17.

Kalifornien, Nordamerika
Enterprise Corporation
Mercury Building, 2. Etage
28. Juni 2084
Ortszeit: 13.59 Uhr
56 Tage vor dem Esra-Transport

Schon bevor Wilson den Segway PT in seinem Büro stehen sah, hatte er mit leisem Argwohn gespürt, dass ihn jemand erwartete. Seines Wissens benutzte in der Firma nur einer so einen roten Personentransporter, nämlich GM, und das vergrößerte sein Misstrauen.

Der Schreibtischsessel stand nach hinten gedreht, aber Wilson war sicher, wer darin saß. »Sehr erfreut, GM«, grüßte er.

Der alte Mann drehte sich langsam mit dem beigefarbenen Ledersessel herum, indem er die Elfenbeinspitze seines Gehstocks gegen den Fußboden stemmte. »Normalerweise würde ich Sie zu mir rufen lassen«, war seine Antwort. »Mein Büro ist viel schöner als Ihres.« Er hatte immer schon eine gewisse Arroganz gezeigt. »Mein Besuch überrascht Sie also, nehme ich an?«

Wilson lächelte. »Nicht mehr als andere Dinge. Die Welt verändert sich ständig, GM.« Er drehte sich einmal um seine Achse, weil er überzeugt war, Jasper in einer Ecke lauern zu sehen, doch dieser war nicht da, und das war zweifellos eine Überraschung. »Wo ist Ihr Schatten?«, fragte Wilson. Es war das erste Mal, dass er Großvater und Enkel nicht zusammen sah.

»Jasper muss sich um wichtige Geschäfte kümmern«, antwortete GM. Dann musterte er Wilsons unrasiertes Gesicht und die langen Haare. »Wenn das kein interessanter Anblick ist.«

»Die Nachlässigkeit gefällt mir«, meinte Wilson. »Das nimmt diesem albernen Anzug ein bisschen die Strenge. Aber lassen Sie mich raten: Jasper lässt ein Porträt von sich machen, damit er es in die Kantine hängen oder der Belegschaft zu Weihnachten mailen kann.«

»Sie haben ihn noch nie sonderlich gemocht«, sagte GM nachdenklich. Er trug einen Dreiteiler von Brioni, dunkelgrau mit Webstreifen. Die Krawatte war cremefarben, ebenso das Einstecktuch in der Brusttasche. Seine schwarzen Schnürschuhe mochten aus Krokodil- oder Schlangenleder sein; das war schwer zu sagen.

»Ich bin mit meinen Bekannten sehr wählerisch«, erwiderte Wilson.

»Er ist ein sehr mächtiger Mann. Und seine Aufgabe ist es nicht, sich überall beliebt zu machen.«

»Ich schätze, beliebt zu sein ist ihm nicht so wichtig.«

GM senkte den Ton. »Mr. Dowling, mir ist völlig klar, dass Sie seit über einem Jahr versuchen, gefeuert zu werden. Sie brauchen mich also nicht weiter zu provozieren. Sie sind nur noch hier, weil es in Ihrem Vertrag die Aufseher-Klausel gibt, und wenn dieses Unternehmen abgeschlossen ist, können Sie wie vereinbart mit Ihrem ganzen Geld gehen.«

»Ich kann es kaum erwarten.«

GM sah blass und zerknittert aus, noch mehr als auf dem Podium im Hörsaal vor einer Woche. Vielleicht lag es an der Bürobeleuchtung, doch Wilson konnte spüren, dass sich die Gesundheit des alten Mannes noch weiter verschlechtert hatte. Er war im Gesicht schmaler geworden, und die Haut an Hals und Händen sah dünn und durchsichtig aus wie Reispapier. Seine Augen waren gelblich, was angesichts seiner ständigen Bluttransfusionen ungewöhnlich war. Trotzdem war Wilson in seiner Gegenwart wie immer nervös und auf der Hut; es war so ein Gefühl in den Eingeweiden, als könnte der Alte ein Gemetzel lostreten … oder auch für ein Wunder sorgen. Von ihm ging ein unberechenbarer Tatendrang aus, den man spüren konnte. Wilson hatte sein Leben lang Leute beobachtet und war zu dem Schluss gekommen, dass GM ein außergewöhnlicher Charakter war. Es war nicht sein Reichtum oder seine Macht, was ihn aus der Masse heraushob, auch nicht seine Kleidung. Es war der Mann selbst und diese eigentümliche Energie – und diese wissenden Augen voller Zielstrebigkeit, Konzentration und Leidenschaft für das Leben.

»Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mich nicht so eingehend mustern würden«, sagte GM und zeigte mit dem Stock auf seinen Mitarbeiter.

Wilson fühlte sich ertappt. »Sie sehen gut aus.«

»Lügen Sie mich nicht an, Mr. Dowling«, entgegnete GM. »Alberne Schmeicheleien kann ich nicht leiden.«

»Es ist komisch, aber manchmal sage ich das Gegenteil von dem, was ich denke«, entgegnete Wilson. Im Nachhinein wirkte selbst diese Bemerkung wie ein alberner Fauxpas. Wilson hob kapitulierend die Hände. »Bitte, bringen Sie mich zum Schweigen. Es ist nicht meine Absicht, respektlos zu sein.«

»Sie sind ein sehr interessanter Mann«, meinte GM darauf. »Bald wird Jasper das Unternehmen leiten. Bei ihm müssen Sie vorsichtiger sein – er ist nicht so nachsichtig wie ich.«

»Esra wird bis dahin vorbei sein, GM, und dann bin ich nicht mehr hier.«

»Ganz recht«, sagte GM, als hätte er das nicht bedacht. »Und wie laufen die Vorbereitungen?«

»Das müssen Sie Davin fragen.«

GM legte seinen Stock quer über die Armlehnen des Schreibtischsessels. »Ich frage aber Sie.«

Wilson überlegte sich seine Antwort gut. »Die Dinge laufen nach Plan. Randall Chen wird am 23. August transportiert.«

»Wie kommt der junge Mann mit dem Druck zurecht?«

Wilson holte tief Luft. »Die Aufgabe ist sehr komplex.«

»Was soll das heißen?«

»Sie ist anders als meine damals. Da ging es um ein technisches Problem. Etwas war kaputt, und ich musste hin und es reparieren. Diesmal geht es um Menschen und ihre Ambitionen beim Zusammenstoß von drei mächtigen Kulturen: Da wäre der chinesische Adel, also die wohl dekadentesten, privilegiertesten Leute des 19. Jahrhunderts, dann das britische Militär, die fraglos selbstgerechtesten Eroberer aller Zeiten, und drittens das stolze Kriegervolk aus dem Norden, die Mongolen, bei denen hinsichtlich ihrer Tapferkeit und Aufgeblasenheit so schnell keiner mithält.« Wilson zögerte. »Alle drei muss Mr. Chen manipulieren. Er muss eine alliierte Streitmacht lenken, damit sie nacheinander die Verteidigungsanlagen der Qing erobert, bis sie vor den Mauern Pekings steht. Und dabei muss er die Kontrolle behalten, um zu verhindern, dass die Verbündeten zum tödlichen Schlag ansetzen und die Verbotene Stadt einnehmen.« Wieder zögerte er. »Das ist eine schwierige Aufgabe. Auf Menschen einzuwirken ist heikel.«

»Und welche Folgen hat es, wenn er versagt?«, fragte GM.

Nur sieben Menschen wussten von diesem Unternehmen – und man konnte mit Recht behaupten, dass die Meinungen zu dieser Frage weit auseinandergingen. Der Esra-Text äußerte sich hinsichtlich der Lebenskraft von Mutter Natur und des Quellorts ihrer Energie sehr vage. »Das kann ich nicht mit Sicherheit sagen, GM. Ich kann nur vermuten, dass Versagen negative Auswirkungen auf den Betrieb des Planeten hätte. Sie haben den Auftragstext sicherlich ebenso gelesen wie ich. Er ist da äußerst ungenau.«

»Das ist wahr.« In Wirklichkeit war GM vollkommen im Bilde. Mit Andres Hilfe hatte er den Dekodierungsprozess manipuliert und wusste genau, was diese Lebenskraft war und wo sie sich befand. »Ich hätte trotzdem gern Ihre Einschätzung«, sagte er.

Professor Author hatte ein Jahr lang darüber spekuliert, und Wilson konnte mühelos antworten. »Dürren, extreme Temperaturschwankungen, Stürme. Missernten, Heuschreckenplagen, Erdbeben. Ozonprobleme, Treibhauseffekt, Erderwärmung. Alles ist denkbar. Aber wenn es richtig melodramatisch klingen soll, könnte man vorhersagen, dass die vier Jahreszeiten in ein wahlloses Durcheinander übergehen – möglicherweise ausgelöst von einer Veränderung der Erdbahnschwankungen. Innerhalb eines kurzen Zeitraums würde alles pflanzliche Leben sterben und somit auch alles tierische.«

»Eine interessante Interpretation«, meinte GM, offenbar sorgfältig auf seine Wortwahl bedacht. »Und was glauben Sie, worin diese Lebenskraft besteht?«

»Sie hat mit der Verbotenen Stadt zu tun«, antwortete Wilson. »Mehr weiß ich nicht. Die Chinesen sind anscheinend ihre Bewahrer. Solange sie die Verbotene Stadt regieren, ist Mutter Natur wohl geschützt. Aber das wissen Sie ja. Warum fragen Sie mich?«

»Ihre Gedanken interessieren mich. Die Chinesen und ihre mandschurischen Vettern haben zweifellos die höchstentwickelte Kultur ihrer Zeit gehabt«, sagte GM, als wäre dies das entscheidende Thema.

»Zweifellos«, bestätigte Wilson. »Chinesische Weisheit und chinesische Medizin sind selbst heute noch in der ganzen Welt hoch angesehen. Doch nach allem, was ich weiß, gehören die Chinesen auch zu den grausamsten und korruptesten Völkern der Geschichte.«

»Das mag richtig sein, aber wenn mein Akupunkteur nicht wäre, hätte ich seit zwanzig Jahren keinen Sex mehr«, sagte GM. »Sie wissen offensichtlich, was sie tun.«

Wilson grinste. »Dann hoffe ich, dass Sie noch weitere 120 Jahre Sex haben.«

»Das wäre schön.«

Wilson sah an seinem Blick, dass das nicht der Fall sein würde. Darum wartete er ab, was passierte, damit er endlich erfuhr, warum der mächtigste Mann der Welt unangekündigt und ohne Begleitung in seinem Büro aufgekreuzt war. Eine Minute lang herrschte gespanntes Schweigen, während sich die Männer ansahen und dachten, der andere würde als Erster das Wort ergreifen.

Nachdem Wilsons Unbehagen immer größer wurde, lenkte er ein. »Sie müssen mir sagen, warum Sie hier sind.«

»Ich brauche Ihre Hilfe.« GM trommelte mit dem Daumen auf dem Griff des Gehstocks, der die Form eines Flamingos hatte. »Ich will nur aus einem Grund noch bis zum Ende des Jahres durchhalten – damit Esra zu Ende geführt wird.«

»Freut mich zu hören, aber warum kommen Sie damit zu mir? Esra ist Davins und Andres Aufgabe. Ich helfe nur ein bisschen.«

»Die sind Wissenschaftler, Mr. Dowling. Sie werden dafür sorgen, dass die Systeme fehlerfrei arbeiten. Woran ich wirklich interessiert bin, ist Erfolg.«

»Randall Chen ist Ihr Aufseher«, sagte Wilson möglichst überzeugend. »Ich denke, er wird seine Sache ausgezeichnet machen.«

»Hier geht es um mehr, als man auf den ersten Blick meint«, bekannte GM.

Wilson lag ein Scherz auf der Zunge, um die Spannung zu brechen, doch das wagte er nicht. »Was heißt das?«

»Sind Sie vertrauenswürdig?«, fragte GM.

»Der Zugang zu geheimen Dingen ist mir verwehrt, falls Sie das meinen. Aber ich kann Ihnen sagen, was ich gesehen habe. Zuerst waren Sie und Jasper gegen Esra. Sie dachten, eine Zeitreise würde die Firma in Gefahr bringen. Dann haben Sie sich verblüffenderweise doch noch mit allem einverstanden erklärt. Nach Jaspers damaligem Gesichtsausdruck zu urteilen, hat er nur gezwungenermaßen zugestimmt. Was sagt mir das? So wie ich Sie kenne, ist das soziale Gewissen nicht Ihre stärkste Antriebskraft. Sie haben sich die Zeit genommen, den Auftragstext zu lesen, und dabei ist Ihnen etwas ins Auge gesprungen. Es kann nicht anders sein.«

Der alte Mann schmunzelte zum ersten Mal. »Ich verstehe, warum Barton Sie gut leiden konnte.«

»Warum unterstützen Sie diese Mission?«, fragte Wilson.

GM zögerte, dann sagte er: »Ich sterbe, Mr. Dowling. Meine Ärzte haben mir mitgeteilt, dass ich keine sechs Monate mehr zu leben habe. Ich habe eine seltene Blutkrankheit, die man nicht heilen kann. Selbst mein Akupunkteur sagte mir gestern, dass niemand ewig lebt.«

»Das tut mir leid. Das ist keine gute Neuigkeit.«

»Ich bin kein Mann, der gern verliert«, sagte GM sofort. »Doch das Spiel um meine Sterblichkeit scheine ich nicht gewinnen zu können. Das habe ich jedenfalls geglaubt, bis ich den Auftragstext gelesen habe.«

Wilson konnte sich das Lachen nicht verkneifen. »Diese Aufträge sind sehr wichtig, GM. Nein, das trifft es nicht annähernd. Sie regeln den Betrieb unseres Planeten. Das habe ich mit eigenen Augen gesehen. Die Schumann-Resonanz wirkt und hat schon Menschen den Tod gebracht. Ich habe keine Ahnung, was Sie vorhaben, aber ich rate Ihnen, es zu vergessen, die Dinge so zu lassen, wie sie sind, und Ihre ganze Kraft in das Gelingen dieser Mission zu stecken.«

»Das kann ich nicht«, sagte GM. »Es steht zu viel auf dem Spiel … mein Leben.« Er sah Wilson traurig an. »Wenn der Auftrag erledigt ist, möchte ich, dass Mr. Chen mir etwas aus der Vergangenheit mitbringt. Nichts Schwieriges.«

»Was soll er Ihnen mitbringen?«

»Nur eine Phiole mit Flüssigkeit.«

»Was für Flüssigkeit?«

»Ein Lebenselixier.«

Wilson lief es kalt über den Rücken. »Woher kommt es?«

GM war nicht bereit, diese Informationen so einfach preiszugeben. »Darum muss ich wissen, ob Sie vertrauenswürdig sind.«

»Das bin ich«, sagte Wilson ganz entschieden. »Wenn Sie mir sagen, woher es stammt, kann ich Ihnen verraten, ob es transportiert werden kann.«

»Es kann transportiert werden«, behauptete GM zuversichtlich. »Darüber brauchen Sie sich keine Gedanken zu machen.«

»Mit diesem Elixier wollen Sie am Leben bleiben?«

»Sicher weiß ich das nicht. Aber ohne bin ich ein toter Mann. Und ohne mich wird es kein Unternehmen Esra mehr geben. Sehen Sie es so, Mr. Dowling: Sie helfen mir, ich helfe Ihnen. Eine simple Abmachung mit gutem Ausgang. Jasper will Esra nicht fortsetzen, aber ich. Scheinbar sind wir beide in unserer Beziehung an einen Scheideweg gelangt. Und kann man es ihm verübeln? Er will nicht, dass ich meine Krankheit überlebe. Er hat auf den rechten Augenblick gewartet und meint, der Tag sei endlich gekommen.«

Eine Ironie mit Poesie. In der Vergangenheit löste der Tod des Kaisers Hsien Feng in der Verbotenen Stadt ein Chaos aus, ein Machtgerangel mit Cixi auf der einen und Su Shun auf der anderen Seite. Und hier bei Enterprise Corporation war die Situation nun nicht anders. Jasper stand auf der einen, GM auf der anderen Seite, und GM klammerte sich an die Hoffnung, seine schwindende Gesundheit wiederherzustellen und bis in alle Ewigkeit weiterzumachen. In beiden Situationen, der vergangenen und der gegenwärtigen, hatte die Schwäche des Anführers ein Machtvakuum geschaffen, das andere verführte, alles zu tun, um ihr Ziel zu erreichen: den Titel des unbestrittenen Führers und die Vorteile, die damit verbunden waren.

»Ich brauche Ihre Hilfe«, sagte GM. »Sind Sie dazu bereit?«

Es folgte ein langes Schweigen, bis Wilson schließlich antwortete: »Ja, ich werde Ihnen helfen.« Innerhalb weniger Augenblicke hatte Wilson begriffen, dass ihm nichts anderes übrig blieb. »Doch als Ihr Verbündeter verlange ich Ihre uneingeschränkte Zusage, dass die Esra-Mission immer Vorrang hat.«

»Darauf haben Sie mein Wort«, versicherte der alte Mann. »Ich wende mich wieder an Sie, wenn meine Pläne konkreter werden. In der Zwischenzeit machen Sie weiter wie bisher. Mr. Chen muss gut vorbereitet sein. Er muss Erfolg haben, damit ich Erfolg haben kann. Nur so können wir beide gewinnen.«

Sowie GM mit seinem Segway hinausgerollt war, ging Wilson ans Fenster und schaute zum Wald hinüber.

Das kompliziert alles, dachte er.

Die Nachmittagssonne schien durch die Mammutbäume auf die Sträucher und Farne und spielte auf zahllosen Blättern, bevor sich das Licht in der zufriedenen Dunkelheit des Waldes verlor. Die Rinde der Mammutbäume war knorrig und alt; sie hatten schon viele Hundert Winter gesehen. Dagegen waren die jungen Bäumchen und Büsche am Boden hellgrün und strebten leben- und kraftstrotzend aufwärts, dem Licht entgegen. Das war die Natur in ihrer ganzen Schönheit, vielfältig und blühend, direkt vor dem Fenster von Enterprise Corporation. Einen Moment lang hielt er staunend die Luft an. »Mutter Natur« war ein Ausdruck, unter den man alles Leben zusammenfasste, doch der Wald repräsentierte ihn sicherlich am besten.

Es war eben jene Kraft, die das Unternehmen Esra schützen sollte. Es war schwierig zu verstehen, dass alles jenseits des Fensters von einer einzigen Quelle beherrscht oder reguliert wurde, und doch schien es so zu sein. Und das alles war an die Verbotene Stadt und die Chinesen als Bewahrer gekoppelt. Wie das möglich sein sollte, war ihm ein Rätsel, zumindest mit den mageren Informationen, die er gegenwärtig hatte. Eines war jedoch sicher: Das Unternehmen Esra war kein Hirngespinst, Zeitreise war kein Hirngespinst. Die Zukunft hatte eine Verpflichtung gegenüber der Vergangenheit und umgekehrt.

Wilson konnte nicht anders: Er war verärgert über GM, der Randalls Auftrag für seine persönlichen Zwecke ausnutzen wollte. Aber das Gefühl kannte er längst. Die Menschen handelten generell erst einmal aufgrund von Eigeninteressen. Sie handelten, um ihre Lebenslage zu verbessern. Selten taten sie etwas darüber hinaus. GM war in dieser Hinsicht genauso. Es gab also eigentlich keinen Grund, auf ihn sauer zu sein. Und in der gleichen Situation mit der gleichen Macht würde Wilson vielleicht ebenso handeln. Er wollte sich gern einreden, er sei reifer – wenn seine Zeit zu sterben käme, würde er das als natürlichen Kreislauf ansehen und zufrieden und in dem Wissen gehen, dass er ein ehrliches Leben geführt und sein Vermögen durch harte Arbeit und Überzeugung gewonnen hatte.

Er richtete den Blick auf die Scheibe und sah sein Spiegelbild. Da stand er in einer schwarzen Uniform des Mercury-Teams. Ein Anblick, der die meisten Menschen stolz gemacht hätte, doch er fand ihn ernüchternd. Eigeninteresse war die Triebkraft von allem, erkannte er. Wem wollte er etwas vormachen? Würde man ihm die Möglichkeit geben, würde auch er alles tun, um zurückzubekommen, was er verloren hatte. Denn es gefiel ihm ganz bestimmt nicht, was aus ihm geworden war, und jeder andere Platz auf der Welt erschien ihm besser. Vielleicht war es aber auch nur so, dass er Helena vermisste. Doch das wollte er sich im Grunde nicht eingestehen, denn es verdeutlichte nur, wie verkorkst seine Lage tatsächlich war. Er konnte sie nicht wiedersehen – das Zeitreisen gab es nur zu einem einzigen Zweck: für die Erfüllung der Aufträge aus dem Alten Testament.

Du kannst nicht zurück, sagte er sich.

Aus dem Blätterdach des Waldes kam ein kleiner Vogel direkt auf das Fenster zugeflogen. Das braun-weiße Geschöpf war fünfzehn Zentimeter groß und bewegte sich schnell und wendig. Kopf, Schwanz und Flügelränder waren dunkelbraun, die Kehle und Bauchpartie weiß. Das Tier flatterte vor der Scheibe auf der Stelle und sah aus, als ob es sein Spiegelbild betrachtete.

Es war ein Marmelalk, der vom Aussterben bedrohte Seevogel, der in den Mammutbäumen Nordkaliforniens nistete. Er vollführte rasende Flügelschläge. Wilson musste lächeln. Dann drehte das kleine Tier zum Wald hin ab und verschwand.

Wilson hatte soeben ein seltenes Schauspiel der Natur erlebt. Es gab vermutlich nur noch knapp fünfhundert Exemplare weltweit, und eines war gerade auf ihn zugeflogen und vor ihm auf der Stelle geflattert. War das ein Zeichen? Wenn ja, hieß das sicher, dass sich alles wie geplant entwickelte. Jedenfalls wollte er das gern glauben. Aber natürlich konnte es auch das Gegenteil bedeuten.