John Gills ließ den Telefonhörer sinken.

Laura Tahn war tatsächlich zurück.

Er hatte es nicht glauben wollen – nicht glauben können –, als Julian Tahn es ihm am Telefon vor gut einer Stunde mitgeteilt hatte. Deshalb hatte er Ian Mackay um eine offizielle Bestätigung gebeten.

»Sie ist es«, hatte dieser ihm soeben versichert. »Ich habe ihren Ausweis verlangt. Das Foto ist aktuell, erst ein paar Monate alt.«

Gills kam sich vor wie ein Idiot. Der Deutsche hatte die ganze Zeit über seine Unschuld beteuert, dennoch hatte er ihn in Untersuchungshaft nehmen lassen. Er hatte sich mit dem Chief Inspector angelegt, hatte seine eigentliche Arbeit vernachlässigt …

Entnervt lehnte er sich auf seinem Bürostuhl zurück und schloss für einen Moment die Augen.

Am meisten beschäftigte ihn, dass seine Erleichterung über Laura Tahns offensichtlich unversehrte Rückkehr überschattet wurde von zahlreichen unbeantworteten Fragen, die ihr plötzliches Auftauchen aufwarf. Sie hatte ihren Mann ohne Vorwarnung in der Sandwood Bay zurückgelassen. Was veranlasste eine Frau zu einem solchen Schritt? Warum hatte sie sich während ihrer Abwesenheit nicht gemeldet, und was hatte sie letztlich bewogen zurückzukehren? Wie ging es ihr? Wie ihrem Mann? Das Verhältnis der beiden war alles andere als unbelastet. Was war vorgefallen in der Sandwood Bay?

Gills runzelte die Stirn. Was hatte er falsch gemacht, wovon hatte er sich in die Irre leiten lassen? Was bedeutete das für seine Position im Northern Constabulary? Die Fotografie von Laura Tahn hatte ihn gefangengenommen, seit er den ersten Blick darauf geworfen hatte. Hatte sein Beschützerinstinkt seine Urteilsfähigkeit vernebelt? Oder steckte mehr dahinter? Mit einem Ruck setzte er sich auf, zog seine Schreibtischschublade auf und nahm das Telefonverzeichnis heraus. So ging es nicht weiter. Er musste Abstand gewinnen. Loslassen. War es nicht das, was jedem Polizisten während der Ausbildung immer wieder eingebleut wurde?

»Hallo, Miss Merryweather«, sagte er, als die Verbindung hergestellt war. »DS John Gills.«

»Oh, Detective Gills. Sie haben Glück, dass Sie mich noch erreichen, ich wollte gerade nach Hause fahren«, begrüßte sie ihn.

»Ich kann Ihnen vermutlich Ihren Feierabend versüßen«, bemerkte er. »Es geht um Ihren Mandanten Julian Tahn.« Er machte eine kleine Pause. »Seine Frau ist heute überraschend in Kinlochbervie aufgetaucht.«

»Ach«, entfuhr es ihr erstaunt. »Wie … ich meine, wo …«

Gills lachte. Das erste Mal an diesem Tag. Samantha Merryweather sprachlos zu erleben war schon ein Erfolg an sich. »In etwa so war auch meine Reaktion.«

Bei dieser Bemerkung lachte sie ebenfalls. »Das ist aber auch eine wirklich unerwartete, wenn auch sehr erfreuliche Wendung. Wie geht es ihr? Wo war sie? Und warum ist sie verschwunden?«

Gills seufzte. »Ich fürchte fast, diese Fragen lassen sich nicht zur vollen Zufriedenheit beantworten. Mr. Tahn behauptet weiterhin, dass ihre Streitigkeiten wegen seiner Vergangenheit und Mrs. Tahns Nachforschungen letztlich dazu geführt haben, dass sie Zeit allein verbringen wollte. Um in Ruhe über alles nachdenken zu können, ist sie spontan zum Leuchtturm von Cape Wrath gewandert, was die beiden ursprünglich als gemeinsamen Ausflug geplant hatten.«

»Und da ist sie eine Woche geblieben?« In Samantha Merryweathers Ton schwang Unglauben mit.

Gills hüstelte. »Ja, nun. Ich gebe nur wieder, was mir erzählt wurde. Der Leuchtturm liegt inmitten eines militärischen Schießgebietes, und während der Übungen ist das Gelände ausnahmslos gesperrt. Normalerweise finden diese Übungen im Frühjahr und im Herbst statt. Das weiß ich aus eigener Erfahrung. In diesem Jahr gab es wohl eine Ausnahme, weil ein NATO-Verband vor Ort zeitlich nicht anders planen konnte. Die Sperrung dauerte genau diese eine Woche.«

»Ich nehme an, das haben Sie überprüft«, warf sie ungläubig ein.

»In der Tat«, bekannte er. »Das habe ich.«

»Sicher hätte man von Cape Wrath aus telefonieren können.« Sie räusperte sich. »Aber es ist, wie es ist. Die nicht ganz unkomplizierte Beziehung der Eheleute Tahn geht letztlich nur einen Paartherapeuten etwas an und nicht die Krone Britanniens und ihre Gerichtsbarkeit. Es kommt nicht oft vor, dass sich ein Fall auf so harmlose Weise mehr oder weniger in Luft auflöst. Vielleicht sollten wir einfach dankbar dafür sein.«

»Miss Merryweather, manchmal beneide ich Sie um Ihren Pragmatismus.«

»Aus der Not geboren, Detective. Wer weiß, in was wir unsere Nasen noch stecken würden, wenn wir nur die Zeit dafür hätten.«

Natürlich hatte Samantha Merryweather recht. Nur Laura Tahns gesunde Rückkehr zählte. Was sich zwischen ihr und ihrem Mann abspielte, war ihre private Angelegenheit und nicht die der Polizei. Was aber verursachte diese nagenden Zweifel in ihm? Warum ließ ihn der Fall nicht los? Und warum war er so misstrauisch?

Er ließ die Ereignisse der vergangenen Tage noch einmal Revue passieren. Seine erste Begegnung mit Julian Tahn im Hotel in Kinlochbervie. Das Gespräch mit Peter Dunn. Seine Fahrt mit Ian und Brian in die Sandwood Bay, wo sie das Zelt geborgen hatten.

Das Zelt.

Gills stockte.

Die Blutspuren, die sie im Zelt gefunden hatten und die weder mit Julian noch Laura Tahns DNA übereinstimmten. Er hatte diese Fährte nicht weiterverfolgt. Das Zelt hatte zwei Nächte unbewacht am Strand gestanden, und die Befürchtung, dass weitere Nachforschungen zur Suche der oft zitierten Nadel im Heuhaufen werden könnten, hatte ihn dazu verleitet, die Blutspuren zu ignorieren. Andere Aspekte waren drängender gewesen. Und die Zeit kostbar. Und der Chief Inspector in seinem Nacken.

Alles nur Entschuldigungen.

Er spürte ein vertrautes Kribbeln in seiner Magengegend, wie immer, wenn die vermeintliche Lösung eines Problems greifbar nahe schien. Er öffnete die Akte Tahn, die noch immer auf seinem Schreibtisch lag, doch in diesem Moment hörte er durch das geöffnete Fenster eine Kirchturmuhr schlagen. Seine Pause war gleich zu Ende, und er musste zurück ins Lagezentrum. Aber die Zeit würde reichen, Mackay noch einmal anzurufen.

»Hast du heraushören können, was die Tahns jetzt vorhaben?«, fragte er ohne weitere Einleitung.

»Sie wollen heute noch nach Glasgow. Sie fliegen morgen Mittag zurück nach Deutschland. Warum fragst du?«

»Ich weiß nicht, Ian. Ich habe das Gefühl, dass ich etwas übersehe. Mir scheint, der Fall Tahn ist noch nicht restlos geklärt, auch wenn es im Moment so aussieht.«

»Meinst du nicht, dass du dich da verrannt hast?«

»Hast du nicht selbst heute Vormittag noch gesagt, dass die ganze Sache stinkt?«, erinnerte Gills ihn leicht gereizt.

»Ich kann die beiden nicht ohne triftigen Grund festsetzen«, gab Mackay zurück.

»Das erwarte ich auch nicht«, wiegelte Gills ab. »Du würdest mir schon helfen, wenn du mir sagst, wie deine Begegnung mit den beiden war? Wie war deren Stimmung? Erleichtert? Aufgebracht? Gelassen?«

»Nervös«, erwiderte Mackay spontan. »Vor allem sie war nervös und angespannt.«

»Haben sie etwas zu verbergen, Ian?«, fragte er, einer plötzlichen Eingebung folgend.

»Ich weiß nicht«, entgegnete Mackay vage. »Was sollten sie zu verbergen haben?«

Eine Menge, lag es Gills prompt auf der Zunge, aber er sagte es nicht, sondern verabschiedete sich von Mackay. Was hatte Julian Tahn während der Vernehmungen nicht alles preisgegeben und welche Abgründe hatten sich dabei aufgetan. Warum sollte da nicht noch mehr sein? Aber wie sehr es ihm auch unter den Nägeln brannte, jetzt hatte er nicht die Zeit, dem nachzugehen. Campbell zählte auf ihn, und er wollte ihn nicht enttäuschen. Gills rückte seinen Krawattenknoten zurecht und verließ eilig sein Büro.

Die nächsten Stunden ließen ihm keinen gedanklichen Raum mehr für weitere Überlegungen, dann um 21.48 Uhr konnte Campbell die Verhaftung der Drahtzieher hinter dem Anschlag vermelden, die sich als eine Gruppe politisch Verirrter herausstellten. Bilder der Festnahme flimmerten beinahe zeitgleich über alle Sender: Männer, die mit Jacken über den Köpfen abgeführt wurden von vermummten Polizisten einer Sondereinheit, und ein strahlender Chief Inspector, der den gesamten Bildschirm ausfüllte.

»Großartige Leistung!«, lobte Campbell sein Team und stellte zwei Kisten Bier auf den Tisch.

Er reichte Gills eine geöffnete Flasche. »Du bist wieder frei.«

Gills stieß mit ihm an. »Die vermeintlich Tote ist heute zurückgekehrt.«

»Oh!«, bemerkte Campbell und bedachte ihn mit einem prüfenden Blick. »Du wirkst nicht so zufrieden, wie der Anlass es rechtfertigen würde. Wo hakt es?«

Gills nahm einen großen Schluck. Campbells Anteilnahme setzte sofort wieder die gedankliche Mühle in seinem Kopf in Bewegung. Warum hatte Julian Tahn ihm mitgeteilt, dass seine Frau zurück war? Warum hatte er es nicht einfach dem Zufall überlassen, ob Gills es erfuhr oder nicht?

Mit wenigen Worten informierte er Campbell über den aktuellen Stand.

Der DI betrachtete ihn nachdenklich. »Angriff ist die beste Verteidigung, pflegte mein Vater immer zu sagen.«

Gills starrte seinen Kollegen an.

Natürlich.

Angriff ist die beste Verteidigung.

Es war, als ob Campbells Worte eine Schleuse öffneten. Plötzlich lag in aller Deutlichkeit vor ihm, was er übersehen hatte. Das Blut im Zelt war nicht die einzige Spur, die er nicht weiterverfolgt hatte. Wenn das Bild stimmte, das er vor Augen hatte, war es nur ein Teil der Spur.

»Greg, du hast was gut bei mir«, versprach er aufgeregt. »Wir sehen uns!« Er eilte in sein Büro und blätterte die Akte auf. Dann griff er zum Telefon.

Er telefonierte die halbe Nacht. Als er gegen halb drei Uhr morgens endlich das Licht in seinem Büro ausschaltete, war er vor Müdigkeit grau im Gesicht, gleichzeitig aber auch erfüllt von einer Entschlossenheit, die seinen Körper entgegen aller biologischen Forderungen, weiter antrieb.

Er trat in den Flur hinaus und stellte fest, dass auch in Campbells Büro und in einigen anderen, die am entgegengesetzten Ende lagen, noch Licht brannte. Es verwunderte ihn nicht. Schließlich leitete Campbell mit seinen engsten Mitarbeitern auch die Vernehmungen der am Abend Festgenommenen. Die Detectives saßen vermutlich noch an der Auswertung der ersten Befragungen.

Als er an die geöffnete Tür klopfte, sah der Detective Inspector auf. »Ja?«

»Ich bräuchte noch eine Genehmigung für eine Dienstreise an die Westküste.«

»Jetzt sofort?«

Gills nickte. »Ich habe den Antrag schon vorbereitet.«

»Gib ihn mir und fahr los, ich mach das fertig und klär es später persönlich mit Brown ab, wenn er wieder im Haus ist«, versprach Campbell.

»Danke!«

Wenig später saß Gills in seinem Auto, einen XXL-Becher Kaffee neben sich, den er im Drive-in eines Fastfood-Restaurants gekauft hatte, und fuhr Richtung Nordwesten. Inzwischen war es halb vier Uhr morgens. Er würde Laura und Julian Tahn zwar nicht mehr in Kinlochbervie antreffen, aber wenn sich der Verdacht, den er hegte, bestätigen würde, konnte er sie am Glasgower Flughafen festhalten. Er hatte Mackays Angaben überprüft. Die beiden standen tatsächlich auf der Passagierliste eines Fluges nach München via London am Nachmittag des kommenden Tages.

Der Morgen dämmerte bereits, als er die Kreuzung in Rhiconich erreichte und auf die Straße nach Kinlochbervie abbog. Einen Kilometer weiter war seine Fahrt jedoch unerwartet zu Ende. Vor ihm blinkten gelbe Warnlichter. Dahinter erkannte er die Umrisse eines Lkws, dessen Auflieger quer zur Straße stand, während die Zugmaschine sich an einem Felsvorsprung verkeilt hatte.

Fluchend fuhr Gills seinen Audi an den Straßenrand, wo bereits drei weitere Fahrzeuge abgestellt waren. Er war müde und unter Zeitdruck. Solche Zwischenfälle waren das Letzte, was er jetzt brauchte. Er zog sein Handy aus der Tasche.

»John, verdammt, weißt du, wie spät es ist?«, fluchte Mackay.

»Ich stehe bei dem havarierten Lkw und komme nicht weiter«, entgegnete Gills. »Kannst du mich abholen?«

Mackay war unausgeschlafen und mürrisch, als er zwanzig Minuten später in seinem Dienstwagen die Stelle erreichte.

Gills tat, als ob er es nicht bemerke. »Wann ist das hier passiert?«, fragte er, und wie erwartet lenkte sein ehemaliger Vorgesetzter schnell ein. Mackay ließ nur selten die Gelegenheit aus, von seiner Arbeit zu erzählen.

»Nicht lange nachdem wir telefoniert haben«, berichtete er. »Kurz vor achtzehn Uhr. Ein entgegenkommendes Fahrzeug hat in der Kurve die Spur geschnitten, und der Lkw-Fahrer hat versucht auszuweichen.«

»Ist der Fahrer verletzt?«

»Soweit wir das auf den ersten Blick beurteilen konnten, ist alles okay. Einen Abschleppwagen mit Kran bekommen wir in etwa zwei Stunden. Dann haben wir die Straße hoffentlich gegen neun wieder frei.« Er streifte Gills mit einem Seitenblick. »Und was willst du schon wieder hier?«

»Laura und Julian Tahn lassen mir keine Ruhe«, erwiderte Gills und berichtete Mackay von seinen jüngsten telefonischen Ermittlungen.

Mackay pfiff anerkennend. »Dann hat dich dein Gefühl tatsächlich nicht getrogen«, bemerkte er und grinste mit einem Mal. »In diesem Zusammenhang wird es dich freuen zu hören, dass das deutsche Ehepaar noch hier ist.«

»Sie sind noch hier?« Gills’ Müdigkeit war wie weggeblasen.

»Sie wollten gerade aufbrechen, als der Unfall passierte.«