16.

Kalifornien, Nordamerika
Enterprise Corporation
Mercury-Labor, Untergeschoss A 5
22. Juni 2084
Ortszeit: 10.20 Uhr
62 Tage vor dem Esra-Transport

Jeder, der das Mercury-Labor zum ersten Mal sah, war sprachlos, und Randall erging es nicht anders. Egal wie detailliert die Technik vorher erklärt worden war, man konnte unmöglich darauf vorbereitet sein.

Dieses Labor war die fortschrittlichste wissenschaftliche Anlage der Welt. Die Halle war hell erleuchtet und halb so groß wie ein Hallenfußballfeld. Die schwarze Kuppeldecke war am Rand drei Stockwerke und in der Mitte sechs Stockwerke hoch. Im Falle eines katastrophalen Fehlers – einer Explosion etwa – würde der Raum hydraulisch in sich zusammenstürzen, sodass das Gebäude imstande wäre, eine Druckwelle zu absorbieren, wie sie bei einer nuklearen Explosion entstand.

Aus Sicherheitsgründen befand sich das Labor fünf Stockwerke unter der Erde und hatte ein isoliertes Belüftungssystem. Es bezog seine Energie aus einer Reihe hydroelektrischer Generatoren, die im Süden des berühmten Del Norte State Parks an der Mündung des Klamath standen. Die immense Wasserbewegung der Gezeiten erzeugte mehr als genug Energie, um den gesamten Firmenkomplex zu versorgen.

Die Westwand des Labors bestand aus bombensicherem Glas, dahinter lagen die verschiedenen Kontrollbereiche und Beobachtungsstände. Das war zweifellos das technisch ausgeklügeltste Testgebiet, das je gebaut worden war. Aber noch beeindruckender als die Halle selbst waren die Geräte darin, die nach den Plänen der Qumran-Rollen gebauten Komponenten der Zeitmaschine.

Andre Steinbeck und Wilson Dowling führten Randall und Professor Author durch die Anlage. Andre war ein Bild jugendlicher Ordentlichkeit, wogegen Wilson ein bisschen ungepflegt wirkte; der oberste Jackenknopf stand offen, seine Haare hatten länger keinen Friseur gesehen, und unrasiert war er auch.

Seit sie das Labor betreten hatten, konnte Randall sich nicht vom Anblick der glänzenden Transportkapsel losreißen, die, vom hellsten Scheinwerfer angestrahlt, in der Mitte knapp über dem Boden schwebte. Die glasklare, doppelt mannshohe Kugel war umgeben von drei Titanringen, die wie Hula-Hoop-Reifen aussahen und beim Startvorgang auf komplizierte Weise um deren Oberfläche kreisten. Rings um die Transportkapsel waren fünfundsechzig Laserkanonen – Fünf-Terawatt-Partikelzerstäuber – in unterschiedlichem Winkel montiert, sodass sie alle zur Mitte zeigten. Hoch oben an der fernen Nordwand befand sich das rautenförmige Titangerüst des Inflators.

»Das ist die Imploderkugel«, erklärte Andre und zeigte auf das Gebilde, das Randall so fasziniert betrachtete. »Sie besteht aus einem natürlich gewachsenen Kristall. Da drin werden Ihre Moleküle durch Beschuss aus diesen Laserkanonen auf 297 000 Stundenkilometer beschleunigt.« Andre legte die Hand an einen Laser. »Sie zerlegen die Moleküle mittels einer Kombination aus Schall- und Energiewellen. Die geordnete Sequenz des Beschusses sorgt dafür, dass der Zerlegungsprozess nicht tödlich ist.«

»Sie haben Glück, dass wir das schon an Wilson getestet haben«, bemerkte Author.

Andre bedachte ihn mit einem missbilligenden Blick. »Die Titanringe um die Transportkapsel heißen Inflatorspulen. Wenn sie genau 2,397 Petawatt erreicht haben, rotieren sie in entgegengesetzter Richtung und bilden ein schwaches Magnetfeld, das die Elektronenmaterie in der Kapsel hält und dabei verhindert, dass sie auseinanderbricht.« Andre kniff die Augen zusammen, als ob er in die Sonne linste. »Durch einen plötzlichen Anstieg der Energie bei den Spulen und den Partikellasern beginnt das sogenannte Z-Pinching.« Er ballte veranschaulichend die Faust. »Die Materie in der Kapsel wird stark verdichtet, damit sie plancksche Temperatur erreicht, die Kerne gegeneinanderprallen und ihre Protonen und Neutronen in Teile zerlegt werden, die als Quark-Gluonen-Plasma bekannt sind. Daraufhin steigt die Temperatur auf über zehn Billionen Grad Celsius. Übrigens sind das die gleichen Bedingungen, die eine Mikrosekunde vor dem Urknall geherrscht haben.«

»Und in Ihrem Gehirn gibt’s auch einen Urknall, wenn die Sache schiefgeht«, sagte Author.

»Die Bemerkung ist nicht hilfreich«, erwiderte Andre scharf.

Randall wandte sich an Wilson. »Sie waren sehr mutig, dass Sie da hineingestiegen sind, ohne wirklich zu wissen, ob es funktioniert.«

»Ich habe dem Mann vertraut, der mich hineingesetzt hat«, erklärte Wilson.

»Er hat es für Geld getan«, korrigierte Author augenzwinkernd. »Jeder weiß das.«

»Sie müssen mir erzählen, warum Sie sich dazu bereit erklärt haben, Wilson«, fuhr Randall fort. »Es widerstrebt meinem Instinkt, in diese Kapsel zu steigen, obwohl ich mit Wohlwollen sehe, dass Sie die Reise überstanden haben.«

»Wenn Sie Barton Ingerson gekannt hätten, den ehemaligen Leiter unseres Teams, wäre Ihnen klar, warum ich es getan habe.«

»Nur wegen des Geldes«, raunte der Professor hinter Randall.

»Darf ich fortfahren?«, fragte Andre gereizt. Er deutete auf die Transportkapsel. »Legen Sie bitte die Hand darauf.« Randall ging zu der funkelnden Kristallkugel und fasste sie behutsam an. »Was spüren Sie?«, fragte Andre.

»Wärme«, antwortete Randall.

»Auch die Vibration?«

Randall schüttelte den Kopf.

Wilson drückte ebenfalls die Handfläche darauf und spürte es sofort.

»Sie fühlt sich warm an«, wiederholte Randall.

Wilson runzelte die Stirn. Wieso nahm Randall die Schwingungen nicht wahr?

»Wenn die Temperatur darin steigt«, erklärte Andre weiter, »oszilliert die Kohlenstoffverbindung. Das ist ein Schlüsselelement beim Zeitreiseprozess. Mit der Temperatur des Behälters können wir die Frequenz der Energie im Innern ändern und so die Zeit bestimmen, in die wir Sie schicken. Je höher die Frequenz, desto weiter reisen Sie in die Vergangenheit. Also je heißer der Transportbehälter, desto weiter reisen Sie zurück.«

Andre legte die hohlen Handflächen aneinander. Genauso hatte Barton es vor drei Jahren erklärt, dachte Wilson. »Die Erde ist von einem elektromagnetischen Feld umgeben. Der Zeitreiseprozess findet statt, indem man Energie durch das Magnetfeld schickt. Der Transportbehälter erlaubt uns, Materie in reine Energie umzuwandeln und diese in das Magnetfeld der Erde zu schießen – und zwar dadurch.« Andre zeigte auf das rautenförmige Gerüst, das am Ende der Halle in der Luft hing. Dutzende dicker Stromkabel führten von dort zu einer Reihe Konduktoren. »Diese vier Titanrohre sind stark geladene Magnetpole, die in entgegengesetzter Richtung angeordnet sind. Wenn wir sie mit genügend Energie aufladen –«

»Ungefähr zwanzig Petawatt«, warf Author ein.

»20,491 – um genau zu sein«, fuhr Andre fort, »dann öffnen die gegensätzlich wirkenden Kräfte einen Spalt im Magnetfeld der Erde. Theoretisch ergibt sich ein Wurmlocheffekt. Abhängig von der Frequenz der Energie, die hineingeht – das ist der Zeitpunkt der Rekonstruktion.« Andre drehte sich zu Randall um. »Der Vorgang ist wirklich sehr simpel. Der Collider und der Imploder zerlegen Ihre Materie. Der Inflator und der Differentiator transportieren Ihre Energie mit genau der richtigen Frequenz in das Magnetfeld der Erde.«

»Wie geht die Rekonstruktion vonstatten?«, wollte Randall wissen.

»Dieser Vorgang erklärt sich nicht ganz so exakt«, antwortete Andre hastig. »Aber ich kann Ihnen sagen, was ich weiß. Der Rekonstruktionsprozess scheint auf Gegenstände mit einer signifikanten magnetischen Signatur gerichtet zu sein. Wilson wurde auf dem Dach eines Hochhauses rekonstruiert. Als er in die Gegenwart zurückkehrte, wurde er im Transportportal rekonstruiert. Warum das so war, ist immer noch recht rätselhaft, aber wir vermuten, dass die Energiefrequenz zu ihrem Ursprungspunkt gezogen wird. Zu jeder Aktion gehört eine entgegengesetzte und ebenso starke Reaktion – darum hebt die Rekonstruktion an genau derselben Stelle die Quantenfehlpaarung auf.«

»Es gibt da noch etwas viel Wichtigeres«, sagte Wilson und rieb sich die zwei Tage alten Bartstoppeln. Sein Tonfall erregte Randalls Aufmerksamkeit. »Diese Maschine, auf die Sie blicken, ist mehr als nur Konduktorenbänke, Magnetfelder, Laserkanonen und wissenschaftliche Formeln. Diese Maschine«, er fasste an die Kristallkugel und spürte die Vibration, »ist ein Tor durch Zeit und Raum. Ein Tor, das zu jedem Ereignis und jedem Platz der Geschichte führt. Das Transportsystem funktioniert fehlerfrei – das ist erwiesen –, und ich ermutige Sie, sich allein auf die Aufgabe zu konzentrieren, die Sie zu erfüllen haben. Sie haben jetzt einen Überblick erhalten und hoffentlich ein wenig begriffen, womit Sie es zu tun haben, aber mehr brauchen Sie nicht zu wissen. Die Baupläne für die Zeitmaschine stammen aus dem Buch Esther der Qumran-Rollen, einer Schrift, die über 2300 Jahre alt ist und vielleicht sogar von der Hand Gottes geschrieben wurde. Eine bessere Versicherung gibt es nicht.« Wilson hatte gerade Barton zitiert. »Das Unternehmen Esra gibt erschöpfende Auskunft über die Frequenzen, die für Ihren Transport nötig sind, und über die genetische Struktur des Menschen, der sie benutzen kann. Was Sie, Randall, zuverlässig leisten müssen, ist der erfolgreiche Abschluss Ihres Auftrags. Das ist alles, was zählt. Und der Auftragstext verrät Ihnen alles, was Sie wissen müssen. Andre, Davin und das ganze Team werden dafür sorgen, dass Sie an Ihren Zielort gelangen. Sie sind zweifellos die intelligentesten Leute der Welt, es kann also nichts schiefgehen.«

Es folgte ein längeres Schweigen, während die vier Männer vor der Transportkapsel standen und sich durch den Kopf gehen ließen, was Wilson gerade gesagt hatte.

»Wo werde ich denn rekonstruiert?«, fragte Randall schließlich.

»In Peking«, antwortete Wilson. »Innerhalb der Verbotenen Stadt. An derselben Stelle werden Sie auch den Rücktransport antreten.«

»Wir haben Einzelheiten über ein Transportportal in Peking«, fuhr Andre fort. »In den nächsten Tagen werden Sie Simulationen zu seiner Bedienung erhalten.«

Wilson hatte die Hand an der Kristallkapsel gelassen, und plötzlich wurde ihm schwer ums Herz. Seit seiner Rückkehr hatte es zahllose Gelegenheiten gegeben, bei denen er sich gewünscht hatte, einfach einzusteigen und für immer verschwinden zu können. Seine Tagträume hatten ihn ins Jahr 2012 zurückgeführt, zu der Frau, die er liebte. Doch der Zeitkanal zu ihr war für immer verschlossen, so hatte man ihm gesagt. Und es gab auch zahllose Sicherheitsvorkehrungen, die den Zugang zum Labor Tag und Nacht bewachten. Wilson wusste genau, dass GM und Jasper eine unglaubliche Angst hatten, das Portal könnte benutzt werden, um die Sicherheit der Firma zu untergraben. Und das zu Recht. Das Gefüge des Universums war ein Rätsel und würde es auch immer bleiben. Zeit existierte höchstwahrscheinlich in einer nichtlinearen Dimension. Die Vergangenheit wirkte sich auf die Zukunft aus und darum auch die Zukunft auf die Vergangenheit – durch das Transportportal. Welche Rolle das Schicksal in dem komplexen Geschehen spielte, war noch schwieriger zu definieren.

»Woher werde ich wissen, ob ich das Richtige tue?«, fragte Randall. »Ich werde so viele Entscheidungen ohne Anleitung treffen müssen, und wenn ich etwas falsch mache, können die Auswirkungen entsetzlich sein.«

Wilson fuhr sich durch die Haare. Er hatte vor seinem Transport genau dieselbe Überlegung angestellt. »Es gibt eine weitverbreitete Ansicht, wonach alles im Leben Zufall ist«, sagte er. »Meiner Ansicht nach stimmt das nicht. Alles passiert aus einem bestimmten Grund. Für einen Aufseher gibt es keine Fehler. Was immer Sie in der Vergangenheit tun, wird richtig sein – vorausgesetzt Sie halten sich an die Auftragstexte.«

»Die sind das Allerwichtigste«, bestätigte Professor Author.

»Aber nach welchem Wertesystem soll ich mich richten?« Randall wirkte ein wenig ratlos. »Die Chinesen haben ganz andere Ansichten als wir in Amerika. Ganz zu schweigen von denen der damaligen Zeit. Wenn meine Handlungen meinen Überzeugungen zuwiderlaufen, was dann?«

»Es gibt eine inhärente Ordnung im Universum«, erklärte Wilson. »Ich glaube, dass diese aufrechterhalten bleibt, egal was Sie tun. Manche Dinge werden trotz Ihrer Handlungen eintreten. Wenn ein Mensch sterben soll, wird er sterben. Wenn eine Armee siegen soll, wird sie siegen. Darum können Sie nur tun, was das Universum zulässt.«

»Das Gefüge des Schicksals ist sehr komplex«, fügte der Professor in einer seltenen Anwandlung von Ernst hinzu. »Sie werden wissen, was Sie tun müssen, wenn der Augenblick da ist.«

»Er hat vollkommen recht«, bekräftigte Wilson. »Sie haben das Ergebnis nicht in der Hand, Randall; Sie können nur ermöglichen, dass es eintritt. Barton war davon überzeugt – und er hat in allem anderen recht gehabt.«