24.

Hirsefelder
13 Kilometer vor Peking, China
24. September 1860
Ortszeit: 7.43 Uhr
Unternehmen Esra – Tag 205

Randall wehte ein scharfer sibirischer Wind um die Ohren. Der Himmel war grau, die Wolken zogen dicht über ihm dahin. Ringsherum erstreckten sich Hirsefelder, so weit das Auge reichte. Nur die Silhouette Pekings vor ihm und das Städtchen Chang Chia-wan hinter ihm unterbrachen das einheitliche Bild. Randall ritt in stetigem Galopp, damit ihn Elgins Männer nicht einholen konnten, falls sie es versuchten. Er blickte über die Schulter, doch niemand folgte ihm.

Dass man Parkes in den Kaomio-Tempel gebracht hatte, war sicher ein gutes Zeichen. Der Tempel war ein taoistisches Heiligtum, ein Symbol universellen Friedens. Cixi musste diesen Ort gewählt haben, um Randall hinsichtlich ihrer Absichten zu beruhigen. Wäre sie auf Konfrontation aus, hätte sie den Verbleib des Briten geheim gehalten. Nach allem, was Randall über sie gelesen hatte, würde sie es nicht wagen, ihm in einem taoistischen Tempel eine Falle zu stellen.

Endlich kehrte er an den Ort zurück, wo er vor fast sieben Monaten angekommen war. Nach seinem Transport aus der Zukunft war er in der Verbotenen Stadt rekonstruiert worden, im Palast Friedvoller Langlebigkeit. Und von eben der Stelle würde er zurück in die Zukunft reisen.

Randall hielt auf dem Feldweg an und zog sein Fernglas hervor, um zu der fernen Hauptstadt zu blicken. Nachdem er sich in der Nacht seiner Ankunft davongestohlen hatte, war seine einzige Sorge gewesen, ob er unbemerkt durch die Dunkelheit zum Peiho gelangen würde und sich eine Koje auf einer Handelsdschunke sichern könnte, die in Richtung Meer ablegen würde. Die Lehmziegelmauern um Peking waren stark, über zwanzig Meter Fuß hoch und genauso dick. An jeder Ecke stand ein mächtiger Wachturm mit Schießscharten.

Im Nordwesten der Stadt hinter den niedrigen Wolken lagen die Yanshan-Berge mit ihren steilen bewaldeten Hängen, deren höchste Gipfel den Verlauf der Großen Mauer bestimmten, die siebzig Kilometer entfernt an Peking vorbeiführte. Von der Ebene aus wirkte die Stadt unzerstörbar, doch Randall wusste, dass diese beeindruckende Festung schon zweimal seit ihrer Erbauung vor fünfhundert Jahren erobert worden war. Denn wie es bei Sunzi hieß, es waren nicht die Mauern, die eine Stadt schützten, sondern das Können der Männer, die darauf standen.

Als er bis auf zwei Kilometer herangekommen war, brach die Wolkendecke auf und die Sonne drang hindurch. Über den Yanshan-Bergen drängten sie sich aber zusammen, und es schien dort zu regnen. Während die Silhouette der Stadt größer wurde, wuchs Randalls Angst. Er zählte darauf, dass Cixi ihn erwartete. Wenn er sich irrte, würden ihn die Wächter auf der Mauer bei erster Gelegenheit erschießen.

In der Ferne öffnete sich das mächtige Yungtingmen-Tor. Ein Streifen weißes Licht drang heraus, als die zehn Meter hohen Flügel vier Reiter hinausließen. Mit bunten Tiger-Bannern ritten sie ihm entgegen.

Der vorderste war sicherlich der Ranghöchste, und das bestätigte sich, als Randall das Mandarin-Rechteck mit dem schwarzen Bären auf der Brust sah, das den fünfthöchsten militärischen Dienstgrad bezeichnete.

Randall trabte weiter und zügelte sein Pferd erst, als er auf Armeslänge an sein Empfangskomitee herangekommen war. Die Stadtkulisse im Rücken, blieben die vier tatarischen Reiter respektvoll nebeneinander stehen und ließen den Säbel in der Scheide.

»Wir haben Euch erwartet, höchst ehrwürdiger Randall Chen«, sagte der Offizier. »Ich bin Rittmeister Po. Ich soll Euch in die Tatarenstadt bringen.« Die Augenfarbe seines Gegenübers schien ihn nicht im Mindesten zu verblüffen.

Randall nickte. »Ich danke Euch, Rittmeister Po.«

Ohne ein weiteres Wort wendeten die vier Reiter und ritten dem Stadttor entgegen. Indem sie ihm ihren ungeschützten Rücken zukehrten, zeigten sie, dass sie Randall nicht als Bedrohung ansahen. In langsamem Galopp näherten sie sich der Mauer und überquerten eine Steinbrücke, die über einen breiten Graben führte. Randall spähte in das grüne Wasser und sah, dass es faulig war; das war sicherlich Absicht, damit ein Dummkopf, der es wagte hindurchzuschwimmen, sich die Ruhr holte oder Schlimmeres. Die Cholera war in dieser Gegend weit verbreitet.

Durch dieses Tor hatte Randall damals als Bettler verkleidet die Stadt verlassen. Es war eine kalte Winternacht gewesen, fast so kalt wie an diesem Morgen.

Hinter den Torflügeln begann ein dunkler Gang, der wie ein klaffender Schlund tief in die Festung hineinführte. Randall wurde von Dunkelheit verschluckt, und so betrat er eine der größten Städte der Welt. Peking hatte über 750 000 Einwohner und stellte die Führungsschicht für das 400-Millionen-Volk in den zahllosen Provinzen. 1860 war dies die Hauptstadt der Hauptstädte.

Der Hufschlag hallte durch den finsteren Torweg, und Randall überlegte für einen Augenblick, ob er vielleicht doch in eine Falle ritt. Er spannte alle Sinne an und machte sich auf alles gefasst.

Ihm fiel ein, dass die Slums dieser Stadt selbst unter den Chinesen als höchst abscheulich galten. Es gab keine Kanäle, und die Abwässer wurden in Gruben am Straßenrand gesammelt; es hieß, der Gestank sei für nicht daran gewöhnte Nasen unerträglich.

Als sie wieder ans Tageslicht kamen, war Randall angenehm überrascht. Hinter dem Yungtingmen-Tor lag ein riesiger, geschäftiger Marktplatz, auf dem es zuzugehen schien wie immer, obwohl die gefürchteten roten Barbaren in der Ebene ihr Feldlager aufgeschlagen hatten. Über den Platz schallten die rauen Rufe der Händler, schrille Trompetenstöße und das Geklapper hölzerner Kastagnetten. Masseure, Akupunkteure, Kurpfuscher und Fußpfleger boten im Freien ihre Dienste an zwischen den Ständen mit Obst, Seide, Reiswein, Brot und anderen Esswaren. Barbiere schoren Köpfe kahl oder schnitten die Haare nach Mandschu-Art: oben kahl bis zum Pferdeschwanz. Es gab Akrobaten und Geschichtenerzähler, sogar einen Puppenspieler. In dem Gedränge rannten die Hühner frei umher, Kamele wurden mit allen möglichen Gütern beladen durch die Straßen geführt.

Randall und seine Eskorte trotteten in nördlicher Richtung auf das drei Kilometer entfernte Chienmen-Tor und die Mauer der Tatarenstadt zu. Zu Randalls Verwunderung schien sich der Marktplatz unendlich fortzusetzen. Die schiere Größe verblüffte ihn. Es schien, als wäre die gesamte Menschheit hier zusammengepfercht und gezwungen mitzumachen. Dass das Leben so unbeeinträchtigt weiterlief, war ein Wunder für sich.

Interessanterweise hatte kaum jemand einen zweiten Blick für ihn übrig, sondern man bestaunte vielmehr den kurzhaarigen braunen Araber, den er ritt. Das Tier war mindestens vier Handbreit höher als die stämmigen mongolischen Ponys, die Rittmeister Po und seine Männer lenkten.

Schon von weitem sah er die Mauer der Tatarenstadt aufragen. Sie war noch höher und dicker als die äußere Stadtmauer. Das Chienmen-Tor war ein dreistöckiger Wachturm mit dreistufigem Dach, der vom Sockel bis zum First vierzig Meter maß.

Randall mutmaßte, dass das Gros des Qing-Heeres in der Tatarenstadt stationiert war. Bei einem Angriff auf Peking würden die Mandschu den chinesischen Stadtgürtel sich selbst überlassen und die Verteidigung auf den Schutz der Reichen und vor allem der Verbotenen Stadt konzentrieren.

Die hohen, goldverzierten Torflügel des Chienmen-Tores öffneten sich, und hundert kaiserliche Soldaten in leuchtend gelber Uniform schwärmten aus, um sich drei Reihen tief mit dem Schwert in der Hand, den Blick zum Boden gerichtet, aufzustellen, während Randall und seine Eskorte über die Brücke ritten. Diese spannte sich über einen weiteren Graben mit abgestandenem Wasser und führte ebenfalls in einen finsteren Torweg. Erst nach sechzig Metern gelangten sie wieder ans Tageslicht. Randall kam sich vor, als beträte er eine Welt, aus der es kein Entkommen gab. Dies war in der Tat eine Stadt, die sich hinter zahlreichen Mauern verschanzte.

Hinter dem Torweg erstreckte sich eine Wohngegend mit Tausenden rot gedeckter Häuser, zwischen denen gelegentlich ein Baum stand. Die Luft roch frisch und sauber, die Straßen waren mit großen Granitplatten gepflastert. Hier lebte Chinas gehobene Mittelklasse. Es gab ein verzweigtes Abwassersystem, das den Unrat in die Gräben vor der Stadt leitete. Es herrschte kein Gedränge, im Gegenteil: Nur wenige Leute und Sänften waren unterwegs. Die Nachricht, dass die roten Teufel näher rückten, hatte vermutlich viele überzeugt, nach Norden zu ihren Sommerresidenzen zu flüchten oder sich in ihrem Haus einzuschließen.

»Wo ist der Kaomio-Tempel?«, fragte Randall.

Der Rittmeister drehte den Kopf. »Ich soll Euch in die Verbotene Stadt bringen«, antwortete er. »Dort werdet Ihr erwartet.«

Die Straßen wurden breiter und die Häuser prächtiger, darunter viele verschachtelte Terrassenbauten mit verschlungenen Gässchen dazwischen. Es waren mehr und mehr Soldaten zu sehen, obwohl die Seitenstraßen verlassen wirkten. Man bereitete die Verteidigung der Stadt vor; Kanonen wurden auf behelfsmäßige Plattformen gerollt, Kugeln und Schießpulver in angrenzenden Häusern und Ställen untergebracht.

Nach einem kurzen Ritt mündete die Straße auf den Tiananmen-Platz, und Randall blickte schließlich auf die zinnoberroten Mauern der Kaiserstadt. Die Farbe leuchtete in der Sonne, als wären die Mauern nass. Fünf Tore waren geöffnet, und Randall atmete schneller bei dem Gedanken, dass dahinter die Verbotene Stadt auf ihn wartete.

Unmittelbar vor dem mittleren Tor hielt Rittmeister Po an. »Ab hier müsst Ihr allein reiten«, sagte er ruhig und zeigte auf den Torweg.

Randall trieb sein Pferd zum kurzen Galopp an und ritt hinein. Das Hufgetrappel hallte in der menschenleeren Stille des weißen, makellos glatten Gewölbes.

Als er auf einem freien Hof von der Größe von achtzig Hirsefeldern auskam, wurde ihm flau im Magen. Vor ihm ragte das berühmte Mittagstor auf, der erhabene Eingang zur Mitte des Universums.

Seine zinnoberroten Mauern machten jeden zum Zwerg, der sich näherte. Auf der zwanzig Meter hohen Mauer standen drei Pavillons. Sie waren mit grün-goldenen Drachen und anderen Fabeltieren verziert. Rings um die Dachfirste wehten Hunderte Drachenwimpel aller Farben an hohen weißen Masten. Der Graben, der die Verbotene Stadt umgab, verlief unter dem Hof und dem Mittagstor hindurch.

Die goldenen Dächer der Pavillons waren an den Ecken mit fein gearbeiteten Skulpturen der Schutztiere besetzt: Drache, Phönix, Einhorn, Himmelspferd und Seepferd. In der rückwärtigen Mauer gab es drei große Eingänge, jeder bewacht von einer mächtigen roten Tür mit einundachtzig goldglänzenden Pollern, neun in neun Reihen.

In dem Hof rührte sich nichts, es war vollkommen still.

Randall ritt langsam weiter und hielt in der Mitte an. Innerhalb von Augenblicken erschienen auf den Mauern gelb gekleidete Soldaten mit dem Bogen in der Hand, die einen Pfeil auflegten und die Sehne spannten. So standen sie Schulter an Schulter. Randall wagte nicht, sich zu bewegen.

Dann öffnete sich knarrend das mittlere Tor, das kaiserliche. Randall wusste daher, dass jemand Bedeutendes kam. Um seinen Respekt zu zeigen, stieg er vom Pferd.

Ein wenig steif von dem langen Ritt schritt er über den Granitboden dem Tor entgegen. Dort erschien eine einzelne Gestalt; es war die Silhouette einer Frau.

Cixi trat aus dem Schatten heraus, und ihre Schönheit wurde mit jedem Schritt deutlicher. Sie trug eine scharlachrote Weste mit einem goldenen fünfklauigen Drachen auf der Brust und einen scharlachroten Umhang, der über der rechten Schulter zurückgeschlagen war, dazu kniehohe Stiefel mit eckiger Kappe. Ihre langen, schwarzglänzenden Haare waren über die linke Schulter nach vorn geschlungen.

Es fiel kein Wort, bis sie zwei Schritte entfernt voreinander standen.

»Willkommen in der Verbotenen Stadt«, sagte Cixi. »Eure Augen sind tatsächlich so bemerkenswert, wie man mich glauben machen wollte.«

»Ich hatte auf einen freundlicheren Empfang gehofft«, erwiderte Randall.

Ihr Blick schweifte zu den Bogenschützen, die auf den Besucher angelegt hatten. »Der Empfang ist erst unfreundlich, wenn sie ihren Pfeil loslassen«, entgegnete sie. »Ihr müsst bedenken, Randall Chen, dass sie Euch anlasten, unser Heer bei den Taku-Festungen und an der Acht-Li-Brücke niedergemetzelt zu haben.«

»Euer Heer bediente sich schlechter Taktik«, hielt Randall ihr entgegen. »Senggerinchin glaubte, dass eine bloße Übermacht das rechte Mittel gegen die roten Teufel sei.«

»Was ist stattdessen das rechte Mittel?«, fragte sie.

»Es gibt viele Mittel, um einen überheblichen Gegner zu besiegen«, meinte Randall. »Der erste Schritt ist das Erkennen seiner Schwäche. Nur so kann ein Sieg errungen werden.«

»Auch gegen diesen Gegner?«

»Er hat viele Schwächen«, antwortete Randall.

Er war völlig gefangen von ihrer Anmut und Schönheit. Nach allem, was er gelesen hatte, hätte es ihn nicht überraschen sollen, dennoch … sie war so elegant, so anziehend.

Auch Cixi war beeindruckt von dem gut aussehenden jungen Mann, der vor ihr stand. Für einen Chinesen war er groß und wohlproportioniert, auch muskulös, wie sie sah. Ihr kam der Gedanke, dass es schade wäre, sollte sie ihn am Ende töten müssen. »Ihr seid sehr mutig, dass Ihr allein nach Peking reitet«, sagte sie.

»Ihr habt mich gerufen, und hier bin ich.«

Cixi tat überrascht. »Ich habe nichts dergleichen getan!«

Randall lächelte. »Ihr wäret jetzt nicht hier in diesem Hof, wenn es anders wäre. Ihr wäret bei Eurem Gemahl in Jehol.«

Cixi zeigte ein Lächeln. »So ist es«, räumte sie ein. »Der Sohn des Himmels und sein Hofstaat sind geflohen wie die Mäuse vor der Katze. Und ich bin geblieben, um zu schützen, was leichtfertig zurückgelassen wurde. Im Namen des Himmlischen Prinzen werde ich tun, was nötig ist, um diese Stadt und die Herrschaft der Qing zu wahren.«

»Wenn das so ist, müsst Ihr Harry Parkes und sein Gefolge für die Rückkehr zu Lord Elgin bereit machen lassen. Aus ihrer Gefangenschaft erwächst Euch eine größere Bedrohung, als Euch bewusst ist.«

»So seid Ihr also gekommen, um Euren Freund zu befreien?«

»Parkes ist nicht mein Freund«, widersprach Randall.

»Dann seid Ihr gekommen, um Euren Feind zu befreien?«

»Er ist nicht mein Feind, er ist Euer Feind«, stellte Randall richtig.

»Warum sollte er dann freikommen?«

»Weil seine Gefangenschaft dem Reich mehr schadet, als Ihr begreift. Ohne ihn wird Lord Elgin sprunghaft und unberechenbar, was weder Euch noch Prinz Kung derzeit gelegen kommt. Es heißt, dass Harry Parkes unter der Parlamentärflagge gefangen genommen wurde. Das hat bei den Briten einen empfindlichen Nerv getroffen, da sie sich als ehrbare Gentlemen betrachten.« Ehe Cixi ihrem Spott Ausdruck geben konnte, sagte Randall: »Doch Ihr und ich stimmen überein, dass die Briten und Franzosen weder ehrbar noch vertrauenswürdig sind.«

»Die Worte fließen von Euren Lippen wie überschüssiger Honig aus dem Bienenstock. Ist es möglich, dass Ihr hier seid, um mich zu täuschen und mir zu schmeicheln?«

»Die Sache verhält sich folgendermaßen«, erklärte Randall ohne Umschweife. »Lord Elgin wird in den nächsten Tagen mit seinem Heer auf Peking marschieren, wenn Ihr nicht klug vorgeht – und dann wird Zerstörung sein einziges Ziel sein. Wenn Ihr Zeit gewinnen wollt, um die Verteidigung der Stadt vorzubereiten, müssen Parkes und sein Gefolge sofort freigelassen werden.«

»Und welche Verteidigung könnten wir auf die Beine stellen? Der Großteil unseres Heeres wurde vernichtet.«

»Es gibt viele Arten zu kämpfen«, antwortete Randall. »Und viele Wege führen zum Sieg.« Er zeigte auf die Bogenschützen auf dem Mittagstor. »Eure Schützen sollen die Sehne lockern, dann verrate ich Euch, was Ihr tun müsst.«

Cixi sah in die blauen Augen des Fremden und versuchte, seine Gedanken zu lesen. Er fühlte sich zu ihr hingezogen, das konnte sie immerhin feststellen. Doch seine wahren Absichten blieben verborgen. Warum sollte der beste Stratege der roten Teufel so leicht zur anderen Seite überwechseln? Hatte sie einen Fehler begangen, indem sie ihn hierher lockte? Seine Taten – und die Siege – hatten gezeigt, dass er ein fähiger Mann war. »Wisst Ihr überhaupt, mit wem Ihr es zu tun habt?«

»Ich will Euch nicht mit geistloser Schmeichelei langweilen, Edle Kaiserliche Gemahlin. Es ist Zeit, dass Ihr handelt. Euch bleibt nichts anderes übrig, als mir zu vertrauen. Eure Hoffnung liegt in einem Bündnis mit mir, und solch ein Bündnis schlage ich vor.«

Cixi gelang es, sich ihre Verblüffung nicht anmerken zu lassen. Schließlich sagte sie. »Nur Harry Parkes und Henry Loch sind in Peking. Die anderen wurden zum Sommerpalast gebracht, und es heißt, dass sie gefoltert wurden. Über zehn sind tot und die restlichen in schlechtem Zustand.«

»Wo sind die Toten?«, fragte Randall.

»Sie liegen im Innenhof des Sommerpalasts.«

Randall blickte ihr in die Augen. »Sie müssen eingekalkt werden, um ihre Haut fortzuätzen. Das wird das Werk Eurer Folterknechte unkenntlich machen.« Randall rieb sich das Kinn wie Wilson Dowling, wenn er nachdachte. »Das ist eine unglückliche Entwicklung, doch wir müssen uns jetzt um die Überlebenden bemühen. Jeder, der wieder geheilt werden kann, wird Eurem Reich Millionen Tael an Reparationen ersparen. Ich kann es nicht genug betonen: Man muss sie gesund pflegen. Darum müssen wir Zeit schinden, ehe wir sie zu Lord Elgin zurückschicken. Wir müssen möglichst schnell und überzeugend zeigen, dass Prinz Kungs Führung auf Mitgefühl, Vertrauen und Entgegenkommen beruht.«

»Warum wollt Ihr mir helfen?«, fragte Cixi.

»Ich muss die Qing-Dynastie erhalten«, antwortete Randall. »Euer Sohn wird eines Tages Kaiser sein. Damit es dazu kommen kann, müsst Ihr Eure Gegner in Diplomatie schlagen. Es wird ein hoher Preis zu zahlen sein, weil Ihr einige ihrer Gesandten getötet habt. Doch da sich das nicht rückgängig machen lässt, lohnt es sich, diesen Preis zu entrichten. Unterdessen müsst Ihr den Einfluss Su Shuns auf den Sohn des Himmels unterbinden, bevor er den Thronanspruch Eures Sohnes untergräbt. Nur dann wird die Zukunft des Qing-Reiches gesichert sein.«

Auch diesmal konnte Cixi ihre Verblüffung über die Unverblümtheit des blauäugigen Fremden verbergen. Wie konnte er das alles wissen? Und in solchen Einzelheiten? Sie war sehr von ihm angetan, und zum Glück schienen seine Absichten in dieselbe Richtung zu gehen wie ihre.

»Ich bin froh, dass Ihr dem Reich zu Hilfe kommt«, sagte sie in dankbarem Ton. »Es wird mir eine Freude sein, Euch meine ganze Dankbarkeit zu zeigen, wenn Eure Vorhersagen wahr werden.« Sie drehte sich zum höchsten Punkt der Mauer um und beschrieb mit dem Zeigefinger einen Kreis. Darauf senkten die Schützen ihren Bogen und nahmen Habtachtstellung ein.

Cixi fühlte neue Zuversicht durch ihre Adern rinnen, die sie seit Monaten schmerzlich vermisst hatte. Im Glanz dieser zinnoberroten Mauern hatte sie einen unerwarteten Freund gefunden, der die Macht zu haben schien, das Schicksal Chinas zu wenden.

Randall blickte in ihre Augen und rang darum, sich nicht in ihren Bann schlagen zu lassen. Sie war schön, so viel hatte er erwartet; doch was ihn völlig fesselte, war ihre Anmut und der berauschende Klang ihrer Stimme. Er würde Abstand halten, versicherte er sich. Doch nach nur zehn Minuten in ihrer Gesellschaft musste er zugeben, dass sie die anziehendste Frau war, die er je getroffen hatte.