3.
Gelbes Meer
40 Seemeilen westlich von Taku, China
31. Juli 1860
Ortszeit: 14.02 Uhr
Unternehmen Esra – Tag 150
Ein Geschwader von 173 Schiffen, darunter 100 mit britischer Flagge, war von Hongkong aus zu einem bestimmten Zweck in den Golf von Bohai gefahren: um die Taku-Festungen einzunehmen, die die Mündung des Haihe bewachten. Dort wollten die britischen und französischen Streitkräfte einen Brückenkopf bilden und die 130 Kilometer über Land auf Peking zumarschieren. Es war das größte Geschwader, das das Gelbe Meer je befahren hatte, und brachte über 11 000 britische und 6700 französische Soldaten mit.
Randall Chen stand im Bug des vordersten Kanonenbootes HMS Furious. Mit 30 Meter Länge und 240 Tonnen Verdrängung war es das größte unter den Schiffen. Es war ein dampfbetriebener Doppeldecker mit gepanzerten Wänden und einer Mannschaft aus 45 Leuten. Es hatte vier Haubitzen, 32-Pfünder, an Bord, zwei im Bug und je eine an den Seiten. Wegen des kolossalen Gewichts war es nicht schnell und hatte kein gefälliges Aussehen. Doch das verlangte Randall auch nicht. Die Chinesen besaßen keine nennenswerte Marine, und Schiffe wie dieses wirkten einschüchternd genug. Von Hongkong bis nach Japan und Korea machten sie die Gewässer unsicher, damit jedes Volk der Region begriff, dass Britannien die Weltmeere beherrschte.
Die 21 Kriegsschiffe wurden von 20 Raddampfern mit geringem Tiefgang begleitet, 65 Truppentransportern und darüber hinaus von Flottenversorgern und Kohletendern. Es war Nachmittag, und das Geschwader bot, wie es nach Osten in den Wind und auf die hügelige Küste in der Ferne zudampfte, einen spektakulären Anblick. Die Farbe des Wassers rund um China war smaragdgrün, im Gegensatz zum Pazifik, der leuchtend blau war, und zum dunkelblauen Atlantik. Heute, wo der Wind überall weiße Schaumkronen und Gischt hervorbrachte, war das Meer mit einer Kombination aus Smaragdgrün und Weiß besonders schön.
Randall drehte sich nach dem Geschwader um, das zum Dreieck ausgefächert hinter ihm herfuhr. Plötzlich wurde ihm das Herz schwer. Unter seiner Führung würden die 17 000 Soldaten Vernichtung über die Festungen bringen, wie sie es schon vor zwei Wochen bei Dalian getan hatten.
Henry Loch näherte sich dem chinesischen Passagier und blieb in dem stürmischen Wind kerzengerade, die Hände an den Seiten, vor ihm stehen. »Verzeihung, Sir.« Es war ihm deutlich anzuhören, wie sehr es ihm widerstrebte, einen Chinesen mit Sir anzureden.
Randall wandte sich dem übergewichtigen Sekretär zu. »Was gibt’s?«, fragte er. Der Wind zerzauste ihm das Haar und wehte ihm Strähnen in die Augen.
»Lord Elgin bittet um Ihre Anwesenheit, Sir.« Wieder klang die Anrede erzwungen. Dass Elgin ihm befohlen hatte, Randall Chen wie einen Ebenbürtigen zu behandeln, passte dem Mann gar nicht. Und er konnte seinen Drang nicht bezwingen, Chen wegen der blauen Augen anzustarren, so sehr er sich auch bemühte.
»Richten Sie ihm aus, dass ich gleich komme«, gab Randall schroff zur Antwort. Mit seinem grauen Dreiteiler, der in Hongkong von Marks & Spencer geschneidert worden war, den glänzenden Schuhen und der goldenen Uhr, die in seiner Westentasche steckte, wirkte und fühlte er sich an Bord eines britischen Kanonenbootes völlig fehl am Platz.
Loch drehte sich auf dem Absatz um und ging über das schwankende Deck zur Brücke. Da Lord Elgin ihn erst kürzlich zu seinem Privatsekretär gemacht hatte, war er bestrebt, ihn zufriedenzustellen. Sein Vorgänger war noch vor dem Auslaufen in Shanghai von der Malaria aufs Krankenlager geworfen worden.
Randall drehte sich wieder dem Meer zu und ließ sich die salzige Luft um die Nase wehen. Jeder, mit dem er zu tun hatte, benahm sich höflich und ruhig gegen ihn, dennoch spürte er stets Abneigung. Keinem behagte seine Anwesenheit, nicht einmal Lord Elgin selbst.
Konzentriere dich auf das Wesentliche, sagte er sich. In knapp einem Monat ist alles vorbei.
Er war schon seit fünf Monaten in China. Seine molekulare Rekonstruktion hatte in der Verbotenen Stadt stattgefunden. Lästigerweise hatte er von dort erst einmal bis nach Hongkong reisen müssen, um Elgin zu begegnen. Doch anders wäre es nicht möglich gewesen, an den britischen Gesandten heranzukommen und sein Vertrauen zu gewinnen. Doch davon hing der Erfolg seines Unternehmens entscheidend ab. Und nun endlich war er wieder unterwegs zum Ort seiner Ankunft, der Hauptstadt Peking, die nur noch zweihundert Kilometer entfernt war.
Randall dachte an die Festungen, die sie einzunehmen hatten. Sie waren vor dreihundert Jahren von Kaiser Jiajing am Haihe gebaut worden, um Tientsin gegen Invasionen von See zu schützen. Es waren fünf, drei am Nordufer und zwei am Südufer. Dazu säumten zwanzig kleinere die Flussmündung, zumeist Geschützstellungen mit nur einer Kanone. Die fünf großen ragten eindrucksvoll über der morastigen Küste und den Salzsümpfen auf. Sie hatten zehn Meter hohe Außenmauern mit Zinnen und eine zentrale Wehrplatte, auf der bis zu vierzig Kanonen standen, im Allgemeinen Zwölfpfünder, die in alle Richtungen feuern konnten. Jede Festung war von zwei fünfzehn Meter breiten Gräben umgeben, die mit schmutzigem Seewasser und mit Tausenden aufrechter, spitzer Bambusstöcke gefüllt sowie mit Verhauen aus Zweigen und Dornbüschen umzäunt waren. Betreten konnte man die Festungen lediglich über eine schmale Holzbrücke, die hochgezogen wurde, wenn ein Angriff drohte. Besonders von der Seeseite aus waren sie furchterregende Verteidigungsanlagen.
Randall klappte seine Taschenuhr auf und las die Zeit ab. Es war kurz nach zwei. Die Sturmfront würde in drei Stunden hier sein. Bis dahin musste das Geschwader innerhalb der 10-Meilen-Zone liegen, wo das Wasser flach genug zum Ankern war. Er steckte die Uhr weg und ging nach achtern auf die Brücke zu.
Als er die Tür beiseiteschob, wurde er von Lord Elgin herzlich empfangen. Elgin war ein rundlicher Mann von eins achtundsiebzig, der aber größer erschien. Er trug einen dicken, schwarzen, zweireihigen Mantel mit schwarzem Pelz an Ärmelsaum und Kragen. An der Brust über dem Herzen präsentierte er stolz zwei kunstvolle Silbermedaillen in Blütenform. Die obere zeichnete ihn als den 8. Earl von Elgin aus, die untere als den 12. Earl von Kincardine. Es war viel zu heiß für diesen dicken Wollmantel, doch er trug ihn als stolzer Brite der Förmlichkeit halber. Infolgedessen bedeckte ein feiner Schweißfilm sein rötliches Gesicht. Er war geboren als James Bruce, ältester Sohn aus zweiter Ehe des 7. Earl von Elgin, und wirkte sehr Respekt einflößend. Sein Gesicht war glatt rasiert bis zu dem struppigen Backenbart, der die Kinnlinie zierte. Der Kopf war kahl, nur an den Seiten und am Hinterkopf war ein Streifen dichter, weißer Haare stehen geblieben, die ihm bis über die Ohren reichten. Er war eine markante Erscheinung, legendär und stets förmlich-korrekt. Dazu besaß er einen Charme, den er wirkungsvoll einsetzte, um seinen finsteren Charakter zu verbergen.
»Danke, dass Sie kommen, Mr. Chen«, sagte er höflich. »Sie kennen Sir Hope Grant, Lieutenant-General des Pazifik-Geschwaders.«
Randall neigte grüßend den Kopf vor dem drahtigen Offizier, der eine große Nase, dunkle Haare und einen buschigen Schnurrbart und Koteletten hatte. Sir Hope beugte sich über den Kartentisch. Er war nicht herzlich und lächelte kaum, obwohl er dies zweifellos versuchte. Er trug die scharlachrote Jacke der King’s Dragoon Guards sowie weiße Jodhpurs und schwarze Reitstiefel. Sein weißer Tropenhelm lag neben ihm auf den Karten. An seinem weißen Lederzeug hingen ein Holster mit einschüssiger Pistole und ein Säbel mit Lederscheide.
Außer ihm waren sechs weitere Männer anwesend: der Kapitän John Weatherall, Henry Loch und vier Seeleute, die still ihrer Arbeit nachgingen.
»Die Flotte muss mehr Fahrt machen«, sagte Randall ohne Umschweife. »Sonst sind unsere Pläne gefährdet.«
Lord Elgin führte Randall zum Kartentisch. »Ja, wir sprachen gerade darüber«, sagte er nachdenklich. »Sir Hope schlug ein anderes Vorgehen vor.«
Dieser riss sich räuspernd vom Anblick des blauäugigen Chinesen los und zeigte auf die Karte. »Das Glück ist auf unserer Seite, und wir müssen den Vollmond ausnutzen. Wir werden die drei Festungen am Nordufer von vorn angehen, indem wir morgen Mittag beim höchsten Stand der Flut in die Flussmündung einlaufen. Mit unseren vielen Geschützen werden wir die äußeren Verteidigungsanlagen dem Erdboden gleichmachen. Im Schutz der Dunkelheit greifen wir an.« Sein britisches Selbstvertrauen war unbeirrt. »Bis zum Morgen haben wir die Kerle in die Berge getrieben oder niedergemacht. Wenn die unser Geschwader sehen, werden sie sich in die Hosen pissen.«
Lord Elgin sah seinen chinesischen Ratgeber forschend an. »Was halten Sie von dem Plan?«, fragte er.
Randall schüttelte den Kopf. »Er ist katastrophal.«
Es herrschte angespanntes Schweigen, bis Sir Hope erneut das Wort ergriff und bei aller Korrektheit seinen Zorn spüren ließ. »Wir haben die überlegene Feuerkraft. Das ist die umfassendste Streitmacht, die in dieser Ecke der Welt je mobilisiert wurde! Wir sind unaufhaltbar, unversenkbar, egal, was wir tun.«
»Sobald die Flut zurückgeht«, erwiderte Randall, »liegen unsere Schiffe jenseits des Schlickgürtels fest und werden eines nach dem anderen zusammengeschossen, ohne dass es eine Fluchtmöglichkeit gibt. Senggerinchin ist jetzt Kommandant der Festungen, General. Der Haihe ist flussaufwärts mit Sperrpfosten und Ketten blockiert. Der Mongole hat eine Falle für Sie aufgestellt, und Sie wollen direkt hineinfahren.«
»Trotzdem«, erwiderte Sir Hope. »Ihre Geschütze können ein gepanzertes Kriegsschiff wie dieses nicht versenken.«
»Inzwischen verfügen sie über russische 32-Pfünder, und damit werden sie Ihre Schiffe versenken, sogar dieses, und zwar mit Leichtigkeit.« Randall wusste, er sollte taktvoller sein, doch die Arroganz dieser Männer hatte seine Geduld aufgezehrt. Mit seinem Wissen über die Zukunft könnte diese anglo-französische Flotte in der Tat die unaufhaltsamste der Welt sein – sofern diese britischen Dummköpfe auf ihn hörten. »Seien Sie nicht hochmütig, Sir Hope. Der Preis könnte immens sein.«
Sir Hope schoss die Röte ins Gesicht. »Wie können Sie es wagen, mir zu widersprechen, Sie –« Das Wort Kuli lag ihm bereits auf der Zunge, als ihm Lord Elgin, Diplomat wie immer, ins Wort fiel.
»Beruhigen Sie sich, Sir Hope.« Und zu Randall gewandt: »Wie können Sie dessen so sicher sein, Mr. Chen?«
Randall blieb vollkommen gefasst. »Habe ich nicht in allem recht gehabt, Lord Elgin? Habe ich mich bei den Geschützstellungen und der Truppenzahl bei Dalian etwa geirrt?« Er stellte sich Elgins Blick und hielt ihm stand. »Ich bin hier, damit Sie keine Fehler begehen. Ihr Bruder Frederick Bruce und Admiral Jennings haben diese Festungen schon einmal unterschätzt. Das stimmt doch, nicht wahr? Vor nicht mal einem Jahr und mit großen Verlusten für die britische Marine. Sie haben einen Frontalangriff probiert, und es gab auf Ihrer Seite 434 Tote, dazu vier versenkte Schiffe. Der Landungstrupp wurde bis zum letzten Mann niedergemacht. Hätten Commodore Tatnall und die amerikanische Marine nicht rechtzeitig eingegriffen, wären die Verluste noch größer gewesen.«
»Wir haben jetzt ein viel leistungsstärkeres Geschwader«, erwiderte Sir Hope herablassend, »mit besser gepanzerten Schiffen.«
»Ohne meine Führung wird es zahllose Verluste geben und weitere Schiffe werden sinken«, hielt Randall ihm entgegen. »Ich weiß, dass Sie und Ihre Streitkräfte schon einmal hier gewesen sind, Lord Elgin, vor vier Jahren. Die Qing werden aber diesmal nicht die britische Flagge hissen und sich ergeben. Sie werden kämpfen wie neulich, als Ihr Bruder ihre Stärke dummerweise unterschätzt hat. Die Qing haben den Sieg gekostet und Geschmack daran gefunden, unabhängig davon, wie groß Ihre Flotte ist.«
Lord Elgin verschränkte die Arme und musterte seinen unbeirrbaren chinesischen Ratgeber. Ihm war jeder zuwider, der schlecht über seinen jüngeren Bruder sprach, doch er schlug nicht zurück. Frederick war überheblich vorgegangen, und sein Ruf und seine Laufbahn würden die Narben seiner Niederlage auf ewig tragen.
»Ich verlange, dass wir das unter uns besprechen!«, sagte Sir Hope, der noch immer rot im Gesicht war.
Lord Elgins Blick blieb auf Chen gerichtet. »Was schlagen Sie also vor?«, fragte er und verbiss sich jeglichen aggressiven Unterton.
Randall ging an den Kartentisch und drängte Sir Hope mit einer Geste beiseite, nahm dessen Helm und reichte ihn an Loch weiter, ohne diesen auch nur anzusehen, dann tippte er mit dem Zeigefinger auf die Karte. »Wir fahren auf die Küste zu und gehen hier vor Anker, gegen halb fünf, und bleiben da über Nacht. Die Soldaten machen sich bereit, morgen früh von Bord zu gehen. Die Boote sollen Männer, Munition und Vorräte aufnehmen, so viel sie tragen können. Dann werden sie dreizehn Kilometer nördlich der Taku-Forts ans Ufer geschleppt. Dort werden sie nicht auf Gegenwehr stoßen. Sobald 3500 Mann auf festem Boden stehen, werden sie die kleine Festung Pei Tang überrennen. Dort werden Sie dann Ihr Hauptquartier aufschlagen. Sie werden Ihr Pionierkorps ausschicken, damit es die Hindernisse zwischen Pei Tang und Taku entfernt.«
»Was für Hindernisse?«, fragte Lord Elgin.
»Sie müssen wenigstens sechzig befestigte Kanäle und Gräben überbrücken. Es wird leichten Widerstand geben, und der Boden wird schlammig und schlecht begehbar sein. Doch diese Vorbereitung ist unerlässlich, damit die Truppen und der Nachschub gut durchkommen, und vor allem müssen Sie Ihre größten Geschütze transportieren.« Randall zeigte auf die Karte. »Das wird mindestens eine Woche dauern.«
Sir Hope, der im Hintergrund stand, warf die Arme hoch. »Ich kann die Forts innerhalb von zwei Tagen einnehmen!«, rief er aufgebracht.
Randall fuhr fort. »Sodann werden Sie die östlichste der großen Festungen mit der schweren Artillerie angreifen, von der Rückseite und mit voller Kraft. Die erste wird schwer einzunehmen sein. Wenn Sie Ihre Soldaten schließlich hineinschicken, werden die Qing kämpfen bis zum letzten Mann.«
»Müssen wir sie denn von hinten angreifen?«, fragte Lord Elgin zweifelnd. »Durch den ganzen Morast?«
Randall nickte. »Wenn Sie die Verluste gering halten wollen, ist das der einzige Weg. Ich weiß, Sie halten das für unsportlich, aber wir haben eine Schlacht zu gewinnen. Wenn die Qing sehen, wie leicht Sie die große Festung erobert haben, brauchen Sie nur noch ein paar höhere Abgesandte mit Dolmetschern hinzuschicken und die Kapitulation auszuhandeln. Auf diese Weise müssen Sie nur zwei Festungen mit Gewalt einnehmen. Die übrigen werden Ihnen völlig intakt in die Hände fallen.«
»Sein Plan ist lächerlich«, brummte Sir Hope. »Ich verlange, dass wir das unter uns erörtern. Dieser Mann könnte ein Spion sein. Wir laufen vielleicht in eine Falle.«
Lord Elgin zog eine Augenbraue hoch und sah Chen fragend an. »Warum müssen wir gegen halb fünf vor Anker gehen?« Für diesen Punkt des Plans fehlte ihm die Erklärung.
»Weil ein Sturm aufkommt und wir sonst Schiffe verlieren«, antwortete Randall völlig überzeugt.
Die acht Seeleute auf der Brücke schauten zum Horizont. Der Himmel war azurblau bis auf einige hohe Zirruswölkchen.
»Das ist doch lächerlich«, raunte Sir Hope durch die Zähne.
»Ich werde in meine Kabine gehen und etwas schlafen«, sagte Randall. »Denn heute Nacht wird das schwer möglich sein.« Er wandte sich an den Kapitän. »Ich schlage vor, dass Sie mehr Fahrt machen, Captain.« Und zu Lord Elgin: »Ihre Soldaten werden morgen bei schwerem Regen an Land gehen. Sehen Sie zu, dass sie vorbereitet sind.«
Ohne ein weiteres Wort verschwand er durch die Schiebetür. Kurz pfiff der Wind herein, dann war es wieder still.
»Von wegen Sturm!«, platzte Sir Hope heraus. »Sehen Sie sich den Himmel an! Dieser Kuli ist ein Hochstapler, es kann gar nicht anders sein. Und Sie gestatten ihm, dass er uns in eine Falle treibt.«
Elgin tippte sich mit dem Zeigefinger an die Unterlippe. »Bei Dalian hat er recht gehabt, nicht wahr?«
»Er muss einen Informanten gehabt haben, der ihm die Anordnung der Verteidigungsanlagen verraten hat. Aber das hier … das ist absurd! Die Streitkräfte Ihrer Majestät werden von einem Chinesen geführt! Solch eine Beleidigung dürfen Sie nicht zulassen. Das Britische Empire regiert die Welt, Lord Elgin, und das wird es auch in tausend Jahren noch tun!«
Loch nahm ein Fernglas zur Hand und suchte den Horizont ab. »Sir Hope hat recht – wie soll er wissen, wie sich das Wetter entwickelt?«
Lord Elgin gab nicht nach. »Captain, erhöhen Sie die Geschwindigkeit des Geschwaders und laufen Sie flacheres Gewässer an. Wenn Mr. Chen recht hat, wird der Sturm bald hier sein. Wenn nicht, ist er ein Lügner und Aufschneider. Und sollte sich das herausstellen, wird ihn der volle Zorn Ihrer Majestät treffen. Doch bis dahin werden wir seinem Rat folgen. Verstanden? Und Sie alle werden ihn Mr. Chen und nicht den Chinesen nennen oder ihn gar als Kuli bezeichnen.«
Lord Elgin wusste aus eigener Erfahrung, dass Chen über außergewöhnliche Fähigkeiten verfügte. Der Blauäugige war in sein Büro in Hongkong gekommen und hatte ihm viele Details genannt, die nur Elgin selbst kennen konnte. Und wenn er nicht gewesen wäre, wären im März Tausende Menschen zu Tode gekommen, denn in Hongkong war den Bäckern befohlen worden, das Brot für die Ausländer mit Arsen zu vergiften. Aber Mr. Chen hatte ihn gewarnt, und so war Männern, Frauen und Kindern ein qualvoller Tod erspart geblieben. Solange dieser Fremde also gewillt war, sie im Kampf gegen die Qing zu unterstützen, würde er von Nutzen sein – danach freilich gab es für einen Mann mit solchem Wissen und solcher Voraussicht nur ein Schicksal: den raschen Tod. Wenn nötig, würde Elgin eigenhändig dafür sorgen. Denn solange er ihn nicht ein für alle Mal zum Schweigen gebracht hatte, war seine Ehre bedroht.
Er sah zum Horizont. Dort über den Yanshan-Bergen sammelten sich Sturmwolken mit rasender Geschwindigkeit. So unglaublich es war, die Geschichte schien sich genau nach Chens Vorhersage zu entwickeln.