Julian blickte auf die Herde Schafe, die, getrieben von zwei schwarz-weißen Border Collies, wie ein Schwarm Vögel hin- und herwogte und allmählich näher kam. Seit sie im Westen der Highlands angekommen waren, hatte er die langhaarigen agilen Hunde schon des Öfteren auf den Ladeflächen der Pick-ups bemerkt, mit denen die Farmer hier unterwegs waren, aber er hatte sie noch nie in Aktion erlebt. Der Mann neben ihm beobachtete schweigend und mit zusammengekniffenen Augen die Arbeit seiner Hunde, während Julian spürte, wie seine Füße langsam in den moorigen Untergrund zwischen Farnen und Heidekraut einsanken, und dankbar war für die Gummistiefel, die ihm sein Begleiter aufgedrängt hatte. Sie waren zu groß und behinderten ihn beim Gehen, aber mit seinem eigenen Schuhwerk würde er mittlerweile knöcheltief im Wasser stehen.
Er wusste nicht, was seine Aufgabe sein würde, wenn die Hunde ihren Auftrag erledigt und die Schafe zu ihnen in den Pferch getrieben hatten, aber der Mann der Hotelwirtin würde ihm schon mitteilen, wie er seine Hilfe benötigte. Das hatte er ihm knapp, aber deutlich zu verstehen gegeben. Julian hatte schnell begriffen, dass Gordon McCullen ungern ein Wort zu viel verschwendete. Was er sagte, war präzise, klar und auf den Punkt. Eine Ansprache, die er sich augenscheinlich auch von den Menschen um sich herum wünschte, sofern man dem Gesichtsausdruck etwas beimaß, mit dem er den Ausführungen anderer lauschte.
Ihre gemeinsame Fahrt war entsprechend einsilbig verlaufen, was Julian die Gelegenheit gegeben hatte, seinen eigenen Gedanken nachzuhängen, während sie am Loch Inchard entlanggefahren waren und schließlich die Straße nach Durness genommen hatten. Die Gegend hier war verlassen. Die inzwischen nur noch einspurige Straße folgte einem langgezogenen, breiten Tal und war so schnurgerade, dass man den spärlichen Gegenverkehr schon von weitem sehen und rechtzeitig eine der Ausweichbuchten ansteuern konnte. In regelmäßigen Abständen lagen alte Reifen am Straßenrand, auf denen in weißer Blockschrift um Rücksicht für die Lämmer gebeten wurde. Zu beiden Seiten erhoben sich sanft ansteigende Berghänge bis auf eine Höhe von etwa 900 Metern. Es gab keine Bäume, kaum Strauchwerk und nur zwei Farben: das schmutzige Graubraun der Landschaft und das helle Blau des Himmels.
Nach ein paar Meilen bogen sie in östlicher Richtung auf einen schmalen Pfad ab, wo McCullen bereits nach wenigen hundert Yards angehalten, ein kleines Fernglas aus dem Handschuhfach genommen und die vor ihnen liegenden Berghänge abgesucht hatte.
»Wie finden Sie Ihre Schafe in dieser Wildnis wieder?«, hatte Julian wissen wollen.
»Wir brennen das Heidekraut ab.«
»Sie brennen das Heidekraut ab? Ich verstehe nicht …«
»Wenn das junge, neue Grün sprießt, lockt das die Schafe an.«
Laura wäre begeistert gewesen. Von dem Mann. Den Hunden. Den Schafen sowieso, die von den völlig selbständig arbeitenden Collies immer näher getrieben wurden. Er stellte sich vor, wie sie die Szenerie mit leicht schräggelegtem Kopf beobachtete, ihre typische Haltung, wenn sie sich auf etwas konzentrierte. Ist das nicht wunderbar ursprünglich? Himmel, ich möchte das lernen!, würde sie dann bestimmt sagen. Diese Vorstellung ernüchterte ihn, und seine Faszination verlor sich schlagartig. Was machte er hier draußen? Wie konnte er tun, als sei nichts geschehen, während Laura …
»Machen Sie sich bereit«, riss McCullen ihn aus seinen Grübeleien. »Schließen Sie das Gatter nach dem letzten Tier.«
Ein Schwall ihrer Ausdünstungen schlug Julian entgegen, als die Schafe sie schließlich erreichten. Ihre Augen mit der schrägstehenden Iris verliehen ihnen trotz ihrer Agilität einen seltsam verschlafenen Ausdruck.
Die letzten Tiere drängten an ihm vorbei, schubsend und blökend. Dort, wo sie Farn und Heidekraut zertrampelt hatten, sammelte sich braunes Wasser in kleinen Pfützen. Mücken stoben auf und waren im nächsten Augenblick wieder verschwunden, ein Stück weiter stieg eine Lerche tirilierend in den Himmel auf. Julian sicherte das Gatter mit einem Stift und trat zur Seite. McCullen war bereits auf dem Weg zu seinem Wagen und kehrte gleich darauf mit einem Sack voller Spraydosen zurück. Eine davon warf er Julian zu. »Wir müssen die Tiere markieren«, wies er ihn an. »Einen Punkt auf den hinteren Rücken.«
Julian stieg über den Zaun. Er besaß keine Scheu vor den Schafen und quetschte sich unbeeindruckt durch die wogende Masse der wolligen Leiber. Das Fell der Tiere war noch kurz, die letzte Schur hatte Ende Juni stattgefunden, das hatte er irgendwo gelesen. Warum McCullen seine Tiere dabei nicht gleich markiert hatte, war eine Frage, die Laura, wenn sie hier gewesen wäre, sofort gestellt hätte. Julian war nicht so offensiv. Er schüttelte seine Spraydose nach McCullens Vorbild, und Augenblicke später schon überdeckte der Geruch des synthetischen blauen Lacks den der Schafe, die ihr speckiges Fell an seinen Hosenbeinen rieben. Er konzentrierte sich auf seine Arbeit und ließ die Tiere dann einzeln wieder aus dem Pferch heraus, damit der Schäfer bei jedem einzelnen die Hufe untersuchen konnte. Die Muttertiere kannten die Prozedur und hielten geduldig still, doch die Jungtiere wanden sich in dem Griff, mit dem Julian sie nach der kurzen Einweisung, die er erhalten hatte, fixierte, und er war überrascht von der Kraft, die er aufwenden musste, um sie zu bändigen. Schweiß trat ihm auf die Stirn, insbesondere da die Sonne heiß auf sie herunterschien. Auch McCullen schnaufte angesichts der Anstrengung. Als das letzte Tier den Pferch verließ und mit lautem Blöken den anderen hinterhersprang, richtete er sich mühevoll aus seiner gebückten Haltung auf und stemmte die Hände ins Kreuz.
»Verfluchte Knochen«, murmelte er.
Julian blickte den entfliehenden Schafen nach, bis sie kurz in einer Senke verschwanden und wieder auftauchten. Dann suchte er das am Boden liegende Werkzeug zusammen und reichte es dem Schäfer, dessen wettergegerbtes Gesicht sich daraufhin das erste Mal an diesem Vormittag zu einem Lächeln verzog. »Im Wagen habe ich eine Kühltasche mit Bier.«
Die Hunde lagen neben ihnen im Heidekraut, als die Männer an den Wagen gelehnt ihre zweite Dose leerten. Die Schafe waren nur noch ein Nebelfetzen, der sich am Hang des nächsten Berges langsam hinaufarbeitete. Julian spürte, wie ihm durch die Anstrengung und das fehlende Frühstück der Alkohol sofort zu Kopf stieg.
»Wann werden Sie die Tiere das nächste Mal zusammentreiben?«, fragte er mit schwerer Stimme.
McCullen schien es nicht zu bemerken. »Im Herbst«, entgegnete er und zerdrückte die Dose in seiner Hand. »Dann verkaufen wir einige der Jungtiere.«
Julian nickte wissend. »Wie lange machen Sie das schon?«
»Seit meiner Kindheit.«
»Kann man davon noch leben?«
McCullen schenkte ihm einen langen schweigenden Blick. »Meinen Sie, Emma würde das Hotel betreiben, wenn wir genug mit den Schafen verdienen würden?«, fragte er dann.
Julian zuckte mit den Schultern. »Vielleicht macht sie es aus Leidenschaft.«
»Hier im Norden arbeiten wir nicht aus Leidenschaft, sondern um zu überleben, und das schon seit mehr als zweihundert Jahren.«
Sie packten zusammen, und eine halbe Stunde später erreichten sie wieder den Parkplatz des Hotels. Dort wurden sie bereits erwartet. Der Kriminalbeamte aus Inverness saß draußen auf einer Bank in der Nachmittagssonne. Als Julian aus dem Wagen stieg, stand er auf und kam ihnen entgegen.
Er war ein gutaussehender Mann mit markanten Zügen und von sportlicher Statur, ein paar Jahre jünger als Julian, vermutlich in Lauras Alter. Er begegnete seinen Mitmenschen mit offenem Blick und einem schnellen Lachen, wie Julian festgestellt hatte, und er hätte ihn vermutlich sofort sympathisch gefunden, wenn sie sich in einer Kneipe bei einem Bier kennengelernt hätten. Aufgrund der Umstände lag jedoch eine spürbare Distanz zwischen ihnen.
»Mr. Tahn«, begrüßte ihn der Mann, »ich habe hier auf Sie gewartet. Wir waren heute Morgen wie angekündigt in der Sandwood Bay.«
Aus dem Augenwinkel bemerkte Julian, wie Gordon McCullen beim Abladen seines Pick-ups innehielt und lauschte.
Julian schluckte. »Und? Haben Sie etwas gefunden?«
»Ja, das haben wir«, entgegnete der Beamte.
»Etwa eine Spur von Laura …?«
Der Mann schüttelte bedauernd den Kopf. »Nein, leider keine Spur von Ihrer Frau.«
Jetzt erst fiel Julian das Bündel auf, das neben dem Beamten auf der Bank lag. Sein Zelt!
Er räusperte sich. »Sie haben das Zelt mitgebracht.«
John Gills – plötzlich war Julian der Name wieder präsent – nickte. »Und auch alles andere, was Sie am Strand zurückgelassen haben.«
Julian lachte nervös auf. »Ich konnte nicht alles tragen, aber das hatte ich Ihnen ja bereits gesagt. Kann ich meine Sachen mitnehmen?«
»Tut mir leid, Sir, wir müssen sie erst kriminaltechnisch untersuchen lassen.«
Julian hatte schon einen Widerspruch auf der Zunge, überlegte es sich dann aber anders, als er bemerkte, wie Gills ihn ansah.
»Ich würde mich gern noch einmal mit Ihnen unterhalten. Vielleicht gehen wir hinein, da haben wir mehr Ruhe«, fuhr Gills mit einem unauffälligen Seitenblick auf Gordon McCullen fort.
Julian wies auf seine verschmutzte Hose. Seine Füße steckten noch immer in den Gummistiefeln, und er konnte sich des Gefühls nicht erwehren, intensiv nach Schaf zu riechen. »Ich würde mich gern umziehen und waschen, wenn es Sie nicht stört, kurz zu warten.«
»Kein Problem«, versicherte ihm Gills. »Sie finden mich im Pub.«
Sie betraten gemeinsam das Hotel, trennten sich aber an der Rezeption, wo Julian die Gummistiefel stehenließ und auf Strümpfen zu seinem Zimmer ging. Er hörte die Tür des Pubs zufallen, und alles, was er in den vergangenen Stunden verdrängt hatte, war plötzlich wieder präsent. Der Beamte wollte das Zelt auf Spuren untersuchen lassen. Angespannt drehte Julian den Zimmerschlüssel in seiner Hand und musste feststellen, dass seine Finger zitterten, als er ihn in das zerkratzte Schloss steckte. Irritiert von der eigenen Schwäche, die sich nicht allein vom Alkohol herleitete, hielt er inne. Er besaß keine Kontrolle mehr, weder über sich selbst noch über die Situation. Langsam zog er sich aus, schob seine schmutzige Kleidung auf einen Haufen neben der Tür und stieg in die altmodische Dusche. Mit den Händen gegen die hellgelben Kacheln gestützt, ließ er sich das heiße Wasser über den Kopf laufen, bis er spürte, dass er ruhiger wurde. Dabei sah er die ganze Zeit über das freundliche, offene Gesicht von John Gills vor sich.