Es regnete in Strömen, als John Gills am nächsten Morgen vom Haus seiner Eltern in Blairmore ins weiter nördlich gelegene Durness aufbrach. Bereits am Vorabend hatte sich der Himmel zugezogen, und vom flachen sandigen Fjord des Kyle of Durness war unter den tiefhängenden Wolken nur das diesseitige Ufer zu erkennen.

Als er in den Vorraum des Bestattungsinstituts trat, konnte er durch den Türspalt Laura Tahn an der Bahre ihres Mannes sitzen sehen – genau so, wie er sie am Nachmittag zuvor dort zurückgelassen hatte. Zumindest erschien es ihm so. Doch die Frau des Bestatters beruhigte ihn, während sie ihm seine vom Regen durchnässte Jacke abnahm: »Sie hat mit uns gegessen und heute Nacht ein paar Stunden auf der Couch geschlafen.«

Zurückhaltend klopfte er, bevor er das Trauerzimmer betrat. Laura stand auf und kam auf ihn zu. Sie sah müde und erschöpft aus, wirkte aber gefasst.

»Wie geht es Ihnen?«, fragte er.

»Fragen Sie nicht«, bat sie und drehte nervös eine Haarsträhne um ihren Finger. »Aber die Familie des Bestatters ist sehr liebevoll, und es war gut, so nah bei Julian sein zu können.«

»Haben Sie sich von ihm verabschiedet?«

Sie nickte stumm, und er sah, wie sie mit den Tränen kämpfte. »Er wird nach Glasgow gebracht. Ich wünschte, ich könnte mitfahren.«

Gills widerstand der Versuchung, ihr seine Hand auf den Arm zu legen. »Sie können ihn begleiten.«

»Wirklich?«, entwich es ihr überrascht. »Sie sind nicht gekommen, um mich zu verhaften?«

»Nein, ich bin gekommen, um Ihnen zu sagen, dass Sie nach Deutschland zurückkehren können.« Er zog einen Umschlag aus der Innentasche seiner Jacke. »Hier ist das Flugticket. Es ist mir gelungen, Ihren Flug noch einmal umzubuchen. Sie fliegen heute am frühen Abend. Haben Sie bereits mit Ihrer Familie Kontakt aufgenommen?«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich konnte das noch nicht.«

»Soll ich das für Sie übernehmen?«

»Nein, ich werde mich nachher mit ihnen in Verbindung setzen.«

»Jemand sollte da sein, wenn Sie in München ankommen.«

»Meine Schwiegereltern leben auch dort.«

Er betrachtete sie prüfend. »Sie schaffen das wirklich?«

»Machen Sie sich keine Sorgen um mich.«

»Okay. Ich habe Ihre Ausrüstung und Ihre Rucksäcke im Auto. Ich werde mit dem Bestatter regeln, wo wir die Sachen verstauen.«

»Danke.«

»Keine Ursache.«

Er spürte, dass sie noch eine Frage auf dem Herzen hatte, die eine entscheidende Frage, und griff sich unwillkürlich an seinen Krawattenknoten und zog ihn zurecht, als er an das eben geführte Gespräch mit dem Gerichtsmediziner dachte und daran, was dieser ihm über den Tod von Tom Noviak erzählt hatte:

»Anhand der Verletzungen, die wir am Körper des Mannes feststellen konnten, können wir den Tathergang, so wie Sie ihn grob geschildert haben, bestätigen. Die Männer haben sich geprügelt. Der Tote hat Hämatome vorwiegend im Bereich des Abdomens, aber auch Abschürfungen an den Knöcheln, die darauf schließen lassen, dass er selbst ebenfalls zugeschlagen beziehungsweise sich verteidigt hat. Aber Tom Noviak ist nicht an den Folgen dieser Prügelei gestorben.«

»Wie bitte?«, hatte Gills ungläubig gefragt.

»Der Mann hatte einen Herzfehler, das hat die Obduktion einwandfrei ergeben. In seinem Blut konnten wir Spuren entsprechender Medikamente nachweisen.«

»Er ist also an Herzversagen gestorben?«

»Das ist richtig.«

Gills war fassungslos gewesen, als er mit diesen nüchternen Tatsachen konfrontiert worden war. Es gab keinen Fall. Keinen Mord. Nichts. Julian Tahn wäre nicht einmal vor Gericht gestellt worden.

Er dachte an die Ängste und das Entsetzen, die Laura und Julian Tahn in den vergangenen Tagen ausgestanden hatten, weil sie meinten, einen Menschen getötet zu haben. An die Kämpfe, die jeder von ihnen mit sich, und an ihre Streitigkeiten, die sie miteinander ausgefochten hatten und die letztlich in Julian Tahns sinnlosem Tod kulminiert waren.

»Detective Gills?« Lauras Stimme riss ihn aus seinen Gedanken.

Half es ihr, wenn sie die Wahrheit erfuhr? Oder würde es sie eher noch mehr bedrücken? »Madam, manchmal ist es besser, bestimmte Sachverhalte nicht zu kennen«, gab er zu bedenken. »Aber das ist Ihre Entscheidung.«

Sie zögerte und warf einen Blick auf ihren Mann. Der Bestatter hatte sich alle Mühe gegeben, Julian Tahns Körper so herzurichten, dass die offensichtlichen Spuren seines tödlichen Sturzes nicht auf den ersten Blick zu erkennen waren.

»Bringen Sie Ihren Mann nach Hause«, fügte Gills hinzu. »Kehren Sie zurück in Ihre Welt.«

Laura atmete tief ein und schüttelte ihm wortlos die Hand.

Er sah ihr nach, als sie wenig später nach Glasgow aufbrach. Erst nachdem der dunkelgraue Kombi des Bestattungsinstitutes an der Kreuzung außer Sicht gekommen war, wandte er sich ab und ging zu seinem Wagen. Dabei fragte er sich, wie er dem Chief Inspector in seinem Bericht die Geschehnisse so darstellen konnte, dass es ihm nicht das Genick brach, als sein Telefon klingelte.

Es war Susan.

»Ich hab gehört, dass du noch hier bist«, sagte sie. »Ich wollte die Gelegenheit nutzen, mich bei dir zu entschuldigen.«

»Ja, mein Vater hat mir von eurem Gespräch erzählt, aber ich hatte bislang noch keine Zeit, mich bei dir zu melden.«

»Wo bist du?«

»In Durness.«

»Hast du Zeit?«

Er dachte an Julian und Laura Tahn und die Zeit, die es für sie nicht mehr gab.

»Ja«, erwiderte er, »ich hab Zeit. Bist du zu Hause?«

»Ich hab gedacht, es ist vielleicht besser, wenn wir uns auf neutralem Boden treffen. Allein.« Sie machte eine Pause. »Ohne Baby.«

Er räusperte sich.

»Was hältst du von einem Spaziergang zur Sandwood Bay?«, fragte sie. Ein lange vermisstes, aber sehr vertrautes Gefühl stieg in ihm auf. Die Einheimischen sprachen immer von einem Spaziergang, nie von einer Wanderung zur Bay.

»Das Wetter ist nicht das beste«, gab er zu bedenken.

»Stört dich das?«, fragte sie, obwohl sie die Antwort natürlich längst kannte.

»Das hat mich noch nie gestört.«

 

Drei Stunden später blickte er von den Klippen aus über die Sandwood Bay, deren nördlicher Zipfel sich an diesem Spätnachmittag im Dunst verlor. Die graue See schlug krachend gegen die Küstenfelsen, und Wind peitschte über das Wasser auf ihn zu und riss an seiner Jacke und der Kapuze, die er sich über die Ohren gezogen hatte. Außer Susan an seiner Seite war weit und breit keine Menschenseele zu sehen. Nur eine kleine Schafherde graste unbeeindruckt vom Wetter etwas weiter entfernt in einer Senke.

Die Flut war hoch, mehr als die Hälfte des Strands war unter Wasser und mit ihm die vielen kleinen Inseln und Felsen vor der Küste. Gills kniff die Augen zusammen und suchte in alter Gewohnheit den Horizont ab, aber die Sicht war zu schlecht. Es waren keine Schiffe zu sehen, denn nur ein Verrückter würde sich bei diesem Wetter nah unter Land wagen.

Bevor im 19. Jahrhundert der Leuchtturm bei Cape Wrath gebaut worden war, waren auf Höhe der Sandwood Bay immer wieder Schiffe verunglückt. Die Flut hatte ihre Überreste in die Bucht gespült, wo sie jetzt verborgen unter dem Sand der Dünen lagen. Als Kind hatte Gills einmal mehrere Tage und Nächte mit seinem Großvater hier verbracht und mit einem Metalldetektor, den ihm seine Eltern zu seinem zehnten Geburtstag geschenkt hatten, nach Wrackteilen gesucht. Noch heute besaß er eine kleine Sammlung der wertvollsten Fundstücke, darunter einen messingfarbenen Taschenkompass, den er fast immer bei sich trug.

Nur an diesem Tag nicht, wie er feststellte, als er in seine Tasche griff. Er musste ihn in seiner anderen Jacke vergessen haben. Die Erkenntnis verursachte ihm für einen Moment ein mulmiges Gefühl, und sein Blick wanderte hinüber zu den Dünen, als er sich an jenen anderen Fund erinnerte, den er dort vor vielen Jahren entdeckt hatte. Jedes Mal, wenn er daran dachte, überlief ihn ein Schauer.

Zwanzig Jahre waren seither vergangen. Vierzehn war er damals gewesen, und damit im besten Alter für solche Geschichten, aber tatsächlich träumte er heute noch manchmal davon.

Nach einem Streit mit seinen Eltern war er in die Bucht geflohen, die damals sein zweites Zuhause gewesen war. Er hatte sein Lager am Fuß der Dünen aufgeschlagen, windgeschützt, und als er Löcher in den Sand gegraben hatte, um sein Zelt zu befestigen, hatte er sie gefunden.

Wer auch immer sie geschaffen hatte, war ein Meister seines Fachs gewesen, edel und schön geformt war ihr Gesicht gewesen, ihre nackte Gestalt, die ab der Hüfte in einen Fisch überging, fein modelliert. Der Sand hatte alle Farben konserviert, es war, als hätte sie nur darauf gewartet, dass er sie fände.

Gills hatte schon viel über Galionsfiguren gehört und gelesen, über ihre Bedeutung und den Geist, den Seeleute ihnen beimaßen. In ihren Augen lebte in der Figur die Seele des Schiffes, sie beschützte sie auf der Fahrt, und mit ihrer Hilfe fanden sie den richtigen Kurs. Dass eine Galionsfigur die Gestalt einer Meerfrau besaß, war nicht selten, und doch kam ihm diese besonders vor.

Lange hatte er vor seinem freigelegten Fund gesessen und die hölzerne Nixe betrachtet, die beinahe seine Größe hatte. In der Nacht hatte er ein Feuer entzündet, hatte beobachtet, wie die Flammen Schatten auf ihr Gesicht warfen und es zum Leben erweckten. Er hatte sich Geschichten erdacht zu ihrer Herkunft und den Händen, die sie geschaffen hatten, zu dem Schiff, mit dem sie die Meere befahren, und den Männern, die ihr vertraut hatten. Seine jugendliche Leidenschaft war mit ihm durchgegangen, und während der langen einsamen Stunden mit ihr war ihm klargeworden, dass er sie bergen und nach Hause bringen musste, wo er sie jeden Tag betrachten konnte.

Aber sie war zu schwer für ihn allein. Ohne Hilfe konnte er sie nicht transportieren. In der Angst, dass sich andere in seiner Abwesenheit ihrer bemächtigen könnten, grub er sie am nächsten Morgen wieder ein. Eine dunkle Ahnung hatte ihn erfüllt, als er auch an jenem Tag seinen Kompass, seinen Talisman, nicht dabeigehabt hatte. Eine Ahnung, die sich bestätigte, denn als er an die Stelle mit seinen beiden Freunden zurückkehrte, war dort nichts gewesen außer Sand und Muscheln und einem verwitterten Hanfseil, das, so bildete er sich bis heute ein, die Farbe ihres Haars gehabt hatte.

Seine Freunde hatten ihn ausgelacht, und noch Jahre danach hatte er immer wieder etwas zum Thema Meerjungfrau geschenkt bekommen. Selbst Susan hatte ihn damit aufgezogen, als sie von der Geschichte erfahren hatte.

 

Eine kräftige Bö rüttelte ihn durch, und die Regentropfen, die sie mitbrachte und in sein Gesicht klatschen ließ, brachten ihn in die Gegenwart zurück. Zwanzig Jahre waren vergangen, und dennoch suchte sein Blick auch heute wieder die Stelle, an der er sie damals gefunden hatte. Susan zwinkerte ihm wissend zu, und er fragte sich nicht zum ersten Mal, welche Bedeutung der Fund der Galionsfigur hatte. Oder ihr Verlust.

Vielleicht hatte Peter recht, und es gab in der Bay tatsächlich eine eigene Gesetzmäßigkeit, und das Meer lockte an diesem besonderen Ort das Gute oder das Böse aus den Menschen. Letztlich hatten auch Julian und Laura Tahn genau das erlebt.

Für John Gills war und blieb die Sandwood Bay der schönste Flecken Erde, den er kannte, auch wenn sie sich ihre Geheimnisse nicht entreißen ließ. Sie gab sie freiwillig preis oder nie.