mauern der Verbotenen Stadt werden nicht angetastet.« Sein Gesichtsausdruck war der eines Politikers und zeigte keinerlei Schwäche. »Sie haben mein Wort.«