Als John Gills den Krankenhausflur auf der vierten Etage betrat, sah er als Erstes den uniformierten Police Officer, der auf einem Stuhl neben Julian Tahns Zimmertür saß. Der unscheinbare, schlanke Mann blickte von der Zeitung auf, in die er vertieft war, und grüßte.
»Guten Tag, Officer«, erwiderte Gills. »Ich nehme an, es gab keine besonderen Vorkommnisse?«
»Hier tut sich nichts, Sir«, antwortete der Polizist. »Außer, dass Miss Merryweather seit einer Dreiviertelstunde bei ihm drin ist.«
Gills zog erstaunt eine Braue hoch. »So lange ist sie schon hier?«
Der Officer nickte. »Anfangs schien es nicht so gut zu laufen. Ich habe gehört, wie der Deutsche sie zwei-, dreimal wütend angeschrien hat, aber inzwischen ist es ruhig.«
Gills grinste. »Miss Merryweather hat nicht zurückgeschrien?«
»Nicht, dass ich wüsste, Sir«, kommentierte der Officer mit einem Augenzwinkern.
»Danke für die Information«, sagte Gills, während er an die Tür klopfte.
»Immer wieder gern, Sir.«
Von drinnen hörte er ein gedämpftes »Herein«.
Er öffnete und sah Samantha Merryweather an dem gekippten Fenster lehnen. Es war ein warmer und sonniger Tag, und von draußen drang der Geruch nach frisch gemähtem Rasen herein und vermischte sich mit dem Kaffeeduft, der aus ihrem Take-away-Becher emporstieg. »Ah, Detective Sergeant«, begrüßte sie ihn, »wir haben soeben von Ihnen gesprochen.«
Julian Tahn, der mit dem Rücken zur Tür auf der Bettkante saß, wandte sich zu ihm um, über dem rechten Auge verbarg noch immer ein Pflaster seine Platzwunde, und sein Blick verriet Gills, dass Samantha ihm von dem Fund der Frauenleiche erzählt hatte.
War es wirklich nötig, Miss Merryweather im Vorhinein zu informieren? Hätten Sie nicht das Überraschungsmoment nutzen können, hatte der Chief Inspector gepoltert, als Gills ihn über das Gespräch mit der Pflichtverteidigerin in Kenntnis gesetzt hatte.
Wie immer war es Mortimer Brown gelungen, ihn zu verunsichern. Aber jetzt, da er Julian Tahn gegenüberstand, wusste Gills, dass es die richtige Entscheidung gewesen war. Etwas im Ausdruck des Mannes hatte sich verändert. Offensichtlich war es Samantha Merryweather gelungen, das Eis zu brechen.
Er nickte ihr kurz zu, dann wandte er sich an den Deutschen. »Mr. Tahn, ich hoffe, es geht Ihnen besser?«
Julian Tahn nickte.
Gills hatte auf dem Weg ins Krankenhaus überlegt, wie er dem Deutschen nach der Attacke begegnen sollte. Letztlich war er zu dem Schluss gekommen, dass es das Beste sein würde, auch bei diesem zweiten Treffen so zu tun, als wäre nichts vorgefallen. Trotzdem musste er sich zurückhalten, sich nicht mit der Hand über den Hals zu fahren.
»Ich nehme an, Miss Merryweather hat Sie bereits über die neusten Ereignisse informiert.«
Wieder nickte Julian sichtlich nervös. »Wann haben Sie die Identität der Toten festgestellt?«, fragte er angespannt.
»Ich rechne in den nächsten vierundzwanzig Stunden mit dem Ergebnis der DNA-Analyse. Versprechen kann ich allerdings nichts.«
Julians Haltung versprach die Bereitschaft zur Kooperation. Gills vermied es, Samantha Merryweather dafür einen anerkennenden Blick zuzuwerfen. Er rechnete es ihr hoch an, dass sie diese unglaubliche Veränderung in ihrem Mandanten ausgelöst hatte. Aber er musste während der Vernehmung weiterhin vorsichtig agieren, wenn er nicht riskieren wollte, dass der Mann sich wieder in sein Schweigen zurückzog.
Julian atmete tief durch, wie um sich zu beruhigen, sagte aber nichts weiter.
»Wie Sie vermutlich von Miss Merryweather bereits erfahren haben«, fuhr Gills daher in einem Ton fort, der eher für eine Konversation als für ein Verhör angemessen war, und zog sich einen Stuhl heran, »habe ich ein Rechtshilfeersuchen an die deutschen Behörden gestellt. Daraus geht hervor, dass Sie nach dem plötzlichen Tod Ihrer ersten Frau wegen fahrlässiger Tötung angeklagt wurden. – Das Verfahren endete mit einem Freispruch aus Mangel an Beweisen. Mehr Informationen erhalten wir von den deutschen Behörden nicht, deshalb würde ich gerne von Ihnen wissen, was damals geschehen ist.«
Julian schluckte. »Es war ein Unfall.«
»Das ist ein weiter Begriff.«
Gills sah, wie Julian um Fassung rang. Und er erinnerte sich, dass der Psychologe ihm, ohne seine Schweigepflicht gegenüber seinem Patienten zu verletzen, erklärt hatte, dass Julian Tahn ein unbewältigtes Trauma in sich trug. Er hatte nicht mit dem Arzt über den Auslöser gesprochen, aber die aktuellen Ereignisse rührten daran. Alles, was er über Jahre sorgfältig vor sich selbst und anderen verborgen hatte, durchbrach gerade wieder die Oberfläche.
»Monique … meine erste Frau …«, begann Julian, während er auf einen Punkt zwischen seinen Füßen starrte. »Sie ist gestürzt … in unserem Wohnzimmer.« Langsam hob er jetzt den Kopf, und es schien, als starre er sowohl an Gills als auch an seiner Anwältin vorbei in eine Vergangenheit, die nur er sehen konnte. »Sie ist rückwärts die Stufen hinuntergestolpert und mit dem Kopf auf die Kante des Glastisches gestürzt.« Er schluckte erneut. »Der Winkel ihres Auftreffens war unglücklich, und die daraus resultierende Verletzung so schwer, dass sie nur wenige Stunden nach ihrer Einlieferung ins Krankenhaus gestorben ist.« Seine Stimme war emotionslos, seine Worte klangen fremd, wie auswendig gelernt, wie abgelesen. Tränen glänzten in seinen Augen.
Gills tauschte einen Blick mit Samantha. Sie nickte kaum merklich.
»Mr. Tahn, warum wurden Sie der fahrlässigen Tötung angeklagt?«, fuhr er daraufhin fort.
»Ich habe Monique gestoßen.«
Aus dem Augenwinkel sah Gills, wie Samanthas Gesicht blass wurde.
»Sie haben Ihre Frau gestoßen?«, wiederholte Gills.
Ein Schauder durchlief Julians Körper. »Ja«, gab er so leise zu, dass es kaum zu verstehen war. »Ich habe meine Hand gegen ihre Schulter gedrückt und sie von mir gestoßen.« Er hob seine rechte Hand.
Gills brannte ein Dutzend Fragen auf der Zunge, aber er stellte sie nicht. Er wartete, auch wenn es ihm schwerfiel.
Und seine Geduld wurde belohnt.
»Wir hatten Streit«, erklärte Julian schließlich und atmete tief durch. »Wir hatten oft Streit.«
»So wie Sie und Laura?«
Julian schüttelte den Kopf. »Es war schlimmer mit Monique. Es war schlimmer, weil ich …«
»Weil Sie …?«, hakte Gills nach.
Das erste Mal begegnete Julian seinem Blick. »Weil ich damals noch gewalttätig war. Ich habe meine Frau geschlagen. Ihr Bruder trat in dem Prozess als Nebenkläger auf.«
Samanthas Finger schlossen sich so fest um das Fensterbrett, dass ihre Knöchel weiß hervortraten. Das war keine Aussage, die ihre Verteidigungsstrategie unterstützte. Ganz im Gegenteil.
Gills versuchte, seine Bestürzung zu verbergen. »Haben Sie …«, er zögerte und fragte dann: »Haben Sie auch Laura geschlagen?«
»Nicht so«, flüsterte Julian. »Niemals so.«