Der Mann war eine tickende Zeitbombe. Das war der Schluss, zu dem John Gills immer wieder gelangte, wenn er Julian Tahn gegenübersaß. Und auch diesmal fragte er sich, was einen gebildeten und augenscheinlich kultivierten Menschen so unberechenbar reagieren ließ. Lag es in den Genen, rührte es aus der Erziehung, oder generierte es sich aus Kindheitserlebnissen? Ein flüchtiger Blick zu Samantha Merryweather zeigte ihm, dass das Verhalten ihres Mandanten sie ähnlich ratlos zurückließ.
Es machte nicht viel Sinn, ihn in dieser Situation weiter zu befragen. Solange nicht der DNA-Beweis vorlag, dass es sich bei der am Strand von Oldshoremore angetriebenen Toten tatsächlich um Laura Tahn handelte, würden sie nicht weiterkommen, obwohl alles, was Julian Tahn ihnen erzählte, den Verdacht erhärtete, dass er seine Frau getötet hatte. Gestehen würde er die Tat aber vermutlich erst unter der erdrückenden Last der Beweise, spätestens wenn er in der Rechtsmedizin mit der Leiche seiner Frau konfrontiert wurde.
Für einen Moment überlegte Gills, ob es hilfreich wäre, Tom Noviak für eine Befragung ausfindig zu machen, aber höchstwahrscheinlich war der Mann längst wieder in Deutschland. Allein wegen des Aufwands, den eine solche Ermittlung beinhaltete, bezweifelte er, dass der Chief Inspector ihm die nötige Genehmigung unterschreiben würde, zumindest nicht, bevor geklärt war, ob es sich bei der Toten tatsächlich um Laura Tahn handelte. Gills nahm das Diktiergerät vom Nachttisch und beendete die Vernehmung mit Angabe des Datums und der Uhrzeit. Er widerstand der Versuchung, sich zu recken und die Augen zu reiben, um so die Anspannung abzustreifen, die sich im Verlauf der letzten Stunde aufgebaut hatte, während er mit halbem Ohr zuhörte, wie Samantha Merryweather mit Julian sprach. »Haben sich aus der Vernehmung für Sie noch Fragen ergeben, die Sie mit mir allein besprechen wollen?«
Ihr Mandant schüttelte lediglich den Kopf, augenscheinlich noch immer zu aufgewühlt für Worte.
Der uniformierte Polizist auf dem Flur sah auf, als John gemeinsam mit Samantha Merryweather aus dem Zimmer trat.
»Schönen Tag noch, Officer«, verabschiedete sich John und reichte ihm seine Karte. »Benachrichtigen Sie mich bitte, wenn etwas sein sollte.«
Mit einem Lächeln tippte der schlanke Mann mit dem Finger an seine Schläfe. »Mach ich, Sir.«
In Gedanken vertieft, eilten der Detective und die Anwältin den langen Flur entlang und die Treppen hinunter dem Ausgang zu. Als die Eingangstür des Gebäudes hinter ihnen zufiel, blieb John stehen. »Ich muss mich noch bei Ihnen bedanken, Miss Merryweather. Sie haben großartige Vorarbeit geleistet.«
Ihre grünen Augen strahlten angesichts des Lobs, und er musste sich eingestehen, dass sie Charme besaß. »Ich denke, es ist in unser aller Interesse, so schnell wie möglich die Hintergründe zu erfahren.«
»Vor allem aber ist es im Interesse, Ihres Mandanten«, gab er zurück.
»Ja, ich bin erleichtert, dass er nicht mehr so verschlossen ist.« Sie strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Stimmen Sie zu, dass er vorerst in der Klinik bleibt?«
»Solange er sich kooperativ zeigt, steht dem nichts im Weg. Allerdings benötigen wir eine medizinische Begründung.«
Sie schenkte ihm einen vielsagenden Blick. »Das sollte kein Problem sein. Ich bin mit dem Psychologen im ständigen Austausch.«
Gills warf einen Blick auf seine Uhr. »Ich muss jetzt los. Kann ich Sie mitnehmen und irgendwo absetzen?«
»Danke, aber ich bin mit dem Fahrrad hier.« Sie wies auf ein beigefarbenes Retro-Rad, das nicht weit von ihnen entfernt mit einem überdimensionierten Schloss an einen Radständer gekettet war.
»Ach, natürlich«, Gills ärgerte sich über seine Unaufmerksamkeit. Sie hatte ihm schon in seiner Dienststelle davon berichtet. »Also, dann …« Mit schnellen Schritten ging er zu seinem dunkelgrauen Audi.
»Warten Sie, Detective!«, rief sie ihm hinterher. »Fahren Sie noch nach Kinlochbervie? Oder hat sich das inzwischen erübrigt?«
Gills zögerte. Tatsächlich wäre er entgegen seiner ursprünglichen Planung lieber in Inverness geblieben, aber verwertbare Ergebnisse aus der Rechtsmedizin würde es vor Ablauf des kommenden Tages nicht geben. »Ich werde fahren, allerdings über Ullapool, weil ich dort noch etwas zu erledigen habe«, entgegnete er. »Ich plane, über Nacht in Kinlochbervie zu bleiben und erst morgen wieder zurückzukommen.«
»Wenn es Sie nicht stört, würde ich Sie wirklich sehr gern begleiten.« Sie lächelte flüchtig. »Ich war noch nie in Ullapool. Es soll sehr pittoresk sein, wie ich gehört habe.«
Er sah sie erstaunt an. »Das ist es in der Tat. Kennen Sie die Westküste nicht?«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich komme aus Perth. Ich war nur einmal in Oban.«
»Dann wird es Zeit, diese Bildungslücke zu schließen«, erwiderte er trocken.
»Wann wollen Sie aufbrechen?«
»In etwa zwei Stunden. Schaffen Sie das?«
»Kein Problem«, beeilte sie sich zu versichern.
»Wirklich nicht? Müssen Sie nicht noch nach Hause, um etwas zu packen?«
»Ich habe alles, was ich für ein bis zwei Übernachtungen benötige, in meinem Büro. Man weiß ja nie, was kommt.«
»Das ist durchaus vorausschauend«, bemerkte er trocken. »Es wird das Beste sein, wenn wir uns auf dem Parkplatz des Northern Constabulary treffen.«
Als er ihr nachsah, wie sie mit wehendem Rock auf ihrem Rad davonradelte, fragte er sich, ob es klug war, sie mitzunehmen. Schließlich wollte er in Ullapool herausfinden, ob sich das, was Laura Tahn über ihren Aufenthalt dort geschrieben hatte, belegen ließ, und dabei wollte er nicht Samantha Merryweather in seinem Schlepptau haben, das würde er ihr freundlich, aber bestimmt beibringen müssen.
Zurück in seinem Büro las er gerade seine Mails durch, als der Chief Inspector in sein Büro trat. »Hat er gestanden?«
»Sir?«
»Der Deutsche, um den Sie so viel Wind machen. Wissen Sie eigentlich, was es unsere Abteilung kosten wird, einen offiziellen Übersetzer für dieses Online-Tagebuch zu bezahlen, das Sie entdeckt haben?« Mortimer Brown schnaufte verächtlich. Auf seiner Stirn standen Schweißperlen. »Seit vier Tagen beschäftigen Sie sich ausschließlich mit diesem Fall. Dabei brauche ich jeden verfügbaren Mann bei der Aufklärung dieses verfluchten Attentats auf die Bahnstrecke.«
Gills erinnerte sich, dass die tägliche Pressekonferenz zu dem Anschlag gerade beendet sein musste. Der Stimmung des Chief Inspectors nach zu urteilen, war sie nicht gut gelaufen. »Geben Sie mir noch einen Tag, Sir, dann stehe ich Ihnen zur Verfügung«, bat er in der Hoffnung, dass Brown ihm in seinem Ärger nicht spontan eine Aufgabe überstülpte, die er jetzt überhaupt nicht gebrauchen konnte. »Ich bin kurz vor der Lösung des Falls.«
Sein Wunsch erfüllte sich nicht. »Das ist mir egal«, erwiderte Brown herrisch. »Melden Sie sich bei Campbell, damit er Sie einteilen kann.« Ohne eine Antwort abzuwarten, verließ er das Büro.
Gills verharrte reglos, bis seine schweren Schritte verklungen waren und am Ende des Ganges eine Bürotür ins Schloss fiel. Dann griff er zum Telefon und rief Greg Campbell an, einen Veteranen im Dienst der Polizei.
»Es gibt ein Problem«, sagte er und versuchte eine Ruhe in seine Stimme zu legen, die er nicht empfand, während er Greg mit wenigen Worten seine Situation schilderte.
»Lass dich von dem Alten nicht ins Bockshorn jagen«, beruhigte ihn Campbell. »Ich hab genug Leute. Schließ deinen Mordfall ab und melde dich, sobald du zur Verfügung stehst. Das kann ja nicht mehr so lange dauern.«
»Du hast was gut bei mir, Greg«, bedankte sich Gills.
»Ich weiß. Und ich werde es auch einlösen«, versprach Campbell, und Gills sah ihn vor sich, wie er sich in seinem Schreibtischstuhl zurücklehnte, sich über die glänzende Glatze strich und grinste.
Gills legte den Hörer auf und atmete erleichtert auf, auch wenn er wusste, dass er gerade seine Seele verkauft hatte. Greg Campbell besaß das Gedächtnis eines Elefanten. Er vergaß nie, wer ihm etwas schuldig war, und pflegte seine Schulden auch einzutreiben. Aber damit würde Gills sich beschäftigen, wenn es so weit war. Jetzt musste er die Frist nutzen, die ihm gewährt worden war. Er fuhr seinen Computer herunter, stand auf und nahm seine Tasche aus dem Schrank. Dabei musste er an Samantha Merryweather denken. Sie bewahrte also auch eine Notfallausrüstung für unvorhergesehene Übernachtungen in ihrem Büro auf. Der Gedanke amüsierte ihn.
Als er sie wenig später auf dem Parkplatz traf, stellte er fest, dass sie ihren Rock gegen eine Outdoor-Hose und ihre Pumps gegen robuste Wanderschuhe getauscht hatte. »Wir fahren in die Highlands, oder?«, verteidigte sie sich, als sie seinen Blick bemerkte.
»Genau«, erwiderte er spöttisch. »Es erwartet uns einsames, unwegsames Gelände. Haben Sie auch einen Fünf-Liter-Kanister Wasser und einen Gaskocher dabei, falls wir liegenbleiben?«
Zu seiner Überraschung fragte sie lediglich: »Sie kommen aus der Gegend, nicht wahr?«
»Ja.«
»Dann haben Sie Nachsicht mit einer romantischen Lowlanderin.«
Sie stellte ihre Reisetasche in den geöffneten Kofferraum.
Anderthalb Stunden später erreichten sie nach ereignislosen neunzig Kilometern Ullapool, und wie erwartet, betrachtete Samantha Merryweather fasziniert die Bucht des Loch Broom mit seinen kleinen weiß verputzten Häuschen, die in den vierziger Jahren schon Oskar Kokoschka zu zahlreichen Aquarellen inspiriert hatten. Seit jener Zeit hatte sich an dem malerischen Anblick kaum etwas verändert. Ullapool war noch immer ein Fischerdorf, einzig die Abgeschiedenheit war gewichen, seitdem von dort die Fähren zu den Äußeren Hebriden ablegten. Dennoch war die Anzahl der Fähr- und Rucksacktouristen an der Uferpromenade sehr überschaubar, als Gills Samantha Merryweather dort absetzte, um sich auf seine Erkundungstour zu begeben. Nach Laura Tahns Beschreibung hatte er eine ziemlich genaue Vorstellung, wo er nach der Bed-and-Breakfast-Unterkunft suchen musste, in der das deutsche Ehepaar untergekommen war.
Er fand sie in einer Seitenstraße nicht weit vom Ortszentrum. Eine ältere Dame öffnete auf sein Klingeln. Unter ihrem freundlichen Lächeln verborgen lag ein abschätzender Blick, der keinen Zweifel darüber ließ, dass sie bei weitem nicht jedem, der läutete, Unterkunft in ihrem Haus gewährte.
»Madam«, grüßte Gills höflich und zückte seinen Dienstausweis. »Detective Sergeant John Gills. Ich komme aus Inverness und habe ein paar Fragen zu Gästen, die Sie unter Umständen beherbergt haben. Darf ich eintreten?«
Ihre Augenbrauen fuhren nach oben, dessen ungeachtet trat sie einen Schritt zurück und öffnete ihm die Tür. »Selbstverständlich, Detective.«
Sie führte ihn in eine Küche, deren altmodische Einrichtung Gills an die seiner Mutter erinnerte.
»Hier sind wir ungestört«, sagte sie und schloss die Tür zum Flur.
Gills setzte sich an den abgewetzten Holztisch und zog die Fotografie von Laura Tahn aus seiner Aktentasche. »Kennen Sie diese Frau?«, fragte er.
Die Hauswirtin zog eine Brille aus der Tasche ihrer Strickjacke, nahm das Foto und hielt es in das Licht, das durch das Fenster fiel.
»Sie war hier. Mit ihrem Mann«, erklärte sie dann.
Eine Welle der Erleichterung durchflutete ihn. »Wann war das? Können Sie sich daran erinnern?«
Über den Rand ihrer Brille hinweg warf sie ihm einen vorwurfsvollen Blick zu. »Wenn ich das nicht mehr kann, junger Mann, dann sollte ich keine Zimmer mehr vermieten.« Sie zog eine Schublade des großen Küchenbüfetts heraus und entnahm ihr ein Notizbuch im DIN-A4-Format.
»Hier haben wir sie«, sagte sie nach einigem Blättern. »Julian und Laura Tahn aus München. Vor zwei Wochen haben die beiden in meiner Pension zwei Nächte verbracht.« Sie reichte ihm das Buch, und er las den Eintrag, den sie dort in ihrer altmodischen Handschrift vermerkt hatte.
»Danke, Madam«, antwortete er höflich, nachdem er ihn mit seinem Handy abfotografiert hatte. »Gab es irgendwelche Vorkommnisse während des Aufenthaltes?«
Sie ließ ihre Brille wieder in ihrer Strickjacke verschwinden und setzte sich ihm gegenüber auf eine Ecke des anderen freien Küchenstuhls. »Ich spreche normalerweise nicht über meine Gäste.«
»Das ist mir schon klar, Madam.«
»Aber Sie erkundigen sich sicher nicht ohne Grund.«
»Sicher nicht, Madam.«
Sie sah ihn aufmerksam an, und er fragte sich, ob sie tatsächlich erwartete, dass er ihr seine Beweggründe darlegte, doch dann begann sie zu sprechen. »Es passiert mir nicht oft, dass ich mich in Menschen täusche, aber in diesem Fall …« Sie schüttelte den Kopf und zog ihre Strickjacke fester um ihre Schultern. »Sie schienen ein nettes Paar zu sein, aber tatsächlich haben sie sich in ihrem Zimmer so fürchterlich gestritten, dass sich die anderen Gäste über sie beschwert haben.«
Gills räusperte sich. »Können Sie mir sagen, worum es ging?«
»Nein, wie sollte ich? Sie haben Deutsch miteinander gesprochen.« Erneut schüttelte sie den Kopf. »Eine entsetzliche Sprache, wenn Sie mich fragen. Sie klingt so hart, vor allem wenn in ihr gestritten wird.«
»Haben die Tahns an beiden Abenden ihres Aufenthaltes gestritten?«
»Nein, nur am ersten.« Sie beugte sich etwas vor. »Ihnen kann ich es ja sagen, Detective. Es war so schlimm, dass ich daran gedacht habe, die Polizei zu rufen. Ich weiß nicht, ob er sie geschlagen hat oder was in diesem Zimmer vorgefallen ist …« Sie seufzte. »Am nächsten Morgen war jedenfalls alles vergessen. Hand in Hand sind sie zum Frühstück heruntergekommen. Sie hat zwar kaum etwas gegessen, aber das hat ja nicht immer etwas zu bedeuten. Die beiden gingen so liebevoll miteinander um, dass ich mich schon gefragt habe, ob es dasselbe Paar war, das uns in der Nacht um den Schlaf gebracht hat.«
»Könnte es sein, dass die beiden bei ihrer Ankunft nicht ganz nüchtern waren?«
»Dann hätte ich ihnen überhaupt kein Zimmer gegeben.« Sie runzelte die Stirn. »Obwohl … wenn Sie mich jetzt so fragen … Die Frau war ausgesprochen still und nicht sicher auf den Beinen, was er damit begründete, dass sie sehr müde sei …«
Gills schob seinen Stuhl zurück. »Madam«, sagte er, »Sie haben mir wirklich sehr geholfen. Ich danke Ihnen.«
Sie sah ihn erstaunt an. »Das war schon alles?«
»Ja, das war alles. Noch einmal herzlichen Dank für Ihre Zeit.«
Sie brachte ihn zur Tür, und er spürte die Fragen, die lauerten. Sie stellte sie nicht, im Gegensatz zu vielen anderen. Wenn sie in den nächsten Tagen vom Tod einer deutschen Touristin in der Zeitung lesen würde, würde sie sich an das Gespräch mit ihm erinnern. Bevor er in seinen Wagen stieg, wandte er sich noch einmal um und winkte. Sie hatte die Hände in den Taschen der Strickjacke vergraben, die viel zu groß wirkte für ihre schmale Gestalt, und blickte ihm besorgt hinterher, den Kopf mit dem sorgfältig frisierten Dutt ein wenig schiefgelegt wie ein kleiner, aufmerksamer Vogel. Er wünschte sich plötzlich, er könnte ihr die Alpträume nehmen, die die Nachricht mit Sicherheit auslösen würde.