44.
8 Kilometer nördlich von Peking, China
Sommerpalast, Barockschloss
9. Oktober 1860
Ortszeit: 8.21 Uhr
Unternehmen Esra – Tag 220
Randall bekam einen heftigen Tritt an den Kopf und sah nur noch Sterne. Hilflos lag er auf dem kalten Marmorboden und blutete. Neben ihm hatte sich bereits eine Pfütze gebildet. Unerwartet fiel ihm ein, was Wilson zu ihm gesagt hatte. »Sie dürfen niemals schwanken«, hallte es ihm durch den Kopf.
Der Dragoner versetzte ihm den nächsten Tritt, diesmal gegen die Rippen, dass Randall die Luft wegblieb. Seine Schmerzen waren so stark, dass ihm kurz schwarz vor Augen wurde. Dann bekam er einen Gewehrkolben ins Gesicht, und der Soldat, der das tat, brüllte vor Wut wegen seiner toten Kameraden. Ein zweiter Dragoner trat Randall mit solcher Wucht, dass er auf dem glatten Boden ein Stück rutschte, doch jetzt spürte Randall überhaupt nichts. Es schien, als wären seine Nerven überlastet. Hilflos sah er sich um, während ihm das Blut aus dem Mund sickerte, und entdeckte Captain Gordon in seiner roten Uniform mit dem Abzeichen der königlichen Pioniere am Kragen.
»Helfen Sie mir«, keuchte er. Der bestürzte Gesichtsausdruck des Captains sagte ihm jedoch, dass es wenig gab, was er für ihn tun konnte oder wollte.
Der Corporal der Dragoner spannte den Hahn seines Gewehrs und drückte Randall die Mündung auf die Stirn.
»Dieser Mann war Lord Elgins Berater«, wandte Gordon ein.
»Ist mir scheißegal!«, knurrte der Corporal. »Und wenn er der Kaiser von China ist – er wird dafür bezahlen, was er Jarman angetan hat.«
So fühlt man sich also, wenn man stirbt?, dachte Randall. Unzählige Erinnerungen blitzten in ihm auf, und die Gesichter von Leuten, die etwas zu ihm sagten.
Sie dürfen niemals schwanken.
Tao … Tien … Dee … Gian … Far.
Da ist kein Platz für Angst.
Plötzlich kehrte Randalls Empfinden zurück. Er spürte den kalten Stahl der Gewehrmündung an der Stirn. Und damit kam wunderbarerweise auch seine Kraft zurück. Mit beiden Händen packte er den Lauf und entriss dem Soldaten entschlossen die Waffe.
Eine neue Stärke durchdrang ihn. Er knallte dem Corporal den Kolben an den Kopf, dass es knackte. Der Mann kippte langsam zur Seite und landete bewusstlos am Boden, während Randall auf die Beine kam, das Gewehr herumschnellen ließ und abdrückte. Die Kugel riss den anderen Dragoner von den Füßen und ließ sein Blut an die Wand spritzen.
Mühelos trat Randall Captain Gordon um und griff zugleich sein Schwert vom Boden auf, setzte ihm die Klingenspitze an die Kehle und sagte: »Bringen Sie Lord Elgin meine Nachricht!« Dann spuckte er das Blut aus, das ihm in den Mund gestiegen war.
Die Hand an seine blutende Wunde gedrückt, rannte er zum Fenster. Am anderen Ende des Saales knallte ein Schuss. Die Kugel pfiff an seinem linken Ohr vorbei, als er sich gegen das Fenster warf. Er krümmte sich im Sprung zusammen und brach mit dem Rücken durch Holzstreben und Glas ins Freie.
Mit dem Scherbenregen landete er schwer in einem Rosenbeet und schnellte auf die Füße. Die knorrigen Dornenzweige zerrissen ihm die Uniform. Er durchquerte den Garten und setzte im Hechtsprung über eine niedrige Mauer, tauchte in eines der vielen Bassins, die hüfttief mit eiskaltem Wasser gefüllt waren, rutschte kurz aus, als er hochkam, und watete zum anderen Ende. Inzwischen lief ihm das Blut aus etlichen Schnittwunden an den Händen und im Gesicht.
Hinter sich hörte er Schreie, und jemand schoss. Die Kugel streifte zischend das Wasser. Er erreichte den Beckenrand, rollte sich hinüber auf die weiße Marmorstufe dahinter. Zusammengekrümmt vor Schmerzen lief er auf die dichten Bäume zu, während weiter auf ihn geschossen wurde. Dann, wie aus dem Nichts, näherte sich Hufschlag. Randall schaute nicht einmal, wer da auf ihn zugaloppierte, sondern strebte dem schützenden Wald entgegen.
Zu spät – gleich würde der Reiter bei ihm sein.
Doch kein Bajonett stach ihm ins Fleisch, keine Kugel beendete seine Flucht. Stattdessen wurde er von einem Arm gepackt und mit geübtem Schwung vom Boden hochgerissen. Er sah nur einen grünseidenen Ärmel, während der Reiter ihn in gestrecktem Galopp zum Wald brachte.
Randall konnte sich nicht bezwingen, er schrie vor Schmerzen unter den ständigen Erschütterungen, während die Schüsse hinter ihnen herpfiffen. Der Arm seines Retters drückte ihm auf die Schusswunde, wodurch ihm der Dünndarm eingeklemmt wurde. Randall delirierte fast, als der Reiter endlich hielt und ihn auf den Boden fallen ließ.
Sein Retter, einer seiner Begleiter von der kaiserlichen Garde, sprang vom Pferd, half ihm auf die Beine und hob ihn in den Sattel. »Schnell!«, sagte er mit kratziger Stimme. »Flieht durch das Westtor!« Und mit einem Blick auf Randalls Schusswunde: »Drückt die Hand darauf. Beeilt Euch!«
Randall konnte keinen klaren Gedanken fassen, und so war der Eunuch gezwungen, dem Pferd einen Schlag aufs Hinterteil zu versetzen, damit es davongaloppierte. Dann zog er sein Schwert und lauerte im Unterholz auf Verfolger.
Das Schlachtpony fand auch ohne Randalls Führung mühelos durch den Wald und galoppierte schließlich auf eine weite Ebene. In der Ferne erhoben sich die Yanshan-Berge in ihrer grünen Pracht.
Wie im Traum sah Randall sich über die Große Mauer fliegen, hierhin und dorthin schweben, in Wolken tauchen und wieder hervorkommen und der Großen Mauer folgen, die nach beiden Richtungen Hunderte Kilometer über die Hügelkuppen verlief. Die Mauer wurde gebaut, um die Mongolenhorden fernzuhalten, erinnerte er sich. Hätte sie ihre Aufgabe erfüllt, wäre ich jetzt nicht hier.
Als er wieder richtig zu sich kam, sah er den Sattel vor sich. Seine Hosen waren bis zu den Knien blutgetränkt. Seine Hände waren zerschnitten und von Dornen aufgerissen. Ihm wurde schlecht, und er spuckte Blut. Dabei fragte er sich, ob er es überhaupt bis zur Verbotenen Stadt schaffen würde.