36.

Kalifornien, Nordamerika
Enterprise Corporation
Mercury-Labor – Untergeschoss A 5
23. Juli 2084
Ortszeit: 17.00 Uhr
5 Tage vor dem Esra-Transport

Wie von Wilson befürchtet, hatte Minervas Verhalten einige Stoßwellen ausgelöst. Author war ziemlich aufgebracht, seit er feststellen musste, dass sie nicht mehr mit ihm ausgehen wollte. Als er sie bedrängte, ihm zu sagen, warum, gab sie zu, sich für Wilson zu interessieren.

»Mit mir ist sie ausgegangen!«, sagte der Professor hinter seinem holografischen Bildschirm hervor. »Es gibt Tausende andere Mädchen … Warum ausgerechnet sie?«

»Ich kann nichts dafür, wenn sie sich nicht mehr mit Ihnen treffen will«, hielt Wilson ihm entgegen.

Interessanterweise rückte Minerva, wenn auch durch unerfreuliche Anlässe, immer wieder in sein Blickfeld und beschäftigte ihn mehr, als ihm lieb war. Es war, als hinge ein Bild von ihr vor seinem Gesicht und er müsste sich ständig ermahnen, es zu ignorieren. Keine erfolgreiche Strategie, das wusste er aus Erfahrung. Erst als er dem Professor drohte, ihn aus dem Projekt auszuschließen und nach Pacifica zurückzuschicken, war das Thema beendet. Seitdem schmollte der kleine Mann in übelster Weise, redete kaum und verhielt sich insgesamt ablehnend. Für ein selbst ernanntes Genie war das ziemlich kindisch, doch nach allem, was Wilson im Mercury-Team bisher erlebt hatte, war das ein generelles Merkmal der Hochbegabten.

Offenbar war es einer Frau, ob ihre Motive nun lauter waren oder nicht, relativ leicht gelungen, einen Keil zwischen Wilson und den Professor zu treiben. Aber war die Situation, in der sich Wilson jetzt befand, durch Minervas Manipulation entstanden oder hatte er das Desaster selbst zu verantworten? Handelte sie auf Anweisung oder aus eigenem Antrieb? Da er gerade stark unter Druck stand und zur Geheimhaltung gezwungen war, würde es schwerfallen, der Wahrheit auf die Spur zu kommen.

Davin wandte sich von seinem Computer ab und sah zu Andre hinüber. »Wie sieht die Testsequenz aus?«

Andre nickte. »Perfekt.«

»Okay, Leute, das wäre geschafft«, sagte Davin, die Finger auf der Hauptkonsole. »Alles abschalten und noch mal von vorn.«

Oben auf dem Beobachtungsstand blickten alle zwölf Teammitglieder vor sich auf den Bildschirm. Nur Wilson verfolgte nicht den detaillierten Informationsfluss, er beobachtete den Esra-Aufseher.

Randall starrte in das Labor hinab auf die Transportkapsel. Dort stand die große Kristallkugel umgeben von fünfundsechzig Partikelzerstäubern. Der Anblick machte Wilson noch immer nervös, und Randall ging es wahrscheinlich genauso. Als die Systeme herunterfuhren, wurden die glänzenden Titanringe um die Transportkapsel sichtbar und kamen langsam zum Stillstand.

Wilson dachte daran, wie er sich in der Kristallkugel gefühlt hatte, als die Laser auf ihn zu feuern begannen – ringsherum gelbrote Lichtblitze – und den Beschuss nach und nach verstärkten. Die Schmerzen waren so schlimm gewesen und die Dunkelheit so schwarz. Dann hatte das unvergleichliche Gefühl eingesetzt, als würde er mental mit Lichtgeschwindigkeit in den Kosmos fliegen.

»Die Sache sieht gut aus«, meinte er und näherte sich Randall.

Der starrte weiter auf die Transportkapsel. »Das hoffe ich doch.«

»Und wie geht es Ihnen?«, fragte Wilson.

»Ich habe in den letzten paar Tagen viel über mich erfahren«, sagte Randall gedankenvoll. »Mir ist bewusst geworden, dass ich unter steigendem Druck geistig umso klarer werde, wenn ich mich zwinge durchzuhalten.«

Wilson nickte. »Das ist gut.«

Randall sah ihn von der Seite an. »Danke, dass Sie für Le Dans Zugangsberechtigung gesorgt haben. Es bedeutet mir viel, ihn jeden Tag um mich zu haben.«

»Das hatte die ECTU verbockt«, erklärte Wilson. »Jasper brauchte nur einen Anruf zu tätigen, dann war das erledigt.«

»Nun, ich bin jedenfalls froh darüber«, sagte Randall und atmete hörbar aus. Hinter ihm saßen die Wissenschaftler an ihren Geräten und boten ein Bild der Konzentration. »Wenn Sie mir vor zwei Jahren gesagt hätten, dass ich mal hier in diesem Labor vor Ihnen stehe und darauf warte, zweihundert Jahre in die Vergangenheit zu reisen, ich hätte Sie für verrückt erklärt.«

»Schließen wir das mal noch nicht aus«, erwiderte Wilson.

Randall grinste. »Ich darf nicht einmal meinem Vater sagen, womit ich mein Geld verdiene. Er ist Systemprogrammierer, wissen Sie? Er würde sich für das Labor begeistern.« Er wurde ernst. »Und wenn ich sterbe, wird er nicht erfahren, was passiert ist. Die Firma würde es als Unfall deklarieren.«

»Sie werden nicht sterben«, versicherte Wilson.

»Aber wenn, dann sollten Sie meinem Vater die Wahrheit sagen. Würden Sie das für mich tun?«

»Hören Sie auf, so negativ zu denken.«

Randall schüttelte den Kopf. »Sie haben recht – es tut mir leid.« Er holte tief Luft. »Wissen Sie, es will mir nicht so richtig in den Kopf, dass ich durch die Zeit reise und dass Zukunft und Vergangenheit nebeneinander existieren. Ich habe in einer einfachen Welt gelebt, wo die Vergangenheit die Zukunft bestimmt, mehr nicht. Und jetzt stelle ich fest, dass die Zukunft auch Einfluss auf die Vergangenheit nehmen kann.« Plötzlich wirkte er gequält. »Das bringt mich ein bisschen durcheinander.«

Wilson legte ihm die Hand auf die Schulter und lenkte ihn zum Fenster. »Das ist ganz verständlich. Sie versuchen, verstandesmäßig zu betrachten, was passiert – aber das nützt Ihnen nichts; es wird Sie nur vom Wesentlichen ablenken.

Ich will Ihnen eine kleine Geschichte erzählen, die Ihnen vielleicht hilft. Während meines Lebens habe ich Leuten, die ich für erfolgreich hielt, immer große Aufmerksamkeit geschenkt und bin zu folgendem Schluss gekommen. Sie alle haben drei Dinge gemeinsam: Erstens blicken sie immer mit großer Leidenschaft nach vorn; sie bleiben nicht mit ihren Gedanken in der Vergangenheit stehen. Zweitens verspüren sie eine ungeheure Neugier auf das Leben, begreifen jeden Tag als Gelegenheit, etwas zu lernen oder zu erleben, ganz gleich, wie viel sie bereits wissen. Und drittens befassen sie sich nur mit Dingen, auf die sie Einfluss haben, niemals mit etwas anderem.« Wilson wartete einen Moment, um seine Worte wirken zu lassen.

»Das Geniale daran ist, dass in dieser Logik kein Raum für Angst bleibt. Sie müssen nach vorn blicken, Randall, und sich auf Ihren Auftrag konzentrieren. Das wird die Erfahrung Ihres Lebens werden. Und vor allem dürfen Sie sich nur Gedanken über die Dinge machen, die Sie beeinflussen können.« Wilson zeigte auf die Transportkapsel. »Sie werden da hineinsteigen wie in ein Auto und eine kurze Zeit unterwegs sein. Wenn Sie angekommen sind, werden Sie tun, worauf Sie vorbereitet wurden. Sie werden die Anweisungen des Auftragstextes wortgetreu befolgen und mit Klugheit, Geschick und Kenntnis der Zukunft den Lauf der Geschichte nach Ihrem Willen verändern. Und wenn Sie dieses Abenteuer abgeschlossen haben, werden Sie hierher zurückkehren, und wir werden uns fröhlich darüber unterhalten, wie Sie Ihr Ziel erreicht haben. Ich werde alles ganz genau wissen wollen, jede Einzelheit.«

Randall nickte. »Danke für Ihre Unterstützung«, sagte er ernst.

»Nur um es mal deutlich zu sagen: Ich weiß genau, was Sie durchmachen«, versicherte Wilson. »Aber es ist ein prächtiger Tag. Gehen Sie doch einfach nach Hause und ruhen sich ein bisschen aus. Morgen sind wir dann wieder im Simulator. Professor Author hat sich ein paar Kampfszenen mit Tataren ausgedacht, die Sie sich ansehen müssen. Ich finde sie sehr eindrucksvoll. Wir wollen, dass Sie selbstsichere Entscheidungen fällen, wenn rings um Sie die Schlacht tobt.«

»Danke.« Randall rang sich ein Lächeln ab. »Wir sehen uns dann morgen.« Er schüttelte Wilson die Hand und ging.

Die Minuten verstrichen, und Wilson sah sich noch immer auf die Kristallkugel starren und überlegen, wie sein Leben wohl aussähe, wenn er damit reisen könnte, wohin er wollte. Er könnte an jedem bedeutenden Weltereignis der Geschichte teilnehmen: bei der Entstehung der Unabhängigkeitserklärung, beim Ausbruch des Vesuv, bei der Amtseinführung von Obama dabei sein. Er könnte den römischen Senat zur Zeit Vespasians besuchen. Seltsamerweise machte ihn die Vorstellung, solche Macht zu haben, melancholisch. Es wäre schwierig, zu verzichten und die Vergangenheit sein zu lassen, wie sie war, dachte er. Man würde viele Untaten ungeschehen machen wollen, die sich bis auf die Gegenwart auswirkten. Bedeutende Leute könnten gerettet, Unschuldige beschützt werden. Schwer zu sagen, wie man sich vor solchen Eingriffen hüten sollte, wenn man die Macht dazu hatte.

Dafür gibt es den Auftragstext, erkannte Wilson, als wäre das die Offenbarung schlechthin. Er verhinderte ein unvernünftiges Eingreifen in die Vergangenheit – was in vielerlei Hinsicht die schlimmste Auswirkung wäre. Der Auftragstext war das Regelwerk, und wenn man daran festhielt, blieb alles im Gleichgewicht; der Wille des Volkes lenkte Tag für Tag die Welt und die Zukunft. Denn traurigerweise, dachte er, hatten einige der größten Tragödien auch zu den größten Triumphen der Menschheit geführt: die Ermordung Martin Luther Kings zur Gleichberechtigung. Hiroshima und Nagasaki hatten zur Folge, dass nie wieder im Zorn eine Atombombe abgeworfen wurde. Es war bedrückend, doch die Redensart, wonach es kurz vor der Dämmerung am dunkelsten war, fand er jetzt vollkommen einleuchtend.

Jemand tippte ihm auf die Schulter und riss ihn aus seinen Gedanken. Davin stand neben ihm.

»Ich habe Ihrem Gespräch mit Randall zugehört«, sagte er. »Ich finde, Sie machen das ganz ausgezeichnet.«

Davin war seit drei Jahren Teamleiter und wurde von allen respektiert. Er hatte chinesische Vorfahren und arbeitete seit zwanzig Jahren für Enterprise Corporation. Er hatte ein ruhiges Gesicht und lange schwarze Haare mit ein paar grauen Strähnen darin. Er war ein hagerer Typ, und seit er die Leitung übernommen hatte, war er noch dünner geworden. »Ich brauche mehr« war ein häufiger Ausspruch von ihm, über den viel gewitzelt wurde. Wilson konnte ihn gut leiden; er war ein guter Kollege, der immer versuchte, das Richtige zu tun.

»Danke, Davin, das freut mich«, sagte Wilson.

»Andre und ich finden es ungeheuer beeindruckend, wie Sie unseren jungen Aufseher auf dem richtigen Kurs halten.« Er zögerte einen Moment. »Barton wäre bestimmt stolz auf Sie.«

Bei der Bemerkung stieg die alte Trauer wieder in Wilson hoch.

»Ich wusste immer, dass er eine ausgezeichnete Menschenkenntnis hatte, und darum kann ich mich heute freuen, dass Sie hier sind«, meinte Davin. »Er würde sich im Grabe umdrehen, wenn er wüsste, was GM und Jasper jetzt mit uns anstellen. Die ganze Geheimhaltung, die durchkreuzten Absichten, die Änderung des Zeitplans. So sollte es eigentlich nicht laufen.«

»Da bin ich anderer Ansicht«, widersprach Wilson. »Barton würde sagen, es ist alles wie gehabt.«

Davin zog die Augenbrauen hoch. »Vielleicht haben Sie recht, Wilson. Vielleicht haben Sie recht.«

»Tun Sie mir einen Gefallen«, bat er ernst. »Wenn das hier alles vorbei ist, sorgen Sie dafür, dass ich aus dem Vertrag entlassen werde. Hier zu sein und zusehen zu müssen, wie andere durch die Zeit geschickt werden, ist mehr, als ich ertragen kann. Ich will ein für alle Mal von hier weg. Ich möchte auch nach vorn blicken, mich um meine Zukunft kümmern. Aber hier klammere ich mich bloß an die Vergangenheit.«

»Ich gebe Ihnen mein Wort«, sagte Davin. »Wir haben nur noch fünf Tage, um alles zu schaffen. Meine einzige Sorge ist: Wird Randall ausreichend vorbereitet sein?«

»Wird er«, versicherte Wilson. »Nach allem, was ich sehe, hängen mehr Gefahren an einer Verzögerung als an allem anderen. Wenn Sie ihn morgen schon starten lassen könnten, würde ich es tun.«