33.

Peking, China
Verbotene Stadt
Garten Qianlongs
26. September 1860
Ortszeit: 22.27 Uhr
Unternehmen Esra – Tag 207

Ihn zu verführen war leichter gewesen, als Cixi sich vorgestellt hatte. Jetzt war er Wachs in ihren Händen; so groß waren seine Gewissensbisse. Sie hatte ihre Rolle perfekt gespielt, doch es blieb noch viel zu tun. Warum dieser Mann ihr half, war nach wie vor ein Rätsel. Doch mit der Zeit, wenn sie ihre erotischen Listen weiter anwandte, würde sie die Geheimnisse seiner Vergangenheit aufdecken und seine wahren Motive enthüllen.

Nicht eine Sekunde lang schloss sie aus, dass er auch ein Spion der Briten sein könnte. Doch mit dem fortschreitenden Zusammenspiel fand sie es immer unwahrscheinlicher, dass Lord Elgin Gewalt über den Blauäugigen hatte. Der war ein gut aussehender Mann, ein ausgebildeter Kämpfer und ein begabter Taktiker. Und er schien Skrupel zu haben – wenn sie auch gebrochen werden konnten durch ihr erotisches Entgegenkommen. Wenn sie dazu noch seine erstaunliche Kenntnis der Zukunft betrachtete, war es noch unwahrscheinlicher, dass der hochmütige, dumme Lord Elgin die Fähigkeit oder Gerissenheit haben sollte, ihn zu lenken.

Sich selbst dagegen gestand sie das Talent zu, dieses schöne, gefährliche Geschöpf für ihre eigenen Ziele einzuspannen. Sie hatte die Macht der Frau auf ihrer Seite – und die war wirksamer als vieles andere. Cixi war der lebende Beweis dafür, eine Konkubine, die sich zur einflussreichsten Frau der Welt entwickelt hatte.

Und doch ermahnte sie sich, nicht zu selbstsicher zu handeln. Sie sollte auf Verrat vorbereitet sein, wie immer, und sich absichern, wo es möglich war, für den Fall, dass die Dinge nicht waren, wie sie schienen.

Auf ihrem Weg zur Halle der Friedvollen Langlebigkeit überquerte sie den gewundenen Graben auf der mittleren Brücke. Die gekrümmte Brücke war aus weißem Marmor gebaut, und zwei Einhornköpfe bildeten die dicken Pfeiler an den Enden. Cixi hatte es nicht eilig. Sie nahm sich einen Moment Zeit und blieb auf dem höchsten Punkt der Brücke stehen, um ihr Spiegelbild auf dem Wasser zu betrachten. Um elf Uhr wollte sie Prinz Kung treffen, und wie immer war sie frühzeitig unterwegs. Zeit zum Nachdenken war wichtig, wenn sie unter Druck stand. Darin versagten die meisten, wenn unter ihnen das Feuer angefacht wurde. In ihrem hastigen Bemühen, die Lage zu verbessern, versäumten sie das Nachdenken.

Der Westliche Palast war für die Eunuchen wieder geöffnet worden, damit sie darin ihren Pflichten nachgehen konnten. Cixi hatte Randall eingeschärft, mit niemandem zu sprechen, damit ihn seine tiefe Stimme nicht verraten konnte. Ihm war der Zugang zu fast jedem Bereich gestattet, außer zu den drei Hallen der Harmonie, den höchstrangigen Gebäuden der Verbotenen Stadt. Seine Anwesenheit könnte ungewollte Aufmerksamkeit erregen, da Palastwachen nur ganz selten dort anzutreffen waren. Sie hatte ihm auch das entsprechende Kurzschwert gegeben, das er am Rücken tragen sollte. Es war ihr nichts anderes übrig geblieben, als ihm die Waffe zu geben, doch sie hielt ihn auch ohne Schwert für einen tödlichen Kämpfer. Das Risiko hatte sich also nicht wesentlich vergrößert.

Als sie den Garten Friedvoller Langlebigkeit betrat, wurde ihr Blick von dem schimmernden See angezogen, der zwischen den Bäumen und Herbstblumen hindurch zu sehen war. Er lockte ein Lächeln auf ihre Lippen. Jedes Jahr am Neujahrstag bewirtete der Kaiser die Adligen, Minister und Konkubinen in diesem Garten, wie der mächtige Qianlong es bestimmt hatte. Hunderte Schalen wurden mit Wein gefüllt und aufs Wasser gesetzt. Wenn die treibende Schale vor einem Halt machte, war man aufgefordert, daraus zu trinken und dann ein Gedicht aufzusagen. Bei einem dieser Feste war der Sohn des Himmels zum ersten Mal auf sie aufmerksam geworden. Ihr Gedicht war so schön gewesen – ein Qing-Klassiker – und ihr Vortrag so leidenschaftlich, dass sie alle Zuhörer sprachlos machte.

Ihr Gedankengang wurde unterbrochen, als Prinz Kung aus der großen Halle kam. Sein Gesicht war blass vor Angst, sein Drachengewand flatterte bei seinen eiligen Schritten. »Ist die Nachricht vom Angriff der roten Teufel schon zu Euch gedrungen, Edle Kaiserliche Gemahlin?«

Cixi verzog keine Miene. »Ja, ich hörte davon.«

»Wir müssen schleunigst fliehen!«, drängte der Prinz.

»Wir gehen nirgendwohin«, widersprach sie resolut. »Ihr müsst das einsehen: Wenn wir fliehen, werden die roten Teufel einmarschieren und die Leere füllen, die wir hinterlassen. Das Reich ist dann verloren. Aber habt keine Angst, mein Bruder. Ich habe einen Plan, der den barbarischen Angriff lange genug hinauszögert, dass wir die verbliebenen Gefangenen bei guter Gesundheit zurückgeben können.«

»Aber das sollten wir nicht tun!«, riet Prinz Kung heftig. »Ihre Gefangenschaft ist das Einzige, was die ausländischen Horden abhalten wird, über die Stadt herzufallen.«

Sie legte ihm sanft die Hand auf die Schulter. »Beruhigt Euch, mein Bruder. Ihr werdet tun, was ich Euch sage, und alles wird gut.« Während der folgenden zehn Minuten erging sich Cixi in allen Einzelheiten über den Brief, der an Lord Elgin zu schreiben sei, und über das Ultimatum, das sie darin stellen wollte. Genau wie sie gegenüber Randall, betrachtete auch Prinz Kung die Taktik mit Misstrauen, doch Cixi redete auf ihn ein und zerstreute seine Bedenken.

»Bedenkt, dass dieser Krieg nicht gewonnen werden kann, indem man den Feind aufhält, doch mit jedem Augenblick, den wir ihnen abringen, wächst unsere Verhandlungsstärke.«

»Aber wer wird mit den weißen Blutegeln verhandeln wollen?«, fragte Prinz Kung besorgt. »Ich habe nicht den Mut oder die Überzeugung, um sie bei dem zwangsläufigen Kampf um Reparationen zu schlagen.«

»Ich werde bei Euch sein, mein Bruder. Wir werden sie gemeinsam schlagen.«

Der Prinz schaute verwirrt. »Wie soll das möglich sein? Keine Frau, auch keine kaiserliche Gemahlin, darf einem so schmählichen Ereignis beiwohnen.«

»Ich werde da sein. Bleibt ruhig.«

Der Prinz rang ängstlich die schweißnassen Hände. »Die Wölfe ziehen den Kreis um uns enger. Ich kann sie spüren. Die Nacht war kalt und finster, und ich glaube, das war sie, weil der Blauäugige die Nacht in diesen geheiligten Mauern verbracht hat.« Er fing an zu flüstern. »Ihr müsst seine Anwesenheit überdenken, bevor wir erwischt werden oder er uns verrät.«

Cixi hob den Blick zu der prächtigen Fassade des Palastes. Seine schiere Größe und Erhabenheit bewirkte, dass sie sich ihres Tuns noch sicherer war. »Ich habe ihn in meinen Bann geschlagen. Der Mann ist mächtig, doch seine Überlegenheit wurde so sicher gebrochen, wie ich mit scharfer Klinge einen Knoten zerschneide, sodass ich ihn nun lenke.«

»Wie könnt Ihr dessen sicher sein?«, fragte der Prinz.

Cixis Gesichtsausdruck zeigte eine Spur von Arroganz, als sie die flache Hand ausstreckte, dann die Finger zur Faust schloss. »Ich habe weggenommen, was er wollte, und gegen ihn gewendet. Jetzt habe ich ihn in der Hand – er gehört nicht mehr Lord Elgin. Das ist der Grund, weshalb wir an diesem schicksalhaften Tag zuversichtlich sein sollten. Ihr werdet tun, was ich sage, und alles wird gut.«

Die hohe, nach Süden gewandte Tür des Palastes öffnete sich einen Spalt breit. Ein Knabe kam herausgelaufen, sprang die Stufen hinab und über den Hof. Es war Tung Chi, Prinz der Qing und Erbe des Reiches. Er trug einen dicken goldgelben einteiligen Anzug aus Baumwolle und einen Samthut auf dem Kopf. An den Füßen hatte er weiße Lammlederstiefel. Zwei Dienerinnen eilten aus der Tür ihm nach.

»Mutter!«, rief Tung Chi. »Mutter!« Mit strahlendem Gesicht und ausgestreckten Armen rannte er auf sie zu.

Cixi zeigte nicht solche Gefühle. Sie wich bloß einen Schritt zurück, um den Ansturm des Fünfjährigen und seiner Umarmung abzufangen. Sie nahm ihn bei den Schultern und schob ihn ein Stückchen von sich. »Wie oft habe ich dir schon gesagt, dass junge Prinzen nicht herumrennen wie kopflose Hühner im Pferch? Du musst würdevoller sein, mein Sohn.«

Tung Chi sah verwundert zu ihr auf. »Verzeiht, Mutter. Ich freue mich nur so sehr, Euch zu sehen«, plapperte er.

Prinz Kung zog den Jungen an sich, wie um ihn zu beschützen. »Deine Mutter ist hier, um wichtige Neuigkeiten mit mir zu besprechen. Für das Reich ist eine schwere Zeit angebrochen, und deine Mutter ist die Einzige, die uns vor einem furchtbaren Schicksal bewahren kann.«

»Und der Sohn des Himmels?«, fragte Tung Chi seinen Onkel.

»Er beschützt uns alle«, antwortete dieser.

»Der Sohn des Himmels ist zur Zeit nicht hier«, erklärte Cixi. »Aber ich als seine Gemahlin werde meine Pflicht tun.«

Inzwischen hatten die Dienerinnen den Kleinen eingeholt. Sie zogen ihn von Prinz Kung fort und machten sich eilig daran, die Kleider und Haare ihres Schützlings zu richten.

Cixi entlud ihren Zorn. »Ich habe euch hundert Mal gesagt, er muss strenger erzogen werden! Er darf nicht über den Hof rennen wie ein gewöhnliches Kind! Dieser Knabe ist der nächste Sohn des Himmels, und ich übertrage euch die Pflicht, ihn zu lehren und zu versorgen. Enttäuscht mich nicht noch einmal, sonst könnt ihr für den Rest eurer Tage die Spucknäpfe reinigen.«

»Wir bitten um Vergebung, Edle Kaiserliche Gemahlin«, sagten sie im Chor.

»Tut das nicht noch einmal!«, wiederholte Cixi. »Nehmt meinen Sohn und sorgt dafür, dass er seine Übungen absolviert, wie ich es verlangt habe. Seine Schreibkunst entspricht nicht den Anforderungen. Und sein Lesen auch nicht. Enttäuscht nicht den Knaben, der eines Tages ein Gott sein wird.«

Die Dienerinnen scheuchten den kleinen Prinzen zurück zum Palast, damit er das Lernen fortsetzte. Tung Chi sah sehr traurig aus; er hatte noch nie elterliche Liebe von seiner Mutter erfahren. Vom Augenblick seiner Geburt an war er wie alle Kinder der Konkubinen von Ammen versorgt und nach den Lehren des Hofes erzogen worden. Die Aufgabe der Konkubine nach der Geburt war es, ihren Körper wieder in den Zustand zu bringen, in dem sie den Sohn des Himmels erfreuen konnte.

»Ihr müsst liebevoller mit dem Kind umgehen«, bemerkte Prinz Kung.

Cixis Gesicht nahm einen düsteren Ausdruck an. »Belehrt mich nicht, was das Beste für ihn ist. Ich habe ihn geboren, und ich habe ihm einen Vater gegeben, der ihm ein Leben mit Privilegien und Macht sichert. Darum wird Tung Chi lernen und seine Familie stolz machen. Als der nächste Sohn des Himmels muss er lernen, nichts und niemanden zu sehr zu lieben – nicht einmal mich. Sonst entwickelt er eine Schwäche, die die Seele unserer Nation angreifen kann.«

Prinz Kung seufzte tief. »Aber er ist noch ein Knabe.«

Cixi stand da mit hoch gerecktem Kinn und ernstem Gesicht. »Sprecht nicht noch einmal über meine Mutterschaft, sonst wird sich das zwischen uns stellen.« Sie blickte in die Ferne. »Ihr habt Wichtiges zu tun, mein Bruder. Geht und schreibt den Brief an Lord Elgin, sonst sind die Folgen unabsehbar.«

Unsicher, ob sich ihre Drohung auf die roten Teufel bezog oder auf ihn, falls er versagte, nickte er kapitulierend und eilte davon, um ihrer Forderung nachzukommen.