42.
Ebene bei Peking, China
3 Kilometer südlich des Sommerpalastes
9. Oktober 1860
Ortszeit: 6.05 Uhr
Unternehmen Esra – Tag 220
Randall hatte ein brennendes Gefühl im Magen, während er auf die weißen Mauern des Sommerpalastes zugaloppierte. Dahinter ragten die Yanshan-Berge über den wogenden Hirsefeldern der Ebene auf. Die Sonne war noch nicht über den Horizont gestiegen, und das Licht war dunstig grau. Die Nächte wurden immer kälter, der Winter nahte, und an diesem Morgen war es besonders kalt. Die Nüstern seines Ponys bliesen weißen Nebel in die Luft. Randall war in Begleitung von zwei Eunuchen der kaiserlichen Garde, die rechts und links neben ihm die Schieferstraße entlangritten.
Über seiner grünen Uniform trug er eine eng geschnürte Weste mit Wollfutter, die zu seinen kniehohen wollegefütterten Stiefeln passte. Beides schützte ausgezeichnet gegen die Kälte, viel besser als sein heimischer Anzug und die Lederjacke, die er zuletzt ständig getragen hatte. Auf dem Kopf trug er eine schwarze Samtkappe mit Ohrenklappen, auf dem Rücken ein Kurzschwert, dessen lederumwickeltes Heft über die rechte Schulter ragte.
Es war keine zwei Stunden her, seit er sich von Cixis wunderbarer Nacktheit gelöst hatte, um durch das Nordtor zu den Außenvierteln Pekings zu eilen und schließlich die Stadt zu verlassen. Später als erwartet hatte er die Stadtmauer hinter sich gelassen, und jetzt kam alles darauf an, vor den alliierten Truppen den Sommerpalast zu erreichen. Elgin hatte sicherlich Spähtrupps ausgeschickt, um nicht in einen Hinterhalt zu tappen, und Randall zählte auf die Tatsache, dass er bei allen höheren Offizieren bekannt war und die Spähtrupps von jemandem geführt wurden, der mindestens Major war.
Er hatte vor, den Alliierten allein entgegenzutreten und die Plünderung zu vereiteln. Da ihn bereits eine Legende umgab, war er sicher, dass Lord Elgin es nicht wagen würde, mit ihm die Klinge zu kreuzen. Er hatte nur zwei Palastwachen bei sich und würde daher äußerst selbstbewusst vorgehen müssen. Ein Angriff auf den Sommerpalast stand nicht in den Geschichtsbüchern, und Randall hatte beschlossen, die Entwicklung in ihre vorgesehenen Bahnen zu lenken.
Er stellte sich in die Steigbügel, um die Umgebung besser überblicken zu können, und spähte nach Osten in den Sonnenaufgang. Doch gegen das Licht war es schwierig zu unterscheiden, ob er auf holpriges Gelände oder auf den Heerwurm der Alliierten schaute. So oder so schienen sie es bis zum Sommerpalast noch nicht geschafft zu haben, sonst würde er die schweren Geschütze und Munitionswagen, die sie sicher bei sich hatten, schon sehen. Er hätte darüber erleichtert sein müssen, doch das Brennen im Magen wurde nur heftiger. Ich hätte länger bei ihr bleiben können, dachte er, und zugleich erfüllte ihn der Gedanke an den vergangenen Abend mit widerstreitenden Gefühlen. Sie hatte sich ihm erneut verweigert. Sicher verstand sie es meisterlich, einen Mann zu erregen, aber noch geschickter war sie darin, ihm vorzuenthalten, was er sich am meisten wünschte – ihre uneingeschränkte Hingabe. Wieder hatte sie ihn in eine Lage manövriert, in der er keine andere Wahl hatte, als sie mit Gewalt zu nehmen, nachdem sie ihn mit oralen Finessen verrückt gemacht hatte. Völlig abrupt hatte sie sich abgewendet und erklärt, er habe ihre Liebe noch nicht im vollen Umfang verdient und darum könne sie nicht mit reinem Gewissen weitermachen.
In seiner aufgewühlten Leidenschaft hatte er nicht anders gekonnt, als sie gegen ihren Willen zu nehmen.
Die Wut, die in den Eingeweiden brannte, speiste sich halb aus Reue und halb aus dem heißen Wunsch, sie möge mehr tun, als sich bloß seinem Zwang zu fügen. Sah sie denn nicht, dass er der Grund war, weshalb die Verbotene Stadt noch stand? Begriff sie nicht, dass er der Mann war, der das erforderliche Wissen besaß, um ihr den Thron zu sichern? Sie brauchte ihn und wies ihn dennoch zurück. Sie verwehrte ihm, was er sich am meisten wünschte, und stachelte damit seine Sehnsucht umso mehr an.
Er war wütend auf sich selbst und darum voller Hass auf Elgin und die Alliierten. Nur weil sie den Sommerpalast zerstören wollten, hatte Cixi ihn in ihr Schlafzimmer gerufen. Folglich war Lord Elgin der Grund für sein Elend, entschied Randall, der fette Mann und seine niederen Absichten waren der Auslöser gewesen. Und sowohl er als auch Parkes würden den Zorn des Aufsehers zu spüren bekommen.
Die Straße überquerte einen der zahllosen Kanäle, die die Hirsefelder durchzogen. Die flache Steinbrücke war nur noch anderthalb Kilometer von der Einfriedung des Palastgeländes entfernt. Beim Getrappel der Hufe, das in der morgendlichen Stille umso lauter schallte, sagte sich Randall, dass er der einzige Mann sei, der allein gegen Tausende antreten konnte und wollte. Seine beiden Begleiter, auf denen Cixi bestanden hatte, würden nur für seinen Einlass im Palast sorgen und sich für seine Befugnis verbürgen. Sobald er dort angekommen wäre, würde er ihnen Befehl geben, sich zu verbergen; denn er hatte weder die Zeit noch die Neigung, ihr Leben zu schützen.
Die Straße wurde breiter, als sie sich den weißen Mauern näherten, und ging in eine Weidenallee über. Ein schmaler Kanal verlief parallel, und über dem Wasser hingen Nebelschwaden.
Das Haupttor kam rasch näher. Randall stellte sich bereits vor, was er dahinter sehen würde: fünfzig Quadratkilometer Parks, Seen und Wald, zwischen denen zweihundert prächtige Bauten standen, die schönsten der Welt. Zwanzig davon waren Paläste in chinesischem, mongolischem, tibetischem oder europäischem Stil, deren Herrlichkeit allenfalls von Versailles übertroffen wurde. Diese Anlage war ein Märchenland voller Gold und Juwelen, mit Wäldern, in denen das Wild umherstreifte, und Flüssen und Seen, die von Fischen wimmelten. Tausend Eunuchen kümmerten sich um Gärten und Gebäude und bewachten das Erbe von Kangxi und Quianlong, ein Wunderland, das auf einer baumlosen Ebene geschaffen worden war. Erde war aufgeschüttet worden, um sanfte Hügel und steile Täler zu bilden; hundert Kanäle verbanden sich mit Seen und ruhigen Flüssen. Über klare Gewässer führten bucklige Brücken mit marmornem Geländer, und wie bei allen Gebäuden und Hügeln, die sich die bedeutendsten Architekten des Reiches ausgedacht hatten, waren auch bei ihrer Erstellung alle Aspekte wie Sonne, Blickwinkel, Symmetrie, Hintergrund und Himmel berücksichtigt worden.
Randall schaute staunend zu den zwei goldenen Wachtürmen hoch. Dazwischen leuchtete das scharlachrote Haupttor, das mit zehn Meter Höhe und zehn Meter Breite beeindruckend war. Überraschenderweise schien es unbewacht zu sein, auch auf den Türmen ließ sich keiner blicken. Randalls Herz schlug schneller, während er darauf zugaloppierte. War das Palastgelände bereits überrannt worden, oder waren die Wachen geflohen, nachdem sie gesehen hatten, dass sich das Heer der Feinde näherte?
Im leichten Galopp lenkte er sein schnaubendes Tier durch den Torspalt und drang wachsam in eine Welt ein, die nur wenige Männer je zu Gesicht bekommen hatten.
Der südliche Eingang führte in den Garten der Vollkommenheit und des Lichts. Doch es war nicht die Schönheit und Erhabenheit der Palastbauten oder der Parklandschaft, die seine Aufmerksamkeit auf sich zog, sondern die gut zwanzig Leichen, die überall im Vorhof in ihrem Blut lagen.
Alle waren Wachen, denn sie trugen die rotviolette Uniform der Garde des Sommerpalastes. Viele waren aus nächster Nähe erschossen worden; die Eintrittswunden trugen die typischen Verbrennungen durch das Mündungsfeuer.
Randall nahm die Samtkappe ab und sah sich nach allen Seiten um, doch nirgends war jemand. Er untersuchte das schwere Holztor; es war nicht gewaltsam geöffnet worden.
Er wandte sich seinen Begleitern zu und deutete mit dem Kopf zum Wald hinüber. »Du verbirgst dich sofort zwischen den Bäumen!«, befahl er einem. »Ich will nicht, dass jemand auf dich aufmerksam wird. Wenn die Feinde anrücken, fliehe durch das Westtor und melde der Edlen Kaiserlichen Gemahlin, was hier passiert ist.« Zu dem anderen sagte er: »Steig auf den Turm, und sag mir, was du siehst!«
Der Eunuch sprang vom Pferd, zog das Schwert und verschwand im Wachturm. Kurz darauf erschien er am höchsten Punkt und spähte nach Südosten. Der Wandel, der sich auf seinem Gesicht vollzog, bestätigte Randalls Vermutung.
»Da kommen Tausende Soldaten«, rief er mit hoher Stimme herab. »Sie sind nur noch drei Kilometer entfernt!«
Mit dem Sonnenaufgang kamen also auch die roten Teufel.
Randall nickte und zeigte dann auf ein anderes Stück Wald. »Geh dort in Deckung!«, rief er dem Eunuchen zu. »Wenn sie das Tor erreichen, ehe ich fertig bin, reite durch das Nordtor zur Verbotenen Stadt.«
Er gab seinem Pferd die Sporen und raste im gestreckten Galopp auf eines der Barockschlösser zu, das er von weitem sah, einen dreistöckigen Koloss mit vielen Hundert Zimmern und noch mehr Fenstern und hübsch geschwungenen Giebeln. Ringsherum blühten Blumen in bunten Rabatten. Aus einem langen, rechteckigen Becken in der Mitte des Gartens stiegen Dutzende Fontänen auf. Sicher würden die gierigen Invasoren hier mit den Plünderungen beginnen.
Er folgte der Spur von Leichen, viele Gärtner und ein paar Wachen. Es dauerte nicht lange, da stieß er vor einem Schlosseingang auf einige Pferde der Franzosen. Es waren acht.
Als ihm einfiel, dass sie ihn wahrscheinlich durch die Fenster kommen sahen, zog er das Schwert und sprang noch im Galopp aus dem Sattel. Er rannte auf die offene Flügeltür zu und hechtete mit einer Rolle vorwärts in die Eingangshalle. Dort standen wenige vergoldete Barockmöbel. Die Decke wölbte sich in Ehrfurcht gebietender Höhe. Möbel, Vorhänge, Kronleuchter, alles passte bis ins Detail ins Europa des 17. Jahrhunderts. Gebaut und ausgestattet hatten das Schloss die Jesuiten Giuseppe Castiglione und Michel Benoît vor über hundert Jahren. Sie waren von Kaiser Qianlong mit großzügigen Vollmachten ausgestattet worden, um seine Vorliebe für exotische europäische Bauten zu befriedigen.
Da Randall keine Franzosen sah, blieb er lauschend stehen. Er brauchte nur ein paar Sekunden zu warten, da hörte er aus der oberen Etage Glas klirren. Leise stieg er die geschwungene Marmortreppe hinauf, um dem Plünderungsgeschehen einen ersten Riegel vorzuschieben.
Raues Gelächter hallte ihm entgegen. Plötzlich fiel ein Schuss, und wieder klirrten Scherben, begleitet von lautem Lachen. Ein zweiter Schuss knallte durchs Treppenhaus; das Gelächter folgte sogleich. Die Franzosen schienen sich gut zu amüsieren. Randalls Zorn wuchs, während er lautlos wie ein Phantom nach oben schlich. Er wusste, er würde nicht die Zeit haben, den Saal zu überblicken.
Er rannte in den ersten Raum, eine gut gefüllte Bibliothek, und schnitt einem französischen Seesoldaten die Kehle durch, drehte sich im Sprung herum und stach einem anderen in die Brust, köpfte einen dritten, dann einen vierten. Das Gefühl, mit der Klinge durch Fleisch und Knochen zu hauen, war berauschend, und Randalls Verstand war so klar wie ein wolkenloser Himmel. Randall war allein aufs Töten konzentriert, tat es mit präzisen, effektiven Bewegungen. Mit einem gedrehten Rückwärtstritt flog er durch den Raum, brach einem Plünderer das Genick, während er gleichzeitig einem anderen mit dem Schwert in die Brust hieb, um dem nächsten den Bauch aufzuschlitzen und die Klinge aufwärts ins Herz zu stoßen.
Als er auf den Füßen landete, sah er den verbliebenen Franzosen, einen Major, nach seiner Pistole greifen. »Sprechen Sie Englisch?«, fragte Randall, während er auf ihn zuging.
Vor lauter Furcht bekam der Major den Derringer nicht aus dem Holster. Über dem Griff baumelten eine gestohlene Taschenuhr und zwei Perlenketten, die sich hoffnungslos damit verhedderten.
»Sprechen Sie Englisch?«, fragte Randall noch einmal, doch die Angst des Offiziers und sein jämmerliches Bemühen, die Waffe zu ziehen, sagten ihm, dass dieser nicht der geeignete Bote für ihn war. Während das Blut von seinem Schwert tropfte, fällte er die Entscheidung. Dann köpfte er den Mann mit einem brutalen Streich. Der Kopf fiel auf den Marmorboden, ehe der Rumpf, vom Blut der durchgetrennten Arterien überströmt, vornüber kippte.
Randall betrachtete die Szene. Die Taschen der Toten beulten sich von erbeutetem Schmuck, manche hatten sich die Ketten sogar um den Hals gehängt. Nach dem zerbrochenen Wandspiegel und dem durchlöcherten Porträt Qianlongs zu urteilen, hatten die Franzosen herumgealbert – und mit dem Leben bezahlt. Randall lief vorsichtig ans Fenster und spähte in den Hof an der Rückseite des Gebäudeflügels. Zu seiner Überraschung standen dort wenigstens achtzig Pferde – britische und französische –, die aus einem Brunnenbassin Wasser soffen. Wachen waren keine zurückgelassen worden. Offenbar hatte jeder Soldat den Vorteil, dass sie die Ersten am Schloss waren, gehörig nutzen wollen, um sich das Schönste auszusuchen.
Randall rannte zur Hintertreppe. Er musste der Plünderung ein Ende machen, ehe sie in Raserei ausartete. Er würde töten müssen, bis er einen fand, der geeignet wäre, die Nachricht an Lord Elgin zu überbringen, und zwar auf eine Art, die den größtmöglichen Eindruck machte.
Aus dem Ostflügel drangen Stimmen herüber. Das blutige Schwert in der Hand, lief Randall ihnen still entgegen.
Captain Charles Gordon von den königlichen Pionieren hatte Befehl erhalten, Major Probyn und fünfzig seiner besten Männer, die als Spähtrupp dienten, zu begleiten. Das war nötig für den Fall, dass die Qing Brücken zerstört oder Hinterhalte gelegt hatten. Zu seiner großen Erleichterung war der Weg zum Sommerpalast frei und passierbar gewesen. Anscheinend waren die chinesischen Adligen geflohen, ohne an den Schutz der Anlage zu denken, von den hilflosen Dienern und den wenigen Wachen, die sie zurückgelassen hatten, einmal abgesehen.
Auf Lord Elgins Befehl hatten die Franzosen ebenfalls fünfzig Männer, geführt von Général Montauban, ausgeschickt, und gemeinsam waren sie kurz vor Sonnenaufgang eingetroffen. Die kleinliche Missgunst zwischen Briten und Franzosen hatte aus dem Ritt nicht weniger als ein Pferderennen gemacht, bei dem es darum ging, wer dem anderen um eine Nasenlänge voraus sein würde. Dementsprechend waren die Pferde fast lahmgeritten worden. Bei ihrer Ankunft hatte ein Franzose einem Wachposten aus nächster Nähe ins Gesicht geschossen, obwohl sich die Garde vollständig ergeben hatte. Um nicht zurückzustehen, erschossen die Briten prompt die übrigen Wachen, um keine Zweifel aufkommen zu lassen, dass sie die Brutaleren waren. Sie benahmen sich wie Schulhofrowdys, die, um ihre Überlegenheit zu beweisen, vor nichts haltmachen.
Laut Befehl von Lord Elgin sollten sie die Schlösser nicht anrühren, bis die gemeinsamen Verbände eingetroffen wären, doch die Anweisung wurde sofort ignoriert. Man konnte sich ja später gegenseitig die Schuld zuschieben.
Was die Soldaten vorfanden, überstieg die kühnsten Erwartungen, und es juckte ihnen in den Fingern bei dem Gedanken, welches Vermögen sie ergattern würden. Captain Gordon hatte jedenfalls in seinem ganzen Leben noch nicht solche Schönheit und Pracht gesehen, weder natürlicher noch künstlicher Art. Als er in dem großen Saal stand, staunte er ehrfurchtsvoll mit offenem Mund. Allein die bemalten Decken waren unglaublich, ganz zu schweigen von allem anderen. Er kannte sich mit Handwerkskunst aus, und diese war vom Allerfeinsten. Er stand umgeben von unvergleichlicher Erhabenheit, und es bedrückte ihn zutiefst, was die anrückenden Verbände damit machen würden.
Soldaten aller Dienstgrade durchwühlten Schubladen, Schränke und Truhen und steckten sich das Wertvollste ein. Was ihnen selbst nicht gefiel, wurde rücksichtslos zerstört.
Captain Gordon fand auch, dass für die Entführung und Ermordung der Gesandten eine gewisse Vergeltung nötig war. Es sollte ein Exempel statuiert werden. Doch als er zusehen musste, wie zwei Dragoner eine große Jadeplastik vom Sockel stoßen wollten, nur um dieses Meisterstück zu vernichten, wurde ihm die Sinnlosigkeit ihres Tuns vollends bewusst.
»Wir sollten warten, bis Lord Elgin eintrifft!«, brüllte er. »Lassen Sie die Statue stehen!« Die beiden Soldaten hielten kurz inne, dann hörten sie im Nachbarraum etwas zu Bruch gehen.
»Keiner mag einen guten Samariter, Captain. Sehen Sie sich um. Selbst Major Probyn tut es.« Damit kippten sie die hohe Landschaftsplastik um, sodass sie zersplitterte.
»Ihr Hohlköpfe«, zischte Gordon leise durch die Zähne und hastete um die Ecke, um Major Probyn zu suchen. Der schob sich soeben zwei Goldbarren in seine schon gut gefüllten Taschen. »Wir müssen warten, bis Lord Elgin eintrifft«, sagte Captain Gordon, wurde aber von niemandem beachtet, auch nicht von Probyn, der durch eine Tür verschwand.
Aus der anderen Richtung hörte Gordon einen Schrei und schrieb ihn einem scherzenden Soldaten zu. Als dann kurz hintereinander drei Schüsse fielen und ein Knochen knackte, stockte ihm das Blut in den Adern.
Sein Herz klopfte so heftig, dass ihm fast schwindlig wurde. Er zog seinen Colt und bewegte sich zu dem gewölbten Durchgang. Was er dahinter sah, war schier unglaublich. Ein einzelner chinesischer Soldat in smaragdgrüner Seidenuniform machte einen über mannshohen Sprung durch die Luft und köpfte, als er am Boden aufkam, einen der beiden Dragoner, die Gordon eben noch gemaßregelt hatte. Der andere lag bereits mit blutigem Halsstumpf da.
In einer Ecke des vornehmen Wohnraums hatten zwei Sergeants ihre Waffen auf den Chinesen angelegt, doch zu spät für die Behändigkeit des Gegners. Ihre Kugeln schlugen in die Wand ein, während dieser im Zickzack auf sie zusprang, und Sekunden später waren die Sergeants ebenfalls tot.
Gordon zielte, doch der Fremde bewegte sich so schnell, dass es unmöglich war, ihn lange genug im Visier zu behalten. Der Chinese kam mit furchterregender Geschwindigkeit auf ihn zu. Gordon ging auf ein Knie nieder und hoffte, genauer zielen zu können, während sein Gegner bereits durch die Luft sauste.
Randall machte einen Satz auf den britischen Captain zu und trat ihm den Colt aus der Hand, schnellte herum und versetzte ihm einen harten Schlag gegen den Kopf. Dann drückte er den Zeigefinger an der Wirbelsäule tief in den Rücken und klemmte einen Nervenstrang ab, um sein Opfer von den Schultern abwärts zu lähmen.
»Wie heißen Sie?«, fragte Randall keuchend. Dabei spähte er durch den Raum und in die angrenzenden Flure, ob sich auch niemand näherte.
»Ich kann mich nicht bewegen«, antwortete der Captain erschrocken.
»Beantworten Sie meine Frage!«
»Captain Gordon«, gab er ordnungsgemäß an.
Randall lächelte unwillkürlich. »Der berühmte Charles Gordon?«
»Wir sind uns noch nicht begegnet«, brachte Gordon hervor, »aber ich weiß trotzdem, wer Sie sind. Ihre Augenfarbe verrät Sie.«
Randall zog den kraftlosen Offizier näher zu sich heran und sagte in sehr ernstem Ton: »Merken Sie sich meine Worte, Charles Gordon. Eines Tages werden Sie berühmt sein. Man wird Sie in der ganzen Welt als heldenhaften Anführer kennen. Wie gut, dass ich Ihnen nicht versehentlich den Kopf abgeschlagen habe.« Randall wusste, dass der Mann eines Tages Major-General und Generalgouverneur des türkisch-ägyptischen Sudans werden und man ihn schließlich im Belfry Tower der Westminster Abbey beisetzen würde. Es war ihm nicht bestimmt, hier zu sterben, sondern er würde erst in fünfundzwanzig Jahren bei der Belagerung von Khartoum von Zulus getötet werden.
Captain Gordon schaute umso verwirrter. »Was … wie …?«
»Keine Zeit für Fragen!«, sagte Randall barsch und legte seine blutige Klinge an Gordons linke Schulter. »Sie werden sofort zu Lord Elgin reiten und ihm persönlich melden, dass Randall Chen im Sommerpalast ist. Wenn er sich entschließt, einzudringen, wird er das mit dem Leben bezahlen und mit dem Leben zahlloser Männer.« In dem Moment hörte er hinter sich einen schwachen Laut und sah sich rasch nach allen Seiten um. »Werden Sie das tun?«
»Ja«, antwortete Gordon nach kurzem Überlegen. »Aber warum sagen Sie, dass ich berühmt werde?«
Randall gab den Nervenstrang frei und strich mit dem Fingerknöchel über den Lendenmeridian. »Sie werden gleich wieder Gefühl in den Gliedern haben«, kündigte er an. »Sie werden berühmt sein, Charles Gordon – Könige und Königinnen werden Ihren Namen kennen, aber mehr verrate ich Ihnen nicht. Jetzt müssen Sie die Nachricht überbringen. Sagen Sie Lord Elgin, dass seine Soldaten nur der Tod erwartet, wenn er sich mir entgegenstellt.«
Plötzlich knallte ein Gewehrschuss.
Randall spürte einen reißenden Schmerz in Rücken und Bauch. Er sah an sich hinab. Da war eine große Wunde unterhalb der Rippen, und überall war Blut. Man hatte ihn von hinten angeschossen! Sein Blick verschwamm. Wie gelähmt brach er in die Knie.
Captain Gordon hielt ihn bei den Schultern aufrecht, dann eilten zwei Dragoner herbei, zogen ihn weg und warfen ihn zu Boden. Randall wurde immer wieder schwarz vor Augen, die Schmerzen legten sein Nervensystem lahm. Er konnte nur daliegen und spüren, wie das Leben aus ihm heraussickerte.
Ein Bild von Cixi im goldenen Drachengewand stieg ihm ins Bewusstsein, und er erinnerte sich, wie sie ihn angesehen hatte, als sie ihn bat, vorsichtig zu sein. Er war so dumm gewesen, sich für unbesiegbar zu halten, und das war ein Fehler, der ihm nicht hätte unterlaufen dürfen.