49.

Peking, China
Chinesenviertel, Zeremonienhalle
24. Oktober 1860
Ortszeit: 14.59 Uhr
Unternehmen Esra – Tag 235

Lord Elgin näherte sich der Zeremonienhalle mit großem Pomp. Er hatte sogar zwei Regimentskapellen bei sich, die den ganzen Weg über »God Save the Queen« spielten. Umgeben von vielen Reitern saß er in einer rot überdachten Sänfte, die von sechzehn Chinesen getragen wurde. Er trug wie immer seinen schwarzen pelzverbrämten Mantel, die Orden glänzten an seiner Brust. Hinter ihm ritten Harry Parkes und Sir Hope Grant, umgeben von nicht weniger als fünfzig britischen und französischen Offizieren in Ausgehuniform. Davor und dahinter liefen zweitausend britische und französische Soldaten mit schussbereitem Gewehr und aufgepflanztem Bajonett.

General Napier und der Großteil der Verbände, die ihr zorniges Werk am Sommerpalast zu Ende geführt hatten, warteten für den Fall eines Verrats mit geladenen Kanonen vor der Stadt.

Direkt vor Lord Elgin, auf einer Sänfte mit nur zwölf Trägern, saß Prinz Kung in rotvioletter Robe mit goldenen, vierklauigen Drachen auf Brust, Schultern und Rücken. Auf dem Kopf trug er eine runde Samtkappe und um den Hals eine Jadekette. Der Prinz war gebeten worden, zum Stadttor zu kommen und Lord Elgin in die Stadt zu geleiten. Als weitere Beleidigung war von ihm verlangt worden, dass seine Sänfte vier Träger weniger hatte. Schließlich seien die Briten und Franzosen die Eroberer.

Die Reste des Sommerpalastes rauchten noch, und die Schätze, die die großen Hallen im Überfluss geschmückt hatten, wurden nun von hundert Lastkähnen den Peiho hinunter bis nach Taku gefahren. Von dort würde die Beute vom britischen Geschwader nach Europa gebracht und zwischen Königin Victoria und Kaiser Napoleon III. aufgeteilt werden.

Prinz Kung hatten sie zwei Stunden vor dem Stadttor warten lassen, erst dann hatte Lord Elgin seine Leute antreten lassen. Es bereitete ihm großes Vergnügen zu wissen, dass ein Prinz der Qing in der Sonne schmorte, und er bemerkte hochmütig nach allen Seiten: »Das haben die Chinesen verdient!«

Randall stand auf dem südwestlichen Wachturm der Verbotenen Stadt und schaute zu den Yanshan-Bergen. Die höheren Gipfel waren jetzt schneebedeckt, und ihm wurde klar, dass der nahende Winter das Ende der Invasion ankündigte. Das Expeditionskorps konnte sich nicht erlauben, länger zu bleiben. Die Alliierten hatten nicht mehr viel Munition und weder warme Kleidung noch Winterzelte, um der Kälte zu trotzen.

Bei dem Gedanken an die sexuellen Genüsse mit Cixi wurden ihm die Knie weich. Gestern Abend zum Beispiel zog sie ihn aus und wies ihn an, sich in der kalten Luft auf ein eigens errichtetes Podest zu legen. Mit großer Geschicklichkeit nahm sie heißes Wasser in den Mund und spritzte es ihm in verführerischer Weise auf die nackte Haut. Während der folgenden Stunde legte sie sich nackt auf ihn und leckte ihm das Wasser Zoll um Zoll vom ganzen Körper. Das Gefühl war geradezu erstaunlich, die Kombination von heiß und kalt ein Genuss für die Sinne. Dann schlang sie eine lange, weiche Seidenkordel um die Dachbalken über dem Podest und ihren nackten Oberkörper, hängte sich kopfüber hinein und nahm seine Männlichkeit in den nassen Mund. So hing sie im Lotussitz über ihm, schöner denn je. Mit einem Kniff begann sie die Kordel zu drehen und drehte sich mit ihr, ohne ihn aus dem Mund zu lassen. Er seufzte, wenn er nur daran dachte. Als sie sich ein Dutzend Mal gedreht hatte, ließ sie der kinetischen Energie freien Lauf, die in beiden Richtungen zu unzähligen Rotationen führte. Das Gefühl war unbeschreiblich gewesen.

Cixi war wirklich die beste Geliebte der Welt, fand er. An nur einem Tag mit ihr hatte er mehr sexuellen Spaß gehabt als bei seinen früheren Geliebten zusammengenommen. Er sah noch einmal zu den schneebedeckten Berggipfeln, dann unter sich auf den Wassergraben, wo der kalte Wind kräuselnde Wellen erzeugte. Randall fühlte sich wie im Himmel. Der Lebensbaum hatte ihn von den Toten zurückgeholt, aber noch verblüffender waren seine körperlichen Erfahrungen mit Cixi. Er glaubte nicht, dass ihm je eine andere Frau mehr Lust verschaffen und mehr geistige Anregung bieten könnte.

Er fasste über die rechte Schulter nach dem Griff seines Schwertes, zog es aber nicht aus der Scheide. Er hatte seinen Transport in die Zukunft bereits hinausgezögert und beschloss nun, ihn in Kürze nachzuholen – an dem Tag, an dem Cixi nach Jehol abreiste. Es war ihm unerträglich, dass sie mit Hsien Feng schlafen musste, um das kaiserliche Siegel zu bekommen. Randalls Gefühle für Cixi wurden ständig stärker, und er wusste, dass ihn die Eifersucht überwältigen würde.

Da er die Phiole schon mit dem Baumsaft gefüllt hatte, war er so gut wie reisefertig. In ein paar Stunden würde die Pekinger Konvention unterzeichnet. Cixi bekäme das Siegel, was ihr die Regentschaft über das Reich verschaffte. Und vor allem würden die Briten und Franzosen endlich mit ihren Expeditionstruppen abziehen und niemals wiederkommen. Erforderlich war nur noch, Cixi davon zu überzeugen, dass sie den Baum des Lebens nicht mehr antasten durfte. Aber sie war für ihre Eitelkeit bekannt, und wenn er sie glauben machen konnte, dass ihre Schönheit vom Erhalt des Baumes abhing, wäre dessen Schutz gesichert.

Randalls Sinne waren beträchtlich geschärft, nachdem er von dem Saft getrunken hatte. Er konnte klarer denken, höher springen und kräftiger zuschlagen als je zuvor; er kam sogar mit wenigen Stunden Schlaf aus. Es war jammerschade, auf den Saft verzichten zu müssen, doch er wusste, dass das Anzapfen von Nachteil war. An der Stelle, wo Li-Zhang die Rinde angebohrt hatte, war eine große knotige Verdickung entstanden.

Ein Palastwächter näherte sich von hinten. Randall hörte seine Schritte schon von weitem, als ginge er über ein Reisigbett.

»Was gibt es?«, fragte er, ohne sich umzudrehen.

»Lord Elgin wird die Zeremonienhalle bald erreichen«, antwortete der Eunuch. »Die Edle Kaiserliche Gemahlin verlangt, dass wir sofort aufbrechen.«

Sie saßen in bequemen Rosenholzsesseln hinter einem Vorhang am Ende der Zeremonienhalle. Cixis elegante Hand ruhte in Randalls Schoß. Es war recht dunkel in ihrem Versteck, sodass sie in das weite, offene Gebäude blicken, man umgekehrt aber nicht durch den Vorhang sehen konnte.

Auf dessen anderer Seite saß Prinz Kung in einem ähnlichen Stuhl, vor sich die zahllosen roten Tische, an denen die britischen und französischen Offiziere der Vertragsunterzeichnung beiwohnen würden. Die Halle stand im südlichen Viertel der Chinesenstadt und war ein heruntergekommener Säulenbau, der sich zu einem weiten Hof öffnete. Im Vergleich zur Verbotenen Stadt fehlte ihm jegliche Pracht. Und selbst der große Wandteppich, der aufgespannt war, um Schatten zu spenden, bestand aus minderwertiger Seide und war ausgebleicht und an einigen Stellen löchrig.

Wieder ließ Lord Elgin den Prinzen warten, während seine Leute das Gelände nach einem Hinterhalt und Sprengfallen absuchten. Erst als ihm versichert wurde, es sei alles in Ordnung, hielt er pompös Einzug. Im Gleichschritt marschierte das Kontingent Soldaten in den Hof und stellte sich zu beiden Seiten auf, sodass Lord Elgin, Sir Hope Grant und – deutlich hinkend – Harry Parkes durch die Mitte gingen, und die ganze Zeit über tönte »God Save the Queen« über die Mauern.

Randall packte die kalte Wut, als er den arroganten Briten mit stolz gereckter Brust auf die offene Halle zukommen sah. Der Blick des aufgeblasenen Kerls wurde von den schmutzigen Säulen angezogen und wanderte dann über die zahllosen Reihen der Mandarine, die an einer Wand standen. Als er an den mittleren Tisch herantrat, besah er kurz die ordentlich ausgelegten Schriftstücke, dann richtete er seinen geringschätzigen Blick auf Prinz Kung. »Ein besseres Gebäude könnt Ihr für die Unterzeichnung eines so wichtigen Vertrages nicht erübrigen?«, schnauzte er.

Prinz Kung stand sichtlich nervös von seinem Stuhl auf. Er hatte nicht nur Angst, die Fremden gegen sich aufzubringen, er hatte auch noch nie so viele von ihnen auf einmal gesehen, und ihre bärtigen Gesichter fand er zum Fürchten.

»Wichtig ist nur, dass er unterzeichnet wird«, flüsterte Cixi durch den Vorhang. Prinz Kung wiederholte den Satz.

»Wer ist hinter dem Vorhang?«, fragte Lord Elgin aufgebracht, der das Zischeln gehört hatte.

»Mein Ratgeber«, antwortete Prinz Kung.

»Ich will wissen, wer das ist!«

»Das kann ich Euch nicht sagen«, erwiderte Prinz Kung sanftmütig.

Lord Elgin stampfte mit dem Fuß auf. »Meine Truppen haben dieses Gebiet erobert«, schäumte er. »Ich habe jetzt hier die Befehlsgewalt, und Sie werden gehorchen!« Er drehte sich zu Sir Hope Grant um. »Reißen Sie den Vorhang herunter!«

»Ich rate davon ab«, sagte Parkes leise. »Da sitzt sicherlich Cixi. Wir müssen Respekt zeigen und den Vorhang hängen lassen.«

Elgin verdrehte seinen dicken Hals, um seinen Chefunterhändler anzusehen. »Die Zeit für solche Höflichkeiten ist vorbei. Entfernen Sie den Vorhang!«

»Ihr dürft dahinterschauen«, sagte Prinz Kung schüchtern, »ihn aber nicht entfernen.« Das waren die Worte, die Randall ihm zugeflüstert hatte.

»Und woher soll ich wissen, ob das keine Falle ist?«, meinte Elgin in arrogantem Ton.

»Ihr dürft einen Eurer Männer schicken«, flüsterte Randall. »Harry Parkes.« Prinz Kung wiederholte es Wort für Wort.

Parkes war klar, wie wichtig es war, die vorgefundenen Umstände zu respektieren, und drang in einer kurzen Auseinandersetzung auf Elgin ein. Der setzte sich behäbig in seinen Stuhl und verkündete: »Mr. Parkes wird jetzt hinter den Vorhang sehen. Und merken Sie sich eins: Wenn ich mit dem Fortschritt der Verhandlungen an irgendeinem Punkt nicht zufrieden bin, wird der Vorhang fallen.«

Parkes richtete seine Jacke, hob das Kinn und schritt zielstrebig auf Prinz Kung zu. Er war neugierig auf die kaiserliche Gemahlin, die angeblich eine wahre Schönheit war. Er verbeugte sich vor dem Prinzen, dann schob er den Vorhang ein wenig zur Seite. Doch er blickte in ein völlig unerwartetes Gesicht. Randall Chens saphirblaue Augen sahen ihn an.

»Schön, Sie wiederzusehen«, sagte Randall leise.

Parkes fuhr taumelnd zurück, so heftig erschrak er. Nachdem er tief Luft geholt hatte, zog er den Vorhang ein zweites Mal beiseite. »Ich dachte, Ihr seid tot.«

Randall verstellte ihm den Blick auf Cixi. »Es braucht schon mehr als Ihre Kugeln, um mich umzubringen«, flüsterte er. »Ich schlage vor, Sie gehen zu Lord Elgin und schärfen ihm ein, den Vertrag einzuhalten, jeden einzelnen Artikel. Sie glauben, hier die Macht zu haben, aber das ist nicht so. Wenn Sie den Vorhang entfernen, wird die Geschichte mehr von meiner Rolle bei diesen Ereignissen handeln als von Ihrer.« Er schwieg einen Moment, damit Parkes das Gesagte verarbeiten konnte. »Gehen Sie jetzt … und lassen Sie es keinen Augenblick an Respekt mangeln.«

Parkes ließ den Vorhang fallen. Mit dem Ausdruck eines Mannes, der soeben einen Geist gesehen hat, drehte er sich um und schritt durch die Halle zu Lord Elgin zurück, um ihm ins Ohr zu flüstern.

»Was soll das heißen, er lebt?«, schnauzte der. Ungläubig sprang er auf und fuhr sich an den Backenbart. »Er muss –«

Parkes konnte ihn gerade rechtzeitig unterbrechen und machte ihm begreiflich, was die Anwesenheit des Blauäugigen bedeutete.

»Er kann unmöglich der Mann sein, der im Sommerpalast angeschossen wurde«, beharrte Elgin leise. »Das ist unmöglich.«

Prinz Kung ließ sich vernehmen: »Ihr dürft Captain Charles Gordon hinter den Vorhang schicken.«

Das erzeugte Unruhe unter den Offizieren, doch Gordon wurde nach vorn gedrängt, wo Elgin und Parkes aufgeregt mit ihm flüsterten, während Sir Hope den Hals reckte und die Ohren spitzte, um zu belauschen, was vor sich ging.

Endlich begab sich Gordon zu dem Vorhang und lüftete ihn behutsam.

Randall Chen erwartete ihn. »Ich habe Ihnen aufgetragen zu sagen, dass der Sommerpalast nicht zerstört werden darf. Mir scheint, Sie haben das nicht ausgerichtet.«

»Aber – Sie hatten einen Bauchschuss«, hauchte Gordon nervös. »Wie kann das sein?«

»Was ich über Ihre Zukunft gesagt habe, ist wahr«, erwiderte Randall. »Könige und Königinnen werden Ihren Namen kennen, Charles Gordon. Jetzt gehen Sie zurück zu Lord Elgin und sagen ihm, dass ich derselbe Mann bin.«

Der Vorhang schloss sich, und Cixi drückte Randalls Schulter. »Ihr habt sie alle gehörig erschreckt«, meinte sie amüsiert.

Nachdem Captain Gordon die Sache bestätigt hatte, wechselten Elgin und Parkes einen skeptischen Blick. Ihre frustrierte Frage, »Sind Sie absolut sicher?«, war trotz des allgemeinen Gemurmels zu verstehen.

»Ich verwette meinen Kopf darauf«, antwortete Captain Gordon, grüßte und trat weg.

Lord Elgin straffte sich. »Ich bitte um Erlaubnis, an den Vorhang treten zu dürfen«, sagte er höflich. Als diese erteilt wurde, folgte er seinen Vorgängern.

Randall empfing seinen einstigen Verbündeten mit strenger Miene. »Sie werden die Punkte unserer Abmachung einhalten«, sagte er energisch. »Sie werden den Vertrag unterzeichnen und das Land sofort verlassen. Nichts anderes werden Sie tun.«

»Aber Sie müssten doch tot sein«, flüsterte Elgin verblüfft.

»Sehe ich aus wie ein Geist?«, erwiderte Randall. »Gehen Sie zum Tisch und unterschreiben Sie. Dann wird die Geschichte Sie in ein günstiges Licht rücken – und nicht als bloßen Plünderer hinstellen. Ihrem Vater haftet die Plünderung des Parthenons ewig an. Ich empfehle Ihnen daher Wohlverhalten. Nach allem, was ich schon für Sie getan habe, erweise ich Ihnen auch noch diesen Gefallen, Lord Elgin. Wenn Sie meine Rolle hier aufdecken, werde ich, der rätselhafte, blauäugige Chinese, in die Geschichte eingehen und Sie bloß als meine Marionette genannt werden.«

Elgin liefen Schweißperlen übers Gesicht. »Aber wieso sind Sie noch am Leben?«

»Hier sind Kräfte am Werk, die Sie nicht verstehen, Lord Elgin. Die Macht, Leben zu geben und zu nehmen, ist auf meiner Seite. Sie haben auf dem Schlachtfeld gesiegt, weil ich da war und Sie geführt habe. Sie sind einen Pakt mit dem Teufel eingegangen, und ich verlange meinen Lohn. Seien Sie dankbar, dass ich nicht in der Stimmung bin, für Ihren elenden Überfall auf Yuan Min Yuan Rache zu nehmen.« Randall zeigte in die Halle. »Die Zeit für Fragen ist vorbei. Unterschreiben Sie umgehend, und verlassen Sie die Stadt.«

Lord Elgin trat zurück und ließ den Vorhang los.

Sichtlich verblüfft ging er langsam zu seinem Stuhl. »Geben Sie mir eine Feder«, sagte er schließlich. Sobald er sie in der Hand hielt, tauchte er die Spitze in die Tinte und setzte im Namen der Königin seine Unterschrift auf das Papier.

Der zweite Opiumkrieg war zu Ende.