34.
Peking, China
Tatarenstadt
Kaomio-Tempel
29. September 1860
Ortszeit: 12.24 Uhr
Unternehmen Esra – Tag 210
Randall Chen betrat die großzügigen Räume des Kaomio-Tempels, wo der britische Konsul gefangen gehalten wurde. Parkes stand an dem hohen Fenster, das aus dem zweiten Stock über den Hof blickte, und rauchte lustlos eine Pfeife. In dem lichtdurchfluteten Zimmer standen in einer Ecke ein bequemes Bett und in der anderen eine große Badewanne. Am Fenster befand sich ein Schreibtisch aus Rosenholz, und in der Mitte war ein kunstvoller Esstisch mit allen möglichen Speisen gedeckt. Abendländische Kleidung hing in einem offenen Schrank, und auf dem Fensterbrett lag eine Auswahl an Tabaksorten.
»Ich hab doch gesagt, ich will nichts mehr!«, sagte Parkes ungeduldig, ohne sich umzudrehen. »Also gehen Sie, bevor ich ärgerlich werde!«
Schweigend legte Randall einen Stoß Papier, Feder und Tinte auf den Schreibtisch. Dann sagte er: »Es muss eine sehr angenehme Gefangenschaft sein, wenn Sie hinsichtlich Ihrer Zellenbesucher so furchtlos bleiben.«
Bei der vertrauten Stimme fuhr Parkes herum. Er konnte nicht anders, er musste lächeln, als er Randall in der grünen Kluft der Eunuchengarde sah. »Ich dachte mir schon, dass ich Sie bald wiedersehe. Sind Sie hier, um mich zu retten oder um mich ins Jenseits zu befördern?«
»Weder noch«, antwortete Randall.
Parkes klopfte den überschüssigen Tabak aus der Pfeife und legte sie aufs Fensterbrett. »Ob Verräter oder nicht, ich bin erfreut, Sie zu sehen, alter Freund.«
»Ich freue mich ebenfalls.«
»Seit zehn Tagen halten sie mich schon gefangen«, bemerkte Parkes, »und meine Unterbringung war nicht immer so hübsch wie diese. Ich nehme an, das hat etwas mit Ihnen zu tun?« Er wirkte abgezehrt und erschöpft, daran änderte auch seine ordentliche, saubere Erscheinung nichts.
»Wie kommen Sie darauf?«
Parkes zog sich einen Stuhl ans Fenster und ließ sich müde darauf nieder. »Seit meiner Gefangennahme hatte ich viel Zeit, über alles nachzudenken, Mr. Chen. Und ich muss zugeben, dass meine Gedanken immer wieder bei Ihnen und Ihrem erstaunlichen Weitblick auskamen. Darum stelle ich mir vor, dass das Ihr Werk ist.«
»Nicht ich habe Sie aus dem Gefängnis geholt. Prinz Kung und die Edle Kaiserliche Gemahlin Cixi haben Sie hierher bringen lassen.«
»Sind die anderen am Leben?«, fragte Parkes.
»Leider sind einige der Brutalität der Folter erlegen, aber den meisten geht es gut.«
Bei der Auskunft sah Parkes tieftraurig aus. »Ist Henry Loch am Leben?«
»Auch ihm geht es erfreulicherweise gut.«
»Es war eine abscheuliche Erfahrung im Gefängnis«, sagte Parkes mit düsterer Miene. »Da ist das hier schon ganz etwas anderes, hm?«
»Es gibt einiges, wofür Sie dankbar sein können. Der Kriegsrat empfahl dem Kaiser, Sie und Ihre Leute bis zum Hals einzugraben und den streunenden Hunden zu überlassen, damit sie Ihnen das Gesicht wegfressen.«
»Die Chinesen können sehr grausam sein, wenn sie wollen«, befand Parkes. »Aber auch mitfühlend. Bitte, danken Sie dem Prinzen und der kaiserlichen Gemahlin für ihre Intervention. Wie es scheint, bin ich nun ihrer Gnade ausgeliefert. Wie alle Qing werden Sie sicher etwas für ihr Mitgefühl verlangen.« Er deutete auf das Schreibzeug.
»Sie verlangen Ihre Hilfe, mehr nicht.«
»Einen Brief an die Königin zweifellos.« Parkes lachte leise. »Mir scheint, Sie sind zur anderen Seite übergelaufen, als es nicht mehr glattlief, Mr. Chen. Was Sie sagen, bestätigt meine schlimmsten Befürchtungen – Lord Elgins Truppen wurden auf dem Schlachtfeld besiegt. Ich habe die Anzahl der Tataren bei Chang Chia-wan gesehen, und die Falle, die für uns aufgestellt war. War die Falle Ihre Idee, Mr. Chen?«
»Ganz im Gegenteil«, erwiderte Randall. »Lord Elgin und Sir Hope haben den umfassendsten Sieg der britischen Geschichte errungen. Senggerinchin und seine Tataren haben auf freiem Feld frontal angegriffen. Sie zählten über fünfzigtausend, die Alliierten hatten nur ein Zehntel davon. Es war eine blutige Begegnung, aber dank überlegener Taktik und Feuerkraft hat Lord Elgin gesiegt.«
Parkes war bass erstaunt. Er konnte nicht glauben, was er hörte. Er stand von seinem Stuhl auf. »Wir haben gesiegt?«
»Es war der größte Sieg aller Zeiten.«
Parkes drehte sich zum Fenster um und schaute in den Hof, wo gut zwanzig Wachen standen. »Wir haben gesiegt«, flüsterte er verwundert. Dann lachte er, bis ihm die Vernunft sagte, dass er seine Freude nicht so deutlich zeigen sollte. Er wandte sich Randall wieder zu. Seine Augen sprühten vor Leben, als wäre seine Seele von den Toten erweckt worden. »Wie war das möglich?«
Randall ging nun auch ans Fenster und sah nach draußen. »Weil ich Lord Elgin und Sir Hope gesagt habe, was zum Sieg nötig ist.«
»Sie waren während der Schlacht bei ihnen?«
»Sir Hope und ich Seite an Seite.«
»Ich kann es immer noch nicht glauben!«, rief Parkes aus und schlug sich an die Stirn. »Ich bin ja so froh«, fügte er seufzend hinzu. »Ich hatte befürchtet, wir seien mühelos besiegt worden, und man werde mich jetzt gesund pflegen, damit ich zu meiner Hinrichtung gehen kann. Ich weiß, dass es den Chinesen lieber ist, wenn ihre Gegner kräftig sind, weil sie dann die Folter länger überleben, bevor man sie schließlich umbringt.«
»Dass die Alliierten die Schlacht gewonnen haben, garantiert nicht Ihre Sicherheit«, klärte Randall ihn auf. »Ganz im Gegenteil.«
»Welche Rolle spielen Sie denn nun in diesem Stück, Mr. Chen?«, verlangt Parkes barsch zu wissen. »Sie scheinen seit dem großen Ereignis ja weit herumgekommen zu sein.«
»Mein Bündnis mit Lord Elgin ist beendet«, erklärte Randall. »Ich hatte ihm versprochen, seine Verbände unter geringen Verlusten bis an die Stadtmauer Pekings zu führen und dafür von ihm verlangt, die Verbotene Stadt nicht anzutasten und die Qing nicht zu stürzen. Das waren meine Bedingungen, und die müssen Sie und Lord Elgin halten.«
»Ich weiß«, sagte Parkes. »Und Sie nehmen an, das tun wir nicht?«
»Ich kann das Risiko jedenfalls nicht eingehen.«
Parkes wirkte ein bisschen durcheinander. »Wir haben diesen Krieg gewonnen?«, fragte er noch einmal.
»Ja. Der zweite Opiumkrieg ist vorbei«, bestätigte Randall. »Lord Elgin lagert vor der Stadt, zuversichtlicher denn je.«
»Werden Sie mich freilassen?«
Randall schüttelte den Kopf. »Das kann ich nicht entscheiden, das obliegt Prinz Kung und dem Kaiser. Aber machen Sie sich eines klar: Ich bin jetzt gezwungen, die Qing vor derselben Armee zu schützen, die ich im Triumph bis zur Hauptstadt geführt habe. Ich stehe jetzt im Dienst des Kaisers als sein Beschützer. Habe ich mich klar ausgedrückt?«
Parkes deutete auf Randalls Aufzug. »War Kastration dafür Voraussetzung?«
Randall schmunzelte. »Das ist nur die nötige Tarnung, damit ich mich am Hof frei bewegen kann.«
»Ich verstehe. Und ich nehme an, ich soll nun einen Brief an Lord Elgin schreiben und ihn warnen, dass Sie den Qing dienen?«
Randall nickte. »Wenn Sie so freundlich sein wollen.«
Parkes überlegte einen Moment. »Ich war immer Ihr größter Unterstützer, Mr. Chen. Es gibt keinen Grund, das jetzt zu ändern.«
»Wenn Sie kooperieren, werden Sie und Lord Elgin als große Eroberer in die Geschichte eingehen. Sie werden den Vertrag von Tientsin durchsetzen, und das Empire wird weiterhin die bedeutendste Weltmacht sein.« Randall nahm den Federkiel und reichte ihn dem Konsul. »Wenn Sie nicht kooperieren, werde ich persönlich dafür sorgen, dass Sie und Ihre Truppen vom Erdboden weggefegt werden.«
Parkes hielt die Feder zwischen den Fingern, blickte Randall überrascht an und öffnete ein wenig die Lippen angesichts dieser schweren Drohung. »Wie schon gesagt, ich war immer Ihr größter Unterstützer.«
Randall schraubte den Deckel vom Tintenfass und legte ihn behutsam auf den Tisch. »Sie wissen, wozu ich fähig bin«, bemerkte er in einem Ton, als redete er über das Wetter. »Ich weiß immer, was passieren wird und warum. Nur damit das klar ist: Ich weiß, dass Sie und Lord Elgin mich vor Tientsin verhaften und foltern lassen wollten.«
»Das war nie unsere Absicht«, brummte Parkes. »Wir Briten betrügen unsere Freunde nicht.«
»Mein Herz schlägt höher bei diesen Worten, aber Sie und ich wissen es besser.« Dann zeigte er auf das Blatt Reispapier. »Informieren Sie Lord Elgin, dass er Peking unter keinen Umständen angreifen darf. Schreiben Sie, Sie würden gut behandelt und könnten mit den anderen Gefangenen zurückkehren, wenn ein Waffenstillstand vereinbart würde.«
»Was ist mit den Getöteten?«
»Sie werden nicht verschweigen, dass es Verluste gegeben hat, unglücklicherweise aufgrund der Härte der Gefangenschaft und der Dummheit der Wärter. Sie werden betonen, dass das nur wenige aus ihrer Gruppe betrifft, die allesamt als Helden anzusehen seien und den größten Preis gezahlt hätten.« Randall sah ihm in die Augen. »Wählen Sie Ihre Worte gut, Harry. Und natürlich werden Sie Lord Elgin auch unterrichten, dass ich jetzt im Dienst des Kaisers stehe. Machen Sie deutlich, dass der Vorteil, den er genossen hat, jetzt auf der Seite des Feindes liegt. Die Zukunft kann für ihn angenehm werden oder unangenehm – das liegt bei ihm.«
Parkes setzte sich, richtete das Blatt Papier aus und tauchte die Feder ein. »Sehr geehrter Lord Elgin«, schrieb er mit elegantem Schwung. »Die gute Nachricht lautet, dass ich am Leben bin und mich in Peking befinde.«
»Ach, Harry«, bemerkte Randall, als fiele es ihm gerade erst ein, »falls doch ein Geschoss die Stadtmauer trifft, ist Ihr Leben verwirkt. Machen Sie ihm das klar. Noch bevor der Staub sich gesenkt hat, wird man Ihnen die Kehle durchschneiden.«