Ein feines Lächeln umspielte noch immer die Mundwinkel der Pflichtverteidigerin, als sie John Gills in das Vernehmungszimmer folgte und insgeheim seine breiten Schultern unter dem grauen Jackett und sein dunkles Haar begutachtete. Es fiel so ungebändigt in seine Stirn, dass Frauen, egal welchen Alters, spontan den Wunsch verspürten, es zu ordnen, und mindestens die Hälfte der jüngeren weiblichen Büroangestellten des Northern Constabulary war hoffnungslos in Gills vernarrt. Bemerkenswert war, dass er sich dieser Wirkung tatsächlich nicht bewusst zu sein schien. Er begegnete allen gleich freundlich, zuvorkommend und distanziert, dass einige der Polizistinnen ihn in ihrer Verzweiflung inzwischen für schwul erklärt hatten. Samantha verfolgte das Spektakel mehr oder minder ungerührt, doch ausgerechnet an diesem Morgen hatte sie sich dabei ertappt, dass sie bei dem Gedanken an die Zusammenarbeit mit ihm deutlich länger als üblich vor ihrem Kleiderschrank gestanden hatte. Das Lächeln in ihren Mundwinkeln vertiefte sich noch ein wenig, bevor sie ihre Aufmerksamkeit schließlich ihrem Mandanten zuwandte.

Julian Tahn sah noch immer mitgenommen aus. Der Vollzugsbeamte hatte ihn heftig zu Boden geworfen, und eine Platzwunde über dem rechten Auge war die sichtbare Folge davon. Ein eilig hinzugerufener Arzt hatte die Verletzung zwar behandelt, damit jedoch nicht Tahns Gemütszustand verbessern können. Düster starrte er vor sich hin und würdigte weder Gills noch seine Anwältin eines Blickes. Er legte keinen Wert auf ihre Vertretung. Das hatte er ihr unmissverständlich zu verstehen gegeben, als sie sich ihm gleich nach ihrer Ankunft in der Dienststelle vorgestellt hatte. Daher setzte sie sich auch nicht neben ihn, sondern nahm sich einen der Stühle und setzte sich neben den Vollzugsbeamten an die Wand. Von dort konnte sie die beiden Männer aufmerksam beobachten. Interessanterweise waren sie einander nicht unähnlich.

»Mr. Tahn, ich würde gerne dort weitermachen, wo wir vorhin unterbrochen wurden«, begann Gills förmlich. »Und ich fordere Sie noch einmal auf, mir zu schildern, was während Ihres Aufenthaltes in der Sandwood Bay tatsächlich geschehen ist.«

Julian Tahn reagierte nicht. Er sah nicht einmal auf. Seine Lippen waren zusammengepresst und seine Fäuste geballt. Seine ganze Haltung erinnerte an eine zu stark komprimierte Feder, die nur darauf wartete, sich der übermäßigen Spannung zu entladen. Entsprechend explosiv war die Atmosphäre in dem fensterlosen Raum.

Gills gab sich unbeeindruckt, machte sich eine Notiz und nahm dann ein Foto aus der Akte, das er Julian über den Tisch hinweg zuschob. »Kennen Sie dieses Fahrzeug?«

Samantha Merryweather beugte sich vor, um einen Blick auf die Fotografie werfen zu können. Sie zeigte einen roten Ford SUV auf dem Hof einer Autovermietung.

Julians Fäuste drückten sich fester auf den Tisch.

»Wir haben das Fahrzeug bei einer Autovermietung in Inverness ausfindig gemacht«, fuhr Gills fort. »Interessanterweise wurde der Wagen nicht von dem ursprünglichen Mieter zurückgebracht, sondern nach einem Telefonanruf von einem Mitarbeiter der Autovermietung in Kinlochbervie abgeholt.«

Die Anwältin schlug in der Aktenkopie der bisherigen Vernehmungen nach. Julian Tahn hatte Gills von diesem Fahrzeug berichtet, das inmitten des Naturschutzgebietes auf halbem Weg zur Sandwood Bay stand.

»Wir haben die Identität des Mieters und Fahrers dieses Wagens überprüft, um auszuschließen, dass er etwas mit dem Verschwinden Ihrer Frau zu tun hat. Dabei haben wir festgestellt, dass es sich ebenfalls um einen deutschen Staatsangehörigen handelt.« Gills warf einen Blick in seine Unterlagen. »Tom Noviak aus Potsdam. Kennen Sie den Mann?« Er schob ein Ausweisfoto über den Tisch. Der Mann war Anfang bis Mitte vierzig, hatte ein fein modelliertes Gesicht und halblange Haare, die in einem Zopf zusammengefasst waren, seine Augen wirkten jedoch nicht gerade vertrauenerweckend.

Julian Tahns Miene blieb unbewegt, während er die Fotografie betrachtete. Er schwieg.

»Kennen Sie diesen Mann?«, wiederholte Gills seine Frage. Erstmals war dabei ein Anflug von Verärgerung in seiner Stimme zu hören.

Langsam, sehr langsam hob Julian Tahn den Kopf. »Und wenn ich ihn kennen würde?«, fragte er heiser. »Würde das etwas ändern?« Er nahm das Foto in die Hand, und einen Atemzug lang fürchtete Samantha Merryweather, er würde es in seiner Hand zerknüllen. Doch er drehte es nur in seinen Fingern und strich mit einer flüchtigen Geste darüber.

Diese unbedachte Bewegung ließ Samantha Merryweather innerlich aufhorchen. Hatte Gills sie auch bemerkt? Sie forschte vergeblich in seinem Gesicht nach einer Regung.

»Mr. Tahn, mit dem Haftbefehl, den ich gegen Sie erwirkt habe, kann ich Sie beliebig lange festhalten, wenn Sie sich weiterhin weigern, zu kooperieren«, entgegnete er lediglich kühl.

Julians Nasenflügel bebten.

»Was Sie sagen, ist so nicht ganz richtig, Sir«, widersprach die Pflichtverteidigerin. »Wir können jederzeit einen Haftprüfungstermin beantragen, wenn sich der Verdacht, aufgrund dessen der Haftbefehl ausgestellt wurde, im Laufe der Ermittlungen nicht verfestigt.«

Gills zog amüsiert eine Braue hoch. »Vielen Dank für die Belehrung, Miss Merryweather«, bemerkte er trocken.

»Detective Sergeant Gills«, entfuhr es ihr nicht ohne Schärfe. »Dass Sie mit der Prozessordnung vertraut sind, ist mir klar, wenn ich mich auch frage, warum Sie sie dann nicht korrekt wiedergeben. Ich führe das Ganze nur aus, um meinen Mandanten zu informieren. Dafür bin ich schließlich hier.«

Eine unangenehme Stille folgte ihren Worten, und sie versuchte, ihre plötzliche Verärgerung zu bändigen. Tatsächlich lag ihr nichts an einer Konfrontation mit Gills. Das brachte sie beide nicht voran.

Julian Tahn hatte das Wortgefecht schweigend verfolgt, die Fotografie noch immer in der Hand. Jetzt ließ er sie auf den Tisch fallen und schob sie ungehalten von sich. Die Muskeln in seinem Gesicht arbeiteten heftig. »Könnte ich Sie unter vier Augen sprechen?«, stieß er schließlich zu Samantha Merryweather gewandt hervor.

Sie bemühte sich, ihre Überraschung zu verbergen, und sah fragend zu Gills. Der Detective Sergeant zögerte nur einen winzigen Moment. Dann nickte er, nahm seine Unterlagen und verließ den Raum mit den Worten: »Sie finden mich in meinem Büro.«

 

Samantha hatte verstanden, wenn sie Julian Tahn zum Sprechen brachte, verzieh er ihr alles. Die Pflichtverteidigerin zog ihren Stuhl an den Tisch. Unauffällig blickte sie dabei zu der verspiegelten Scheibe. Gills würde sich diese Chance nicht entgehen lassen und beobachtete sie bestimmt. Sie hätte es genauso gemacht.

Ein Dutzend Fragen lagen ihr auf der Zunge, die sie sich jedoch für später aufheben musste. Auffordernd schaute sie Julian an.

Er räusperte sich nervös und verschränkte seine Hände ineinander, als wolle er sie davon abhalten, erneut ein Eigenleben zu entwickeln und etwas zu tun, das er später bereute. »Was muss ich tun, damit Sie mich hier rausholen können?«, fragte er zögernd.

»Sie müssen kooperieren.«

Er schluckte. »Ich habe es versucht.«

Sie legte die Hand auf die Unterlagen. »Ich habe die Vernehmungsprotokolle gelesen, Sir. Ihr Verhalten zeugt nicht gerade von Kooperation. Wenn Sie unschuldig sind, reden Sie. Britische Richter erwarten das.« Sie sah ihm fest in die Augen. »Sind Sie unschuldig?«

»Ich habe meine Frau nicht umgebracht«, entgegnete er und hielt ihrem Blick stand. »Was soll ich denn noch dazu sagen? Ich kann mir ihr Verschwinden genauso wenig erklären wie Sie.«

»Mr. Tahn, in Ihrem Zelt wurde Blut gefunden, das weder von Ihnen noch von Ihrer Frau stammt. Blut, das höchst dilettantisch entfernt wurde. Sie müssen sich dazu äußern, wenn Sie entlassen werden wollen.«

»Ich habe schon dem Detective erklärt, dass das Zelt mehr als vierundzwanzig Stunden unbewacht am Strand stand. Aber er glaubt mir nicht. Er will mir nicht glauben. Er …«

»Er hat keine vorgefestigte Meinung«, fiel sie ihm ins Wort. »Aber Ihr Verhalten ist gelinde gesagt … schwierig. So kommen wir nicht weiter.«

»Hören Sie, ich kann nicht zurück in diese Zelle.«

»Dann fangen Sie endlich an zu reden.«

»Was soll ich denn sagen, zum Teufel?«, erwiderte er lautstark.

Sie zwang sich, nicht zurückzuweichen, ruhig zu bleiben. »Sie kennen den Mann auf dem Foto.«

Julian starrte sie an.

»Ich habe beobachtet, wie Sie die Fotografie angesehen und darübergestrichen haben, als Sie sie in der Hand hielten«, sagte sie eindringlich, »Das macht man nicht mit Bildern von Fremden. Sie kennen diesen Mann, und er bedeutet Ihnen etwas.«

Julian wurde blass.

»Falls Sie mich fragen wollen, ob Gills es auch bemerkt hat … ja, das hat er.«

Er ließ den Kopf in seine Hände sinken.

Samantha Merryweather holte tief Luft. »Mr. Tahn, wenn wir nicht schnell zu einem vernünftigen Ergebnis kommen, werden Sie wieder in Ihre Zelle zurückgehen. Das ist so sicher wie das Amen in der Kirche.«

Seine Schultern begannen zu zucken. »Ich kann nicht. Verstehen Sie das denn nicht? Ich kann nicht zurück!«, entfuhr es ihm gequält. »Ich kann das alles nicht noch einmal durchmachen. Das halte ich nicht aus!« Von einer Sekunde auf die andere begann er auf seinem Stuhl zu schwanken. Er verdrehte die Augen.

Die Anwältin sprang auf und fing ihn auf, bevor er stürzte. Dabei fiel sie fast selbst, als sein volles Gewicht sie traf. Hinter ihr wurde die Tür aufgerissen, und Gills stürmte in den Vernehmungsraum. Gemeinsam legten sie Julian Tahn auf das glatte Linoleum.

»Wir brauchen einen Arzt«, stieß sie hervor. »Am besten einen mit psychologischer Kompetenz. Ich zweifle sowohl die Haft- als auch die Vernehmungsfähigkeit meines Mandanten in seinem jetzigen Zustand an.«