5.
Mongolisches Feldlager
13 Kilometer südwestlich von Sihne, China
5. August 1860
Ortszeit: 23.30 Uhr
Unternehmen Esra – Tag 155
Senggerinchin hatte geduldig gewartet, bis die britischen Truppen gelandet waren, ehe er seinen ersten Zug machte. Als direkter Nachfahre von Dschingis Khan war er der geborene Krieger, der die Schwäche der Furcht kaum kannte. In der Überzeugung, dass der erste Eindruck, den er mit seinem Heer auf den Gegner machte, für den Erfolg entscheidend war, hatte er seine besten Männer um sich gesammelt und lauerte nun auf Elgins ersten Fehler.
Auf Cixis Bitte war er von Sayn Shanda in der südlichen Mongolei mit viertausend Horqin-Kriegern nach Süden geritten. Unter seinem Befehl standen zudem zehntausend Tataren mit Luntenschlossmusketen – einer außer auf kurze Entfernung unzuverlässigen Waffe. Der mongolische Prinz stützte sich lieber auf das Ehrgefühl geschickter Bogenschützen und die Schnelligkeit gut ausgebildeter Schwertkämpfer.
In seiner Brusttasche trug er den Brief der kaiserlichen Gemahlin, den sie eigenhändig geschrieben hatte. Sie versprach ihm darin unerschöpfliche Freuden, die seine Wünsche überstiegen. Es feuerte Senggerinchin ungemein an, dass sie ihren Leib zur Gänze und auf dem Bett des Kaisers Hsien Feng versprach, im Palast des Westens. Er musste lächeln, als er sich vorstellte, sie im Bett des Himmelssohns zu besitzen. Seinen Samen in die Lieblingsfrau des Kaisers zu spritzen – das wäre sein Augenblick des Triumphs. Auf ewig wollte sie sich seinen Wünschen beugen, und er würde auf der Einlösung des Versprechens bestehen.
In dem großen seidengefütterten Zelt stand sein Mittagessen vor ihm auf dem Tisch ausgebreitet. Er trug einen blauen Kavallerierock mit weiten Hosen. Die Brust war mit dem Schwarzen Horqin-Banner, dem Symbol der Inneren Mongolei, in roter Stickerei verziert. Sein Kopf war kahl und glänzend, die kleinen Ohren anliegend. Ein langer, dünner Schnurrbart, den er zwirbelte, wenn ihm langweilig war, hing bis zum Schlüsselbein herab. Er war stämmig und muskulös wie die meisten Mongolen, und sein Kinn kantiger als das seiner chinesischen Nachbarn. An den Füßen trug er schwarze Reitstiefel und um die Taille einen schwarzen Ledergürtel, an dem ein rasiermesserscharfer Säbel hing, der einst dem mächtigen Dschingis Khan gehört hatte.
Alle halbe Stunde eilten seine Ratgeber in das Zelt, um sich vor seinen Füßen niederzuwerfen und neue Einzelheiten über die Truppenbewegungen der Briten und Franzosen zu melden.
Senggerinchin sprang freudig von seinem Stuhl auf. »Endlich!«, sagte er. »Die roten Barbaren haben ihre Stärke überschätzt!« Soeben hatte er erfahren, dass Sir Hope Grant Napiers 2. Division mit einem Erkundungsauftrag ausschickte.
Mit diesem Sieg werde ich meinem Ziel einen Schritt näher kommen, dachte er schmunzelnd. Er griff in die Brusttasche und zog Cixis Brief hervor. Nachdem er das rosa Reispapier behutsam auseinandergefaltet hatte, hielt er es an die Nase und roch den verlockenden Duft, der sorgsam darin eingefangen war. Sie hatte ihm einen Vorgeschmack auf die Genüsse ihres Körpers gegeben; sie hatte das Papier über ihre Weiblichkeit gerieben, um dem Versprechen mit dem süßen Aroma ihrer Säfte Glanz zu verleihen. Die lockenden Worte ermutigten ihn, sich seine Hände auf ihrer Haut vorzustellen, ihre Lippen auf seinem Fleisch, ihre festen Brüste, die sich hoben, wenn sie rittlings auf seinen Lenden saß und eben jenen Duft ihrer Weiblichkeit darauf verteilte.
Senggerinchin faltete den Brief zusammen und steckte ihn in ein Lederetui, bevor er ihn seinem Konsul zur sicheren Aufbewahrung gab.
Draußen fiel ein gleichmäßiger Regen, als der Mongolenprinz seine acht Generäle zu sich rief. »Lasst die tatarische Reiterei antreten«, sagte er sofort. »Der Zeitpunkt ist gekommen, da wir diesem Krieg unser Siegel aufdrücken. Die feigen Briten wollen unsere Festungen von hinten angreifen. Sie haben kein Ehrgefühl. Aber gerade darum müssen wir noch mehr auf der Hut sein. Ich habe geglaubt, ihr Hochmut werde sie zu einem frontalen Angriff verleiten, doch sie gehen einen vorsichtigen Weg. Das ist sehr unbritisch.«
Keiner seiner Generäle sagte ein Wort, während er seinen Plan erläuterte.
»Heute haben die roten Barbaren einen Fehler begangen. Sie haben bei Regen ihre Infanterie und eine einzige Reiterschwadron in Marsch gesetzt.« Er tippte auf die große Karte, die an der Zeltwand hing. »Ihre Musketen werden bei der Nässe nicht schießen, sodass ihnen nur Säbel und Bajonette bleiben. Damit sind sie unseren Bogenschützen hoffnungslos unterlegen. Sie werden zum Rückzug gezwungen sein, und der Sieg ist unser. Heute müssen wir kühner denn je kämpfen. Am Ende des Tages werden sie begriffen haben, dass das Tatarenheer den Tod nicht fürchtet, sondern willkommen heißt, dass wir stark und entschlossen sind, das Reich der Mitte zu schützen. Sie sollen erfahren, dass der mächtige Prinz Senggerinchin der größte lebende Feldherr der Gegenwart ist.«
Er setzte sich einen dunkelblauen runden Hut mit einer hohen Pelzkrempe auf, von der hinten eine dreiäugige Pfauenfeder herabhing, die höchste militärische Auszeichnung im Qing-Reich. »Handelt rasch und zielstrebig, meine Generäle, denn wir müssen den Barbaren auf offenem Gelände, nämlich im Schlickwatt, begegnen. So können sie die ganze Pracht unseres Heeres sehen.«
Er blickte sie der Reihe nach an. »Enttäuscht mich nicht, sonst werdet Ihr die Schärfe meines Schwertes spüren. Wir Mongolen dulden kein Versagen.« Darauf drehte er sich um und ging mit schnellem Schritt in den strömenden Regen hinaus.
8 Kilometer südwestlich von Pei Tang, China
Am Rand des Schlickwatts
Gegen den Befehl hatte Sir Hope die 2. Division und zwei Reiterschwadronen von Probyns Horse antreten lassen und marschierte mit ihnen, zu zehnt in einer Reihe, auf Taku zu, um selbst zu sehen, was sie dort erwarten würde. Der Regen strömte herab, schon seit mehreren Stunden, und floss nicht mehr ab, sodass sie eine weite Wasserfläche vor sich hatten, die sich unter den Tropfen beständig kräuselte. Trotz dieser trüben Umgebung bot die 2. Division in ihren scharlachroten Jacken, die freilich durchnässt waren, den weißen Hosen und den geschulterten Musketen einen beeindruckenden Anblick. Sie alle trugen flache Filzhüte mit einem weißen Nackentuch, welches verhinderte, dass ihnen das Wasser in den Kragen floss.
Sir Hope, der auf seinem Lieblingspferd, einem weißen Araber, vorantrabte und hinter sich das Patschen der Hufe hörte, hätte nicht zuversichtlicher sein können. Rechts neben ihm ritt Major Probyn auf einem braunen Wallach. Er war ein hartgesottener, erfahrener Offizier, der schon in Indien und Südafrika gekämpft hatte. Er hielt nichts von Politik, sondern nahm seine Befehle entgegen und kämpfte für Königin und Vaterland, wenn es sein musste bis zum Tod.
Auf Sir Hopes Befehl sollten die fünfhundert Männer auf Taku marschieren und sehen, wie weit sie kämen, ohne auf Widerstand zu stoßen. Er hatte die Absicht, das Land nach Westen hin zu erkunden und zu sehen, wie weit sie gehen müssten, um dem morastigen Boden auszuweichen. Wegen des Regens hatten sie keine gute Sicht, doch sie marschierten weiter. Sir Hope hatte entschieden, dass es nicht nach seinem Geschmack war, auf dem Landekopf herumzusitzen und Befehle von einem Kuli entgegenzunehmen, der auf dem Kanonenboot im trocknen, warmen Quartier saß. Sir Hope war ein Mann der Tat, ein mehrfach ausgezeichneter Soldat, der auch im vorigen Opiumkrieg gekämpft hatte – ein Mann, der sich persönlich bei der Einnahme der befestigten Stadt Tschinkiang ausgezeichnet hatte. Dort war er auch verwundet worden, von einem Querschläger seiner eigenen Leute, sodass er nun ein Bein nachzog. Doch er war äußerst stolz darauf, wie er sich im Punjab-Feldzug hervorgetan hatte. Seine taktische Kühnheit hatte die ganze Routenplanung der Rebellentruppen bei Serai Ghat beeinträchtigt. Seiner Vorstellung nach war er ein tüchtiger Soldat, der Befehlshaber seiner Männer und nicht der Untergebene eines chinesischen Beraters.
Durch den Regendunst waren in der Ferne tatarische Reiter auszumachen. Sie schienen sich in dem morastigen Gelände gut auszukennen, und ihre Pferde versanken nicht im Schlamm, ganz im Gegensatz zu Probyns Tieren. Sir Hope zog den Säbel und zeigte auf die Reiter. »Ich sehe nicht mehr als zehn. Schicken Sie Ihre Kavallerie hin. Mal sehen, womit wir es zu tun haben.«
»Unsere Gewehre schießen bei dem Wetter nicht«, bemerkte Major Probyn. »Wir werden sie Mann gegen Mann besiegen müssen.«
»Dann tun Sie es!«, erwiderte Sir Hope mit einem Seitenblick.
Zwar bewegten sie sich durch freies Gelände, doch das Schilf des Schlickwatts bot auf beiden Seiten gute Deckung. Major Probyn befahl, zum Angriff zu blasen. Seine fünfzig Reiter kamen nur langsam voran, als sie mit gezogenem Säbel auf die Tataren zuhielten. Sir Hope verfolgte voller Stolz, wie seine Leute ins Gefecht ritten.
Es dauerte volle fünf Minuten, bis die Probyns, geführt von Captain Timms, festen Boden erreichten und Geschwindigkeit aufnehmen konnten. Und im selben Moment wandte sich die Lage zum Schlechten. Auf beiden Seiten erschienen über fünfhundert tatarische Reiter aus dem Marschland. Die 2. Division war umzingelt und hatte keine Kavallerie, um die Linien aufzubrechen.
Sir Hope begriff, dass er für dumm verkauft worden war. Major Probyn befahl dem Trompeter, die Reiter zurückzurufen, doch die waren zu weit entfernt. Sir Hope brüllte Befehle nach allen Seiten, und seine Soldaten formierten sich zu einem ordentlichen, dichten Kreis, bei dem sie das aufgepflanzte Bajonett nach außen richteten, sodass sie unangreifbar wie ein riesiger Igel aussahen.
Die tatarischen Reiter preschten von allen Seiten heran. Da sie die leichteren Pferde hatten, kamen sie müheloser durch den Morast als die Briten. Im vollen Galopp zogen sie einen Langbogen vom Rücken und schossen einen Pfeil ab, sobald sie auf hundert Meter an die 2. Division herangekommen waren.
Das Ergebnis war vernichtend. Pfeile drangen in Fleisch und Knochen, Männer schrien, und niemand konnte etwas tun, um es den Feinden zu vergelten.
Mitten in dem Blutbad versuchten einige verzweifelt, das Luntenschloss ihrer Muskete zu trocknen, doch das feuchte Pulver machte das Schießen unmöglich. Trotzdem legten viele Soldaten auf die Feinde an und drückten ab, hörten jedoch nur das entmutigende Klicken. Immer mehr Pfeile, die die Mongolen alle zwölf Meter von der Sehne ließen, fanden ihr Ziel.
Sir Hope hatte noch nie so tüchtige Reiter gesehen. Während er mit seinem Pferd im Zentrum der 2. Division kauerte, sah er die Mienen der tatarischen Krieger: Sie waren voller Hass. Und sie ließen nicht nach! Obwohl es sinnlos war, sprangen wenigstens fünfzig Reiter mit ihrem Pferd in den Bajonettwall.
Auf allen Seiten gab es schrille Schreie und Gewieher, dazu das schabende Klirren der Säbel und Bajonette. Männer wurden von aufgespießten Pferden erdrückt, die mit dumpfem Schlag niederfielen, als hätte sie die Faust eines Riesen getroffen.
Das Blut floss in Strömen, der Regen wusch es in die schlammigen Pfützen. Dennoch gaben die Soldaten alles, um ihre Formation gegen den pausenlosen Ansturm zu halten.
Dann plötzlich schallte ein Horn, und die Tataren zogen sich zurück.
Senggerinchins Ziel war die Erniedrigung der 2. Division gewesen, und das hatte er erreicht. Je mehr Männer am Leben waren, um über ihre Niederlage von der Hand der Tataren zu berichten, desto besser.
Seine Reiterei war innerhalb von zwei Minuten in der Marsch verschwunden wie Schatten in der Nacht. Das war sein bester Überfall gewesen – seine Geduld hatte sich weidlich ausgezahlt.
Sir Hope Grant bestieg sein Pferd und betrachtete das entsetzliche Blutbad. Über hundert Männer waren verwundet und weitere hundert würden ihre Familie niemals wiedersehen. Selbst sein Pferd hatte einen Streifschuss am Ansatz der Mähne abbekommen. Er blickte ringsum in die Gesichter; sie waren blass und mutlos. In diesem Augenblick kamen die Probyns über die Ebene herangesprengt. Ihren Pferden flog der Schaum vom Maul, doch sie kehrten unbeschadet zurück. Sie hatten den tatarischen Reitertrupp nicht einholen können, sodass dieser kampflos davongeritten war, was der Demütigung die Krone aufsetzte.
Abgesehen von den Reitern und Pferden, die in den Bajonettwall gesprungen waren, hatten die Briten ihren Gegnern keine Verluste zufügen können. Das war die schlimmste Niederlage, die sie sich denken konnten. Sie alle waren Zeuge von der Tapferkeit und Entschlossenheit der Qing geworden.
Sir Hope war in eine Falle gelaufen und ganz allein dafür verantwortlich. Er hatte Lord Elgin und die Königin enttäuscht. Wegen seiner Befehle war nun die Kampfmoral seiner Invasionstruppen gestört. Am Ende würde dieses Gefecht viel mehr Männer das Leben kosten, als an diesem Tag gefallen waren – die britische Überlegenheit schien dahin zu sein und mit ihr das Selbstbewusstsein der Soldaten.