John sah, wie Samantha Merryweathers Augen sich vor Aufregung weiteten und sie nervös schluckte.

Und er spürte, welche Bedeutung die Nachricht, die er soeben erhalten hatte, für ihn hatte. Für die geleisteten Ermittlungen. Für Julian Tahn.

»Und?«, hörte er Samantha Merryweathers Stimme wie von fern. »Ist es …?« Sie konnte es nicht aussprechen.

Langsam, ganz langsam schüttelte er den Kopf. »Es ist nicht Laura Tahn.«

»Gott sei Dank!«, stöhnte sie erleichtert.

Schweigend lehnte er sich gegen die Kopfstütze des Fahrersitzes und schloss die Augen. Und wieder sah er Lauras Bild vor sich, ihren in die Ferne gerichteten Blick, ihr kaum wahrnehmbares Lächeln. Erleichterung durchströmte auch ihn.

Samantha fasste sich als Erste wieder. »Dann könnte es also tatsächlich sein, dass sie noch lebt«, sagte sie hoffnungsvoll. »Aber wo ist sie? Kann man in dieser Gegend verlorengehen? Ist das realistisch? Hätte sie nicht irgendjemandem auffallen müssen, wenn sie noch am Leben ist?«

Gills runzelte die Stirn, als ihm bei ihren Worten Peter Dunns Bemerkung vom Vorabend im Pub wieder in den Sinn kam. Ich hab gefragt, weil ich draußen am Strand war. In Oldshoremore. Und ich hab sie dort nicht gefunden. Er hatte nicht begriffen, was der Alte ihm damit sagen wollte. Jetzt erhielt das Gehörte jedoch Bedeutung, und er erinnerte sich, was über Peter erzählt wurde. Bislang hatte John diese mystischen Geschichten nie ernst genommen.

»Sie machen ein Gesicht, als hätten Sie einen Geist gesehen«, bemerkte Samantha.

»In der Tat«, entgegnete er konsterniert. »So was Ähnliches war es wohl.« Peinlich berührt darüber, dass er scheinbar so leicht zu durchschauen war, warf er einen Blick auf seine Armbanduhr. »Es ist gleich neun. In zwei Stunden können wir in Inverness sein, wenn wir jetzt aufbrechen. Allerdings können Sie dann nicht mehr mit Peter Dunn sprechen.«

Sie veränderte ihre Sitzposition. »Das hat durch diese Wendung meiner Meinung nach deutlich an Priorität verloren.«

»Ihnen ist aber schon klar, dass der Fall nicht abgeschlossen ist, oder?«

»Natürlich ist mir das klar, aber es wird Ihnen schwerfallen, Detective, den Haftgrund für Julian Tahn aufrechtzuerhalten, wenn Sie nicht einmal eine Leiche haben.«

Der unerwartete geschäftsmäßige Unterton ihrer Stimme erinnerte ihn, auf welch dünnem Eis er sich bewegte. »Stehen Sie jetzt wieder auf der anderen Seite?«, fragte er, seine Unsicherheit hinter vorsichtigem Spott verbergend. Er hatte den Chief Inspector nicht davon in Kenntnis gesetzt, dass er die Anwältin seines Hauptverdächtigen mit auf seine Landpartie nahm, denn er hatte sich bei Samantha Merryweather erkenntlich zeigen wollen für ihre Unterstützung. Letztlich war sie diejenige gewesen, die Julian Tahn zum Reden gebracht hatte. Nun konnte er nur hoffen, dass sie sein Entgegenkommen nicht gegen ihn ausspielte.

Zu seiner Erleichterung lächelte sie jedoch sogleich entschuldigend. »Ich war wieder zu harsch, es tut mir leid. Manchmal schieße ich über das Ziel hinaus.« Sein Gefühl sagte ihm, dass ihre Worte ehrlich gemeint waren.

»Okay«, erwiderte er und ließ den Motor an.

Schweigend fuhren sie durch das Hügelland, in dem an diesem Morgen nur durch den Rauch einzelner Torffeuer menschliche Anwesenheit bezeugt wurde. Als sie die letzte Kurve hinter sich ließen und die Mündung des Loch Inchard und Kinlochbervie mit seinem Hafen unter ihnen auftauchte, fragte Samantha: »Sie glauben nicht, dass Laura noch lebt?«

Gills starrte auf die Nebelfetzen, die zwischen den Bergen über dem Wasser hingen. »Ich wünsche mir, dass sie noch lebt«, bekannte er ehrlich. »Aber ich zweifle daran.«

»Warum?«

»Alle Indizien sprechen dafür, dass ihr Mann sie getötet hat.«

Sie schwieg, bis sie den Ortseingang erreicht hatten. »Kann es sein, dass Sie mehr Fakten kennen als ich?«, mutmaßte sie dann.

»Gut möglich«, gab er zurückhaltend zu.

Aus dem Augenwinkel beobachtete er, wie sie abwägend die Lippen schürzte. »Haben Sie … Lauras Tagebuch gelesen?«

Vor Überraschung hätte er fast einen Bordstein mitgenommen. »Woher wissen Sie davon?«

»Julian hat mir erzählt, dass seine Frau ihre Reiseerlebnisse regelmäßig dokumentiert hat.« Sie wandte sich ihm zu. »Wie sind Sie daran gekommen? In welcher Form liegt es Ihnen vor?«

»Wir haben es durch Zufall gefunden.« Er versuchte, es unaufgeregt klingen zu lassen.

Sie sagte nichts weiter dazu, aber er spürte, dass sie ihm nicht glaubte, und auch seine Hoffnung, dass sie das Thema als erledigt ansah, erfüllte sich nicht.

»Ullapool«, fing sie nach einer Weile wieder davon an. »Sie haben dem Ort einen Besuch abgestattet, weil Julian und Laura Tahn auf ihrer Reise dort gewesen sind. Etwas muss dort passiert sein, woraus Sie Ihre Gewissheit ableiten.«

Er antwortete nicht.

»Helfen Sie mir, Detective.«

Es war nicht leicht, ihrer Bitte zu widerstehen. »Tut mir leid, Miss Merryweather. Da gibt es nichts, was ich mit Ihnen besprechen dürfte, selbst wenn ich es wollte.«

Schweigend akzeptierte sie seine Antwort, blieb aber während der weiteren Fahrt nach Inverness recht einsilbig. Ihm war das nur recht. So konnte er seinen eigenen Gedanken nachhängen, die jedoch kehrten nach Umwegen über das weitere Vorgehen im Fall Tahn und seinen fälligen Bericht an den Chief Inspector immer wieder zu der unerwarteten Begegnung mit Susan zurück.

Er hätte nicht gedacht, dass ihn die Begegnung so schmerzen würde. Allein ihre Stimme zu hören, einen Hauch ihres Geruchs wahrzunehmen in der stillen Morgenluft. Und der Schmerz war begleitet gewesen von dem plötzlichen Bewusstsein seiner Einsamkeit, seit er sich von ihr getrennt hatte.

Er hatte es sich verboten, in den Kinderwagen zu sehen, hatte kein Bild mitnehmen wollen von seinem Sohn.

Susan war wütend gewesen über ihr unverhofftes Aufeinandertreffen. Sie wollte ihn weder sehen noch mit ihm reden. »Warum musstest du anhalten und aussteigen? Hättest du nicht einfach weiterfahren können?«, hatte sie bissig gefragt.

»Was erwartest du? Dass ich dich einfach ignoriere?«, war seine Antwort gewesen. »Vergiss es!«, hatte sie ihn angefahren. »Hau ab! Und lass mich in Ruhe!«

Ihre unerwartete Kälte hatte ihn völlig aus dem Konzept gebracht. Er war auf Vorwürfe vorbereitet gewesen, selbst Tränen. Aber das?

»Susan, bitte!«, hatte er sich selbst sagen hören, »lass uns in Ruhe reden.«

»Hier?«

»Nein, natürlich nicht. Ich dachte, wir könnten …«

»Nein, John. Können wir nicht«, war sie ihm ins Wort gefallen. »Geh zurück zu deiner Freundin.«

»Sie ist nicht meine Freundin. Sie ist Anwältin und …«

»John, es interessiert mich nicht.«

Sie war laut geworden, und vermutlich hatte deshalb das Baby angefangen zu weinen.

»Geht jetzt, verdammt!«, hatte sie ihn angefaucht.

Er hatte sich ihrem Wunsch gebeugt, aber seither kreisten seine Gedanken um sie. Samantha Merryweather war das nicht entgangen. Als sie ihn darauf angesprochen hatte, war er ihr beinahe dankbar für die Chance gewesen, ihr sein Herz auszuschütten, auch wenn das nicht seine Art war. Doch trotz ihrer gut gemeinten Mahnung wusste er nach wie vor nicht, wie er die Situation lösen sollte. Es war mehr als nur kompliziert. Es war verfahren.

 

In Inverness angekommen, setzte er die Anwältin bei ihrer Wohnung ab. Zu seiner Überraschung lebte sie in unmittelbarer Nachbarschaft seines Freundes Liam am linksseitigen Ufer des River Ness.

»Wohnen Sie schon lange hier?«, fragte er mit Blick auf das gepflegte, alte Reihenhaus.

»Nein, ich bin vor etwa zwei Monaten hier eingezogen. Das Haus gehört meinem Lebensgefährten.«

»Er ist Staatsanwalt, nicht wahr?«

»Das wissen Sie also auch schon«, konterte sie leicht errötend.

»Ich mache mir immer ein genaues Bild von den Menschen, mit denen ich zusammenarbeite«, sagte er augenzwinkernd.

»Sicher. Was auch sonst«, erwiderte sie mit einem Lächeln. »Danke, dass Sie mich mitgenommen haben.«

Er sah ihr nach, wie sie zur Eingangstür ging, und wartete, bis sie im Haus verschwand, wobei sie sich noch einmal umdrehte und winkte. Er winkte zurück und bedauerte, dass ihre Zusammenarbeit nun beendet war. Sie hatte ihn gefordert, auch wenn sie nicht immer einer Meinung gewesen waren. Vielleicht war sie deswegen eine so angenehme und anregende Gesellschaft gewesen.

 

Im Anschluss fuhr er nicht direkt ins Northern Constabulary, sondern machte einen Umweg über die Rechtsmedizin. Als er den Obduktionsraum betrat, begrüßte ihn der diensthabende Mediziner, ein hagerer, graugesichtiger Mann, der schon seit Jahren die Abteilung leitete. »Detective Sergeant Gills! Ich hatte nicht vor heute Nachmittag mit Ihnen gerechnet. Waren Sie nicht an der Westküste?«

Gills zögerte den Bruchteil eine Sekunde, bevor er die ihm entgegengestreckte Hand nahm. »Ihre Nachricht hat alle Ermittlungen dort überflüssig gemacht«, gestand er dann.

»Ja, in der Tat, eine Überraschung, wenn ich das richtig verstanden habe. Wollen Sie die Leiche dennoch sehen?«

Gills nickte und folgte dem Rechtsmediziner an zwei Obduktionstischen vorbei, auf denen sich unter grünem Tuch die Umrisse menschlicher Körper abzeichneten. An einem dritten Tisch blieb der Pathologe stehen.

»Kein schöner Anblick«, bemerkte er, bevor er das Tuch zurückschlug. »Aber darauf sind Sie ja vorbereitet.«

Ja, er hatte die Fotos gesehen, aber die direkte und ungefilterte Realität war weitaus schwerer zu ertragen. Er starrte auf die verstümmelten Füße, die nackten, von vielen Abschürfungen entstellten Beine und den aufgerissenen Torso.

Er zwang sich, den Blick weiter nach oben wandern zu lassen, blickte in das fehlende Gesicht, das umrahmt war von feinem blondem Haar, glänzend und glatt – die lebendigste Erinnerung an den Menschen, der hier vor ihm lag.

»Wie lange lag die Leiche im Wasser?«, fragte er schließlich.

»Nur ein paar Tage, es hätte zeitlich mit der von Ihnen vermissten Frau tatsächlich perfekt gepasst. Auch andere Schlüsselfaktoren wie Alter, Haut- und Haarfarbe stimmten überein, und diese Frau war ebenfalls tot, bevor sie im Wasser landete.«

Gills sah den Rechtsmediziner fragend an.

»Sie hat einen Schlag auf den Hinterkopf bekommen, der ihr das Genick gebrochen hat.«

»Ein Verbrechen?«

Der Mediziner schüttelte den Kopf. »Das wissen wir noch nicht mit endgültiger Sicherheit, aber wir gehen nicht davon aus. Wir konnten sie noch nicht identifizieren, aber höchstwahrscheinlich handelt es sich um eine französische Einhand-Seglerin. In der Wunde an ihrem Hinterkopf haben wir Holzsplitter gefunden. Die Laboruntersuchung wird zeigen, ob sie zum Mastbaum des Bootes passen, das gestern verlassen vor Lewis aufgebracht worden ist.« Er blätterte in dem Block, den er in der Hand hielt. »Ihr Name ist Marie Fouré, falls Sie das interessiert. Die Familie hat schon vor einigen Tagen eine Vermisstenmeldung bei der Polizei aufgegeben. Wir haben heute die DNA-Proben zum Abgleich weitergeschickt.«

Gills nickte langsam. »Informieren Sie mich bitte über das Ergebnis.«

»Natürlich.«

»Vielen Dank. Wie immer gute Arbeit!«, bedankte sich Gills.

»Wir tun, was wir können«, bemerkte der Mediziner lächelnd und zog das Tuch wieder über die Leiche

Gills atmete erleichtert auf, als er wieder draußen an der frischen Luft war. Der Umgang mit den Toten stresste ihn. An die Gerüche im Obduktionsraum hatte er sich bis heute nicht gewöhnen können, und auch nicht an die abgeklärte Haltung mancher Rechtsmediziner. Der Leiter der Abteilung war eine angenehme Ausnahme.

Die nun bevorstehende Aufgabe erhöhte seinen Adrenalinspiegel genauso wie der eben getätigte Besuch in der Rechtsmedizin, der den unvermeidlichen Rapport beim Chief Inspector noch etwas hinausgezögert hatte.

Es war Betsy gewesen, Browns Assistentin, die ihm mitgeteilt hatte, dass die Tote von Oldshoremore nicht Laura Tahn war. »DCI Brown ist informiert, wo Sie sind«, hatte sie nur hinzugefügt. »Er erwartet Sie nach Ihrer Rückkehr umgehend in seinem Büro.«

Er hatte während der gesamten Rückfahrt verdrängt, dass Brown ihm ein Disziplinarverfahren anhängen konnte, weil er sich nicht an seine Anweisungen gehalten hatte.

Nervös fingerte er an seinem Krawattenknoten, als Betsy ihn ankündigte. Doch Brown war in unerwartet gelassener Stimmung: »Wenn Sie nicht bis zu Ihrer Pension auf dem Posten eines Detective Sergeant bleiben wollen, müssen Sie lernen, Anweisungen zu befolgen und nicht zu umgehen. Da Ihr Fall nun aber schneller abgeschlossen ist als erwartet, stellen Sie Ihre Arbeitskraft sofort DI Campbell zur Verfügung und bügeln damit Ihren Fehler wieder aus.« Gills wollte widersprechen, aber Mortimer Brown ließ ihn nicht einmal zu Wort kommen. »Strapazieren Sie meine Gutmütigkeit nicht noch weiter, Gills. Sie haben den Bogen bereits deutlich überspannt. Ihre Indizien und Beweise reichen nicht aus, den Deutschen weiter in Haft zu halten.« Er richtete sich auf seinem Stuhl auf und fixierte Gills scharf. »Der Fall ist erledigt. Damit sich Ihre Ermittlung nicht zu einer unerfreulichen Affäre auf diplomatischer Ebene ausweitet, habe ich bereits mit dem zuständigen Richter gesprochen.«

»Das heißt?«, fragte Gills aufgebracht.

»Das heißt, dass Julian Tahn wieder auf freiem Fuß ist. Der Fall liegt nicht mehr in unserer Zuständigkeit. Wie auch Sie während Ihrer Ausbildung gelernt haben dürften, fallen vermisste Personen erst dann in unser Ressort, wenn sie tot aufgefunden werden und nachweislich einem Verbrechen zum Opfer gefallen sind.«

Gills ließ diese Tirade schweigend über sich ergehen. Obwohl er eigentlich erleichtert sein müsste, dass der Chief Inspector ihn nur mit einer Mahnung entließ, schnürte ihm der Ärger die Kehle zu. Als Brown ihm vor wenigen Tagen den Fall übertragen hatte, war seine Haltung noch eine ganz andere gewesen, aber ihn darauf hinzuweisen hätte seine Situation nur verschlimmert. Gills hatte längst gelernt, dass Prioritäten in seinem Beruf bisweilen so schnell wechselten wie das Wetter.