Am nächsten Morgen stand er mit einem Kaffee in der Hand am Fenster des Wohnzimmers. Der Geruch von altem Leder und Büchern umgab ihn, und ganz schwach konnte er auch das Aroma des Pfeifentabaks wahrnehmen, den sich sein Vater in einer eigens für ihn zusammengestellten Mischung noch immer aus London schicken ließ. Obwohl er längst dem Druck seiner Ehefrau nachgegeben und das Rauchen aufgegeben hatte, weshalb oft nur eine kalte Pfeife in seinem Mundwinkel hing, auf deren Mundstück er selbstvergessen herumkaute.
Draußen brach die Sonne durch die letzten verbliebenen Wolken. Gills hörte einen Vogel singen und dann den Hund seines Vaters anschlagen, als Ian Mackay mit dem blau-gelben Landrover der örtlichen Polizei vorfuhr. Er beobachtete, wie sich Ian an die Mütze tippte, als er Gills’ Vater Frank bemerkte, der neben dem Haus auf der kleinen Weide für seine letzten verbliebenen Schafe Wasser in den alten Blechtrog einfüllte. »Schöner Morgen, nicht wahr, Frank«, hörte Gills ihn rufen.
Die Antwort seines Vaters konnte er nicht verstehen, aber Ians spontanem Lachen nach zu urteilen, schien es eine der berühmten launigen Entgegnungen seines alten Herrn zu sein. Gills öffnete die schwere Holztür, bevor Ian klingeln konnte.
»Morgen, John«, begrüßte dieser ihn mit einem Augenzwinkern. Er musste den Kopf einziehen, als er eintrat. »Ich dachte mir, ich stelle sicher, dass du nicht zu spät zu deinem Termin kommst. Wie ich gehört habe, nehmt ihr es in Inverness mit der Pünktlichkeit nicht so genau.«
Gills grinste. »Schön, dich zu sehen, Ian. Willst du noch einen Kaffee?«
»Lieber nicht.« Ian fuhr sich mit der Hand über den Bauch und verzog das Gesicht. »Der letzte von heute Morgen liegt mir noch quer. Anscheinend komme ich allmählich in das Alter, wo ich darauf verzichten sollte.«
Gills leerte seinen Becher, stellte ihn auf dem Garderobenschrank ab und griff nach seiner Jacke. »Na, dann.«
Die kurze Fahrt nach Kinlochbervie führte sie durch die weitläufigen, baumlosen Hügel des Küstengebirges, an deren Hänge sich vereinzelt weiße Cottages schmiegten. Aus ihren Schornsteinen quoll auch jetzt im August Rauch und hinterließ den vagen Geruch von verbranntem Torf in der Luft. Immer wieder öffnete sich der Blick auf die tiefblaue Weite des Atlantiks, der, so empfand es zumindest Gills, eine andere Qualität besaß als die Nordsee im Osten des Landes.
Sie erreichten das Hotel zehn Minuten vor ihrer verabredeten Zeit und trafen Julian Tahn beim Frühstück an. Er wollte aufstehen, um sie zu begrüßen, doch Gills winkte ab. »Keine Umstände, frühstücken Sie in Ruhe zu Ende. Wir sind sowieso zu früh.«
Julian schob seinen Teller mit Toast beiseite. »Wir können gleich anfangen. Ich habe keinen Hunger.«
»Wie Sie meinen.« Gills nahm ihm gegenüber Platz, und sein Blick blieb an den feingliedrigen, braungebrannten Händen des Deutschen hängen, die dieser vor sich auf dem weißen Tischtuch nervös ineinander verschränkte. Wer mit Ende dreißig solche Hände besaß, hatte nie in seinem Leben körperlich hart arbeiten müssen, so viel war klar.
»Detective Sergeant John Gills, Scottish Police«, stellte sich Gills vor. »Wir haben die Ermittlungen im Fall Ihrer vermissten Frau übernommen.«
»Julian Tahn«, entgegnete dieser. »Ich hätte nie gedacht, dass ich einmal mit Ihrer Behörde zu tun haben würde.« Er hatte eine angenehme Stimme und sprach fließend Englisch mit wenig Akzent.
»Damit rechnen die wenigsten«, entgegnete Gills und betrachtete den schlanken, dunkelhaarigen Mann, der nur wenige Jahre älter war als er selbst, nachdenklich. Seine teure, aber äußerst effiziente Funktionskleidung ließ darauf schließen, dass Outdoor-Urlaube für ihn die Regel und nicht die Ausnahme waren. »Ich nehme an, dass Sie seit gestern Abend nichts von Ihrer Frau gehört haben«, bemerkte Gills.
Julian Tahn schüttelte resigniert den Kopf.
»Ist so etwas schon einmal vorgekommen?«
»Was? Sie meinen, dass meine Frau plötzlich verschwindet?«, erwiderte Julian angespannt. »Nein, natürlich nicht. Hätte ich mich sonst an die Polizei gewandt?«
Gills ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Natürlich war Julian Tahn nervös. Er dürfte kaum geschlafen haben, wenn Gills die Schatten unter seinen Augen richtig deutete. Er überflog noch einmal das Protokoll, das Ian Mackay zur Aufnahme der Vermisstenmeldung geschrieben hatte. »Es ist richtig, dass Sie zusammen mit Ihrer Frau drei Nächte in der Bay verbracht haben?«
Julian nickte. »Wir wollten sogar noch länger bleiben.«
Gills zog erstaunt eine Augenbraue hoch. »Das ist ungewöhnlich. Die meisten verbringen höchstens eine, maximal zwei Nächte dort. Allein schon wegen des Proviants, den man für die Zeit tragen muss.«
»Es war der Höhepunkt unseres Urlaubs, und wir wollten das schöne Wetter ausnutzen.«
»Das dann doch umgeschlagen ist«, warf Mackay ein.
»Darauf waren wir vorbereitet«, erwiderte Julian. »Das Wetter war auch nicht das Wesentliche für uns.«
Vermutlich nicht. Wer eine Wanderung zur Sandwood Bay auf sich nahm und ein Zelt, Schlafsäcke und Proviant für mehrere Tage an diesen verlassenen Küstenstreifen mitschleppte, der ließ sich vom wechselhaften Wetter Schottlands nicht abschrecken.
»Können Sie mir noch einmal genau schildern, was vorgestern Morgen, zu dem Zeitpunkt, als Ihre Frau verschwunden ist, geschehen ist?«
Julian sah irritiert von Gills zu Mackay und wieder zurück. »Ich habe das bereits Ihrem Kollegen erzählt, und soweit ich weiß, hat er das auch alles im Protokoll festgehalten«, entgegnete er für Gills’ Empfinden eine Spur zu ungehalten.
»Das ist richtig«, versicherte dieser ihm, »aber ich möchte es noch einmal von Ihnen hören.«
Julian zog sich die Teekanne heran, schenkte sich nach und nippte an dem heißen Getränk. »Laura und ich sind, nachdem es hell war, recht früh aufgestanden, so gegen sechs Uhr dreißig. Wir hatten eine Wanderung nach Cape Wrath geplant«, begann er dann. »Laura zog sich an, um am nördlichen Ende der Bucht am Loch Sandwood Wasser zu holen. Von unserem Zelt aus brauchte sie dafür etwa eine Dreiviertelstunde hin und zurück.« Während er sprach, vermied er es, die beiden Polizisten anzusehen. Stattdessen blickte er an ihnen vorbei durch die Fenster auf den Atlantik, auf dem sich die Morgensonne brach. »Als sie nicht gleich wieder kam, habe ich mir zunächst keine Gedanken gemacht. Sie lässt sich gern ein wenig Zeit, um sich etwas anzusehen oder einen Ausblick zu genießen, aber als sie nach anderthalb Stunden immer noch nicht zurück war, bin ich nervös geworden.«
»Sie wusste, dass sie diese Wanderung machen wollten«, warf Gills ein.
Julian nickte mit zusammengepressten Lippen. Gills registrierte ein verärgertes Aufblitzen in den Augen seines Gegenübers und fragte sich, ob sich Julian Tahns versteckte Aggression wirklich nur auf die erneute Befragung bezog. »Was haben Sie dann unternommen?«
»Ich bin ihr nachgegangen, um zu sehen, ob ihr etwas passiert ist.«
»Wussten Sie, welchen Weg sie genommen hatte?«
»Sie war durch die Dünen gegangen. Ich konnte ihre Fußspuren verfolgen.«
»Waren Sie an diesem Morgen allein in der Bay?«
»Soweit ich das sehen konnte, ja.«
»Und als Sie dann am Loch Sandwood ankamen, war Ihre Frau nirgendwo zu entdecken.«
»Richtig. Ich habe nur unsere Wasserflaschen am Rand des Sees zwischen den Steinen gefunden, aber von ihr keine Spur.«
»Sie haben Sergeant Mackay erzählt, sie hätten daraufhin den ganzen Tag vergeblich nach ihr gesucht und wären auch die folgende Nacht noch in der Bay geblieben, in der Hoffnung, dass Ihre Frau zum Zelt zurückkommen würde.«
»Das stimmt.«
»Warum haben Sie geglaubt, dass sie zurückkehren könnte? Sie ist doch während des gesamten Tages nicht wieder aufgetaucht.«
Julian Tahn antwortete nicht sofort. »Ich weiß es nicht«, sagte er schließlich. »Im Nachhinein betrachtet, wäre es vermutlich besser gewesen, gleich die Polizei zu informieren.«
Gills betrachtete ihn nachdenklich. »Es sei denn, Sie hatten einen guten Grund, damit zu rechnen, dass Ihre Frau zurückkommt.«
Julian fuhr auf. »Wie meinen Sie das?«
»Nun, vielleicht hatten Sie Streit miteinander?«
»Hatten wir nicht.«
Die Antwort kam zu schnell, aber Gills ging nicht weiter darauf ein. Dafür war jetzt nicht der richtige Zeitpunkt. »Neigt Ihre Frau zu Depressionen, ich meine, besteht die Gefahr, dass sie sich etwas antut oder angetan hat?«, fragte er stattdessen.
»Laura?« Julian schüttelte energisch den Kopf. »Nicht Laura. Sie würde sich nicht umbringen, nein!«
Gills machte sich eine Notiz. »Sie haben einen Teil Ihrer Ausrüstung in der Bay zurückgelassen?«, fuhr er fort.
»Das Zelt, Lauras Schlafsack und ein wenig Proviant«, bestätigte Julian, während seine Finger auf den Rand seiner Tasse klopften, die er noch immer in der Hand hielt.
John schob seine Unterlagen zusammen. »Wir werden uns jetzt vor Ort ein Bild machen«, sagte er abschließend. »Erreichen wir Sie später noch hier im Hotel?«
»Ich werde Sie begleiten.«
»Tut mir leid, Sir, das ist nicht möglich.«
Das war eine glatte Lüge, und Gills spürte, dass seine Worte Ian Mackay noch mehr überraschten als Julian, aber er wollte in der Bay ungestört seine Eindrücke sammeln, unbeeinflusst von der Darstellung des Deutschen.
Julians Unmut über Gills’ Zurückweisung war nicht zu übersehen. »Ich weiß noch nicht, wo ich sein werde«, entgegnete er knapp. »Aber ich habe Ihrem Kollegen bereits meine Mobilnummer gegeben, so dass Sie mich erreichen können.« Er wandte sich an Mackay. »Ist das Foto meiner Frau, das ich Ihnen per Mail geschickt habe, angekommen?«
Mackay antwortete: »Es ist zusammen mit der Vermisstenmeldung landesweit an alle Polizeidienststellen gegangen.«
»Warum wolltest du nicht, dass er uns begleitet?«, fragte Ian Mackay, als sie wenig später in seinen Dienstwagen stiegen. Sein Tonfall verriet, dass ihn Gills’ vorschnelle Ablehnung ärgerte.
»Wenn du mich fragst, muss etwas vorgefallen sein, das er uns verschweigt. Vielleicht finden wir in der Bay Hinweise darauf«, entgegnete Gills und fasste sich an den Hemdkragen, um seine Krawatte geradezuziehen. Doch seine Finger griffen ins Leere, denn hier draußen trug er weder Anzug noch Krawatte.
In diesem Moment kam ein rotgesichtiger junger Mann in Uniform auf einem Fahrrad auf den Parkplatz gefahren. Er schwitzte vor Anstrengung.
»Ah, Brian«, begrüßte Mackay ihn. »Gerade noch rechtzeitig.«
»Mein Auto ist nicht angesprungen«, keuchte Brian, lehnte das Fahrrad an die mit Moos und Flechten bedeckte Hauswand, nahm seine Dienstmütze ab und fuhr sich durch das kurzgeschorene rote Haar. »Und außerdem habe ich Peter unten im Hafen getroffen. Habt ihr schon mit ihm gesprochen?«
Mackay seufzte allein bei der bloßen Erwähnung von Peters Namen.
Gills blickte an den beiden vorbei den Hügel hinunter zum Hafen. Vom Parkplatz des Hotels aus hatte man über eine steil abfallende Schafsweide eine hervorragende Sicht auf den Pier und die Kühlhäuser. Das Schreien der Möwen, die das Entladen jedes Schiffes begleiteten, war bis hier oben zu hören. Er kniff die Augen zusammen und fragte sich, ob der Mann mit den gelben Gummistiefeln, der am Hafenbecken stand und zu ihnen schaute, Peter war.
»Was hatte Peter denn zu erzählen?«, fragte er Brian, ohne den Mann im Hafen aus den Augen zu lassen.
»Er hat mir von einem Streit erzählt, den der Deutsche und seine verschwundene Frau vor ein paar Tagen auf seinem Boot hatten. Es muss hoch hergegangen sein.«
Mackay zog ein zweifelndes Gesicht. »Du kennst Peters Hang zu Übertreibungen«, wiegelte er ab, doch Gills sah bei Brians Bemerkung unwillkürlich zu den Fenstern des Hotels, hinter denen der Schankraum lag. Schemenhaft konnte er die Gestalt von Julian Tahn erkennen. Der Deutsche beobachtete sie.
Gills zögerte, als Mackay Anstalten machte, aufzubrechen. »Wir dürfen das nicht ignorieren«, widersprach er. »Zu diesem Streit sollten wir Peter genauer befragen und danach gegebenenfalls auch noch mal Julian Tahn.«
»Jetzt sofort?« Mackay war alles andere als begeistert. Er und Peter Dunn waren keine Freunde, und dem alten Trinker ein Forum zu bieten, widerstrebte Ian zutiefst, das war Gills klar.
»Ich denke, wenn wir zurückkommen, werde ich Peter allein aufsuchen«, entschied er deshalb und öffnete die Beifahrertür, um einzusteigen. »Es ist nicht nötig, dass wir zu dritt hinfahren.«