30.
Kalifornien, Nordamerika
Del Norte State Park
Huntingdale Pass
21. Juli 2084
Ortszeit: 9.30 Uhr
13 Tage vor dem Esra-Transport
Das schrille Klingeln des Telefons unterbrach die Stille des Schlafzimmers. Widerstrebend drehte Wilson sich im Dunkeln um und drückte auf einen Knopf neben dem Bett. Der Apparat klingelte weiter, sogar noch ein bisschen lauter, während drei Glaswände langsam ihre Undurchsichtigkeit verloren und von dem einsamen Berghang aus einen Panoramablick auf den Pazifik gewährten. Es war ein klarer, windiger Morgen, das Wasser strahlend blau, und die Sonne glitzerte auf Millionen weißer Schaumkronen, so weit das Auge reichte.
Nachdem Wilson einen Schluck getrunken hatte, befahl er: »Anrufer nennen.«
»Randall Chen«, antwortete eine Computerstimme.
Die Sonne flutete in den Raum, und Wilson spürte ihre Wärme auf der Haut. »Annehmen, Bildschirm aus«, befahl er, und der Kontakt war hergestellt. »Morgen, Randall, was gibt’s?«
»Le Dan wurde aufgefordert, Enterprise Corporation zu verlassen«, berichtete dieser hastig. »Nach dem Training heute früh kam ein Firmenmarshal zu uns und teilte mit, dass Le Dan bis Mittag das Gelände zu verlassen habe. Angeblich sei er ein Sicherheitsrisiko.«
Wilson war noch groggy vom vergangenen Abend. Er sah auf die Nachttischuhr. Er hatte nur fünf Stunden geschlafen.
»Lassen Sie nicht zu, dass er abreist«, sagte Randall ernst. »Ich brauche ihn jetzt mehr denn je.«
»Haben Sie schon mit Davin gesprochen?«
»Ich komme nicht an ihn heran.«
Wilson überlegte kurz, dann sagte er: »Ich werde mit Jasper reden. Ich bin sicher, das ist nur ein Missverständnis.« GM wollte er nicht anrufen, weil er ihm damit vielleicht einen Vorwand lieferte, an Randall heranzutreten. Blieb also nur Jasper. »Wann sind Sie gestern Abend gegangen?«, fragte er.
Kurz blieb es still am anderen Ende der Leitung. »Tja, um ehrlich zu sein, ich war noch gar nicht im Bett.«
»Sie haben überhaupt nicht geschlafen?«
»Ich war mit Claudia zusammen, bis mein Training anfing.«
»Ich hatte gehofft, Sie würden das nicht sagen.«
»Mir ist klar, was in den nächsten Wochen von mir verlangt wird«, erwiderte Randall. »Sie brauchen also nicht ärgerlich zu werden – ich weiß, ich hätte gestern vernünftiger sein sollen.«
»Ihr Transport soll bald stattfinden.« Früher als Sie denken, dachte Wilson. »Es ist wirklich wichtig, dass Sie auf sich Acht geben. Sie müssen körperlich in guter Verfassung und geistig ausgeglichen sein. Wenn Sie wieder zurück sind, können Sie so viel feiern, wie Sie wollen.«
»So wie Sie?«, fragte Randall. »Es hat mich überrascht, wie Sie sich gestern Nacht gehen ließen. Sie haben mehr getrunken, als ich zählen konnte.«
»Das war eine Ausnahme«, erklärte Wilson, der an dem dumpfen Hämmern in den Schläfen merkte, dass er es übertrieben hatte. »Dafür bin ich als Erster gegangen.«
»Der Professor gleich nach Ihnen«, erzählte Randall. »Minerva hat ihn begleitet. Lara ging dann auch. Sie machte ein unglückliches Gesicht, als Sie plötzlich weg waren.«
Der Name Minerva versetzte Wilson einen Stich. Ihm war nicht ganz klar, warum, doch das hatte etwas zu bedeuten. »Na dann hoffen wir mal, dass der Professor Glück hatte«, zwang sich Wilson zu sagen.
»Ich möchte nicht zynisch klingen«, fuhr Randall fort, »aber ich hatte den starken Verdacht, die Mädchen haben sich sehr angestrengt, um nett zu uns zu sein. Meiner begrenzten Erfahrung nach sind schöne Frauen normalerweise nicht so entgegenkommend.«
»Ich weiß, was Sie meinen.«
»Claudia hat mich nicht einmal gefragt, was ich beruflich mache. Ich war noch nie mit einer aus, die das nicht wissen wollte. Sie wollen immer einschätzen, ob ich ihren Ansprüchen gerecht werden kann – Claudia nicht.« Er schwieg einen Moment lang. »Entweder wusste sie schon alles, oder man hat ihr gesagt, sie soll nicht fragen. Das ist meiner Ansicht nach die einzige Erklärung.«
Wilson setzte sich in seinen Kissen auf und trank noch einen Schluck Wasser. »Jasper könnte sie geschickt haben, damit sie uns im Auge behalten. Schließlich arbeiten sie alle drei für ihn.«
»Meinen Sie, Claudia könnte etwas damit zu tun haben, dass Le Dan aufgefordert wurde, abzureisen?«
»Haben Sie ihr erzählt, dass Sie zum Training zu ihm gehen?«
»Seinen Namen habe ich nicht erwähnt, nur dass ich trainieren gehe.«
»Und dann sind Sie gegangen?«
»Ja.«
»Und wo haben Sie sich von ihr verabschiedet?«
»Na ja …« Randall wirkte plötzlich sehr zaghaft. »In ihrer Wohnung in der Stadt, nackt auf dem Sofa.« Er lachte verlegen.
»Sie haben sie nackt auf dem Sofa zurückgelassen?«
»Ich hatte Le Dan versprochen zu kommen!«, erklärte Randall. »Darum habe ich gestern nicht viel getrunken. Um die Wahrheit zu sagen, sie war bestimmt nicht sehr glücklich, dass ich die ganze Nacht lang auf die Uhr gesehen habe.«
»Kann ich mir auch nicht vorstellen.«
»Wissen Sie, bei näherer Überlegung war das alles viel zu einfach. Ich hatte den Verdacht, dass sie mich manipulieren wollte, schob mein Gefühl aber beiseite, weil ich so viel Spaß hatte. Aber eines kann ich sagen: Die Dynamik war anders als bei allen Frauen, mit denen ich vorher zusammen gewesen bin.«
»Darum heißt es ›man-ipulieren‹. Es scheint nur bei Männern zu funktionieren. Na jedenfalls sollten wir auch bei den Mädchen die Unschuldsvermutung gelten lassen. Wir können nicht beweisen, dass sie an einer Verschwörung beteiligt sind – und es ist immerhin möglich, dass wir ein bisschen paranoid sind.«
»Ich will nicht anmaßend klingen, aber Minerva und der Professor passen eigentlich nicht zusammen«, gab Randall zu bedenken. »Ich meine, er ist ein großartiger Kerl, aber wohl kaum ihr Typ. Eine Weile dachte ich, sie hätte etwas für Sie übrig – nach der Art, wie sie Sie angesehen hat –, aber dann haben Sie beide den ganzen Abend nur gestritten.«
»Ich denke, am besten geben wir uns mit den Mädchen erst wieder ab, wenn Sie von Ihrer Reise zurück sind. Unabhängig davon, was ihre wahren Absichten sind, ist es besser, erst mal einen weiten Bogen um sie zu machen.«
»Da haben Sie recht«, sagte Randall. »Wissen Sie, wenn ich auch nur einen Augenblick dächte, dass meine Nacht mit Claudia etwas mit Le Dans Rauswurf zu tun hat, wäre ich wirklich wütend.«
»Halten wir uns an das Positive«, schlug Wilson vor. »Ich werde Jasper anrufen und die Sache mit ihm besprechen.«
»Danke, Wilson. Ich bin Ihnen wirklich dankbar.«
»Ich melde mich sofort, wenn ich weiß, was los ist. Und Randall, ich möchte, dass Sie sich eines überlegen: Es könnte eine wichtige Lehre in dem stecken, was gestern Abend passiert ist. Es ist nicht leicht, eine Manipulation zu erkennen, wenn man selbst das Ziel ist. Ich meine, Sie sollten sehr sorgfältig darüber nachdenken, was sich abgespielt hat und warum. Wir werden später noch darüber sprechen, inwieweit Ihnen das bei dem Bevorstehenden helfen könnte.«
Er hatte mit Randall vereinbart, die Zeitreise oder den Esra-Auftrag niemals am Telefon zu erwähnen. Nur persönlich und nur im Mercury Building durfte darüber gesprochen werden.
»Ich werde mir ein paar Gedanken machen«, versprach Randall. »Sie haben recht, die Sache könnte nützlich sein.«
»Ich rufe Sie an«, sagte Wilson und legte auf.
Er stieg aus dem Bett und ging ans Fenster, um das Bild des wolkenlosen Morgens in sich aufzunehmen. Von seinem Haus aus hatte er freien Blick auf den Wald und den sauberen Strand der nordkalifornischen Küste. Kurz kehrten seine Gedanken zu Minerva zurück. Ob er sie leiden konnte oder nicht, er musste an sie denken und überlegte, ob sie an diesem Spiel der Täuschungen, das sich nach dem gestrigen Abend als Verdacht aufdrängte, beteiligt war. Er hoffte, dass sie hinterher nicht mit zu Author gegangen war, und wollte es auch nicht annehmen. Allerdings nicht, weil er seinen Freund schützen wollte, sondern aus ganz egoistischen Gründen. Minerva hatte etwas an sich, das er attraktiv fand. Natürlich war sie schön, aber das war es nicht, was ihn anzog. Sie strahlte eine unabhängige Stärke aus, die ihn an Helena erinnerte, und sie war ihr auch geistig ähnlich. Er schüttelte den Kopf, wie um den Gedanken abzuschütteln.
Er ging ins Ankleidezimmer, zog sich eine Trainingshose und ein weißes T-Shirt über, dann Socken und Joggingschuhe. Er wollte angezogen sein, wenn er mit Jasper telefonierte. Bei einem Blick in den Spiegel stellte er fest, dass er wie ein absolutes Wrack aussah: zerzaust, unrasiert, mit Augenringen.
»Verbindung zu Jasper Tredwell, Vorstand«, rief er. »Bildschirm aus.«
»Die Verbindung wird hergestellt«, sagte die Computerstimme.
Nach zwei Sekunden meldete sich eine Frau. »Was kann ich für Sie tun, Wilson?«
»Minerva. Sie hätte ich ja gar nicht erwartet.« Er gab sich Mühe, gelassen zu klingen.
»Ich bin Jaspers Assistentin«, erwiderte sie. »Was haben Sie geglaubt, wer abnimmt?«
»Ich möchte sofort mit ihm sprechen«, sagte Wilson. »Ist er verfügbar?«
»Tut mir leid, er hat Besprechungen bis heute Nachmittag. Kann ich Ihnen anders weiterhelfen?«
»Es ist dringend. Sehen Sie zu, dass er mich so bald wie möglich anruft.«
»Das geht nicht vor drei. Ist das für Sie in Ordnung?«
»Ich muss bis Mittag mit ihm gesprochen haben.«
»Tut mir leid, Wilson. Vor drei ist er nicht verfügbar.«
»Hören Sie, bringen Sie ihn einfach dazu, mich anzurufen, Minerva«, forderte er scharf.
Einen Moment lang war es still. »Habe ich Ihnen etwas getan?«, fragte sie.
Wilson machte drei große Schritte über den Schieferboden seines Schlafzimmers, ehe er antwortete. »Nicht im Geringsten. Es gibt nur eine dringende Angelegenheit, die ich nur mit ihm besprechen kann, das ist alles.« Er hatte schon für sich beschlossen, Le Dan in seine Wohnung umzusiedeln. Dort würde er zusammen mit Randall warten, bis die Sache geklärt war.
»Wilson, darf ich Ihnen einen Rat geben?«, fragte Minerva.
»Nur, wenn Sie glauben, dass er mir hilft«, antwortete er abweisend.
»Wenn Sie mit Jasper etwas Wichtiges zu bereden haben, sollten Sie das persönlich tun. Meiner Erfahrung nach ist er sonst viel mehr geneigt, Ihr Anliegen abzulehnen. Das habe ich in den zwei Jahren, die ich für ihn arbeite, beobachten können.«
»Sollten Sie mir das wirklich raten?«, fragte Wilson.
»Es ist meine Aufgabe, Ihnen zu helfen«, antwortete sie. »Also, soll ich Sie für drei Uhr zur Besprechung eintragen, oder soll ich einen Anruf arrangieren?« Dann fügte sie hinzu: »Ich werde nicht hier sein, Sie brauchen also keine Angst zu haben, Wilson.«
»Angst wovor?«, wollte er fragen, doch das würde bloß ausweichend klingen. Darum sagte er: »In dem Fall bin ich für die persönliche Besprechung.«
Ehe er auflegen konnte, sagte sie: »Nur noch zwei Dinge, Wilson. Bitte versuchen Sie, diesmal pünktlich sein. Und bitte geben Sie ihm nicht die Hand.«
»Wird gemacht«, sagte er und legte auf.
Er ging zum Bett und ließ sich auf das zerdrückte Laken sinken. Die Situation war anscheinend nicht so leicht zu begreifen. Was hätte Barton mit diesem Schlamassel getan?, überlegte er. Doch er kannte die Antwort schon. Barton würde das Projekt noch schneller vorantreiben. Das beseitigte viele Unbekannte, und das war das Wichtigste. Wilson gab es nur ungern zu, aber Jaspers Plan, den Start vorzuverlegen, schien goldrichtig sein.
Wilson drehte den Kopf und betrachtete das große abstrakte Ölgemälde, das über seinem Bett hing. Es war düster, viel Dunkelgrau und schweres Braun, nur wenige Lichtpunkte in der Mitte. Er hatte es in einer New Yorker Kunstgalerie entdeckt und sofort an sein Transporterlebnis denken müssen, an die Farben und Bilder, die im Augenblick seiner Reise aus der Zukunft in die Vergangenheit seine Gedanken überschwemmt hatten. Er kaufte das Gemälde damals, um niemals das geistige Chaos zu vergessen oder das Gefühl, wie die fünf Terawatt-Partikelzerstäuber auf ihn feuerten, während er in der Transportkapsel stand. Er dachte an den unerträglichen Schmerz kurz bevor er in einen bodenlosen Abgrund stürzte; Sekunden erschienen wie Stunden oder vielleicht auch umgekehrt, da war er sich nicht so sicher. Sein Bewusstsein wurde auseinandergerissen und über die Zeit verteilt wie Butter auf einem Brot, bevor alles von einer wirbelnden Energie wieder aufgesammelt wurde und er bei Rauch und Feuer rekonstruiert wurde.
Es war die Erfahrung seines Lebens gewesen. Und die würde Randall ebenfalls machen.