John Gills strich mit den Fingern über das alte Holz des Gatters, bevor er es für Mackays Dienstwagen öffnete. Er konnte nicht beziffern, wie oft er seit seiner Kindheit schon durch dieses Tor gegangen war. Der Weg zur Sandwood Bay trug viele Erinnerungen in sich, vor allem an die gemeinsamen Wanderungen mit seinem Großvater, der auf dem weitläufigen Gebiet zwischen Blairmore und der Bay seine Tiere hatte weiden lassen. Vorwiegend Schafe waren es gewesen, aber auch eine Herde scheuer Highland-Rinder, von denen man meistens nicht mehr zu sehen bekam als die Ausscheidungen, die sie hinterließen, wenn sie einen der Wege kreuzten. Wenn sie zusammengetrieben, gezählt und selektiert wurden, war Gills jedes Mal aufs Neue erstaunt gewesen, wie viele der braunen, zotteligen Tiere sich in den eigens dafür aufgestellten Gattern versammelten. Und wie unbemerkt sie wieder mit der Landschaft verschmolzen, sobald sie wieder freigelassen wurden. Nicht so die Schafe. Wie große weiße Steine lagen oder standen sie weithin sichtbar herum, und ihr Blöken war in der Stille des Hochlands weithin zu hören, vor allem im Frühsommer, wenn sie nach ihren Lämmern riefen, die mit ihrem ungebärdigen Spiel jeden bezauberten, der sich die Zeit nahm, sie zu beobachten. Und diese Zeit nahm sich nahezu jeder, der sich auf den viereinhalb Meilen langen Weg zu Fuß zum Strand aufmachte, denn Fahrzeuge waren in dem Naturschutzgebiet nur mit Ausnahmegenehmigung gestattet.

Während Ian Mackay den Dienstwagen langsam durch das Tor rollen ließ, warf Gills einen letzten Blick auf den Parkplatz von Blairmore, der nicht mehr war als eine Straßenbucht zwischen den wenigen alten Cottages. Obwohl es noch früh am Tag war, standen bereits einige Wohnmobile und Geländewagen dort und gaben preis, welchen Touristen sie auf dem Weg begegnen würden: Menschen, die einen Regen nicht scheuten und gelernt hatten, festes Schuhwerk zu schätzen, Menschen wie … Susan. Graugrüne Augen und ein herbes Gesicht tauchten vor seinem inneren Auge auf, gepaart mit dem unguten Gefühl eines gärenden, ungelösten Problems. Mit einem entschlossenen Ruck schob Gills das Tor zurück in seine Verankerung. Darüber würde er jetzt nicht nachdenken.

 

Ian schaukelte sie behutsam über den holprigen Weg, auf dem noch die Pfützen des letzten Regens standen. Zu jeder Seite erstreckte sich das mit Heidekraut und Farnen bedeckte wellige Land, das sich erst zum Landesinneren hin zu höheren Bergrücken erhob. Die Sonne zog die Feuchtigkeit dampfend aus dem Boden, die Luft war dunstig, und durch das geschlossene Fenster konnte Gills die Mückenschwärme sehen, die sich schutzsuchend in die Nebelschwaden flüchteten. Die kleinen, nicht mehr als zwei Millimeter großen Insekten verabscheuten die Sonne ebenso wie den Wind, weshalb sie hier in unmittelbarer Nähe der Küste bei weitem nicht solch eine Plage waren wie weiter im Inland. Schließlich tauchte vor ihnen Loch na Gainimh auf, das an diesem Morgen unbeweglich wie ein schimmernder, tiefgrauer Spiegel im Heidekraut lag. Ein paar Wasservögel flogen auf, und eine Gruppe Wanderer am Rand des Sees verfolgte ihren Flug. Sie waren so vertieft, dass sie den Wagen, der hinter ihnen heranrollte, erst bemerkten, als Ian den Motor kurz aufheulen ließ. Hastig traten sie an den Wegrand. Ian bedankte sich winkend.

Als sie die kleine Anhöhe erreichten, die gleichzeitig das Ende des Fahrwegs markierte, stellte Ian den Wagen in einer Abzweigung ab, auf der ein älterer Mann auf sie zukam. Missmutig betrachtete er sie. Anscheinend war er stark kurzsichtig, denn erst als er bei ihnen angekommen war, schien er das Polizeifahrzeug zu erkennen, und seine Miene hellte sich auf. »Ich dachte, da kommt wieder so fußlahmes Volk, das sich an keine Bestimmungen hält«, rief er ihnen knarzend entgegen. »Bin in den vergangenen Tage öfter hier draußen gewesen, und immer stand hier ein fremder Wagen.«

Gills horchte auf. Julian Tahn hatte weder mit ihm noch mit Ian darüber gesprochen, dass er ein Fahrzeug bemerkt hatte, obwohl sie ihn nach Auffälligkeiten befragt hatten.

»Guten Morgen, Mr. Bristol«, begrüßte Ian den drahtigen Alten, und als der Name fiel, klickte es bei Gills. Georg Bristol aus Oldshoremore. Seit seiner Pensionierung hatte er sich völlig der Ornithologie verschrieben, und zu bestimmten Jahreszeiten war er ständig hier draußen anzutreffen. Es war noch nie gut Kirschen essen mit ihm, Gills erinnerte sich, dass er als Jugendlicher hin und wieder mit dem ehemaligen Lehrer der Schule in Durness zusammengerasselt war. Georg Bristol maß den jungen Brian von oben bis unten mit zusammengekniffenen Augen und nickte ihm kurz zu, dann wanderte sein Blick zu Gills und blieb prüfend an ihm hängen. »John Gills?«

»Ja, Sir«, erwiderte Gills. »Freut mich, Sie zu sehen.«

Bristol stützte sich auf seinen Wanderstock. »Sind Sie nicht inzwischen Detective bei der Scottish Police in Inverness?«

»Ja, Sir. Detective Sergeant.«

Bristol schenkte ihm einen weiteren Blick über seine lange, dünne Nase hinweg. »Hätte nicht gedacht, dass aus Ihnen mal was wird.« Übergangslos wandte sich der Alte darauf wieder Ian zu. »Was macht ihr hier draußen?«

»Nur eine Routinesache.« Ian deutete auf die Bay und räusperte sich. »Mr. Bristol, erinnern Sie sich, was das für ein Wagen war, den Sie gesehen haben?«

»Roter Geländewagen, Marke Ford«, kam es wie aus der Pistole geschossen.

»Sie haben sich nicht zufällig das Kennzeichen gemerkt?«

Ein listiges Lächeln huschte über Bristols faltiges Gesicht. »Zufällig nicht, nein. Ich habe es notiert.« Er zog ein kleines Notizbuch aus der Innentasche seiner dunkelgrünen Wachsjacke und blätterte darin. Dann diktierte er Ian mit gerunzelten Brauen die Zahlen- und Buchstabenkombination eines britischen Autokennzeichens. »Im Grunde ist es ein Glück, dass wir uns getroffen haben«, fügte er hinzu, während er das Büchlein umständlich wieder verstaute. »Ich hätte das Ganze sonst vergessen, obwohl ich mir fest vorgenommen hatte, den Fall anzuzeigen.«

Gills spürte, wie ein Lachen in ihm aufstieg, und da er aus dem Augenwinkel bemerkte, dass es Brian ähnlich erging, biss er sich auf die Lippen und konzentrierte sich auf seine Schuhe, bis Ian sich von Georg Bristol verabschiedet hatte und der Mann seines Weges zog.

Ian warf den beiden jüngeren Männern einen strafenden Blick zu. »Es ist noch lang hin und derzeit wollt ihr es euch kaum vorstellen, aber irgendwann werdet ihr auch so alt sein.«

»Aber nicht so schrullig«, platzte es aus Brian heraus.

»Darauf würde ich keine Wette abschließen, mein Lieber.«

»Georg Bristol war schon immer so«, verteidigte Gills seinen rothaarigen Kollegen. »Du hast ihn nicht in der Schule erlebt.«

Ian hob einen warnenden Finger.

»Schon gut«, lenkte Gills ein. »Seine Information ist wertvoll und vermutlich absolut korrekt.«

»Das will ich meinen«, beendete Ian das Thema und wandte sich dem Fußpfad zur Bay zu, der sie von der Anhöhe hinab durch sumpfiges Gelände entlang weiterer Seen führte, bis er vor der Steilküste wieder anstieg. Gills stellte fest, wie sich ehemals eingeschliffene Mechanismen von selbst wieder etablierten. Obwohl er bereits denselben Dienstgrad besaß wie Ian und als Detective eine andere Ausbildung durchlaufen hatte als dieser bei der uniformierten Polizei, war die Hierarchie vor Ort die alte. Ian bestimmte die Richtung, den Ton, die Ermittlung. Gills wusste, dass er sich davon nicht zu sehr beeinflussen lassen durfte, er musste sein eigenes Denken wahren, seine eigene Arbeitsweise, die er im Laufe der Jahre in Inverness entwickelt hatte, und für einen Moment verfluchte er erneut den Chief Inspector, der ihn aus einer Laune heraus mit diesem Fall betraut hatte. Es würde nicht leicht werden.

 

Eine gute halbe Stunde brauchten sie, bis sie einen Blick auf ihr Ziel werfen konnten, und Gills sog das Panorama mit plötzlich klopfendem Herzen in sich auf. Die sandige Bucht zwischen den verwitterten Sandsteinklippen im Süden und den bizarren Felsformationen aus erdgeschichtlicher Frühzeit im Norden war für ihn schon immer ein besonderer Ort gewesen. Auch Ian und Brian verharrten einen Moment in schweigendem Einvernehmen. Unter den Stränden der schottischen Atlantikküste war die Sandwood Bay einzigartig, schon allein wegen ihrer Länge von mehr als zwei Kilometern und den bis zu einhundert Metern aufragenden Dünen, die auf einem Fundament aus Kies und Stein zugleich einen natürlichen Staudamm für das Süßwasserreservoir des Loch Sandwood bildeten. Und obwohl jeder von ihnen seit seiner Kindheit vertraut war mit dem Anblick des weiten Strands und seinen kleinen vorgelagerten Inseln und Klippen, berührte er sie doch immer wieder aufs Neue und brachte ihnen die Sagen und Geschichten in Erinnerung, die mit der Bay verknüpft waren. Geschichten von Meerjungfrauen, Piraten und im Sand der Dünen versunkenen Schiffen. Gills seufzte, und Ian, der anscheinend genau wusste, was in seinem Kopf vorging, verpasste ihm einen freundschaftlichen Hieb. »Nicht träumen. Wir haben noch einiges zu tun und einen langen Heimweg.«

Es war interessanterweise Brian, der auf diese Ansprache hin rot anlief und eilig den schmalen, vom Regen ausgewaschenen Pfad hinunterhastete. Gills folgte ihm etwas langsamer, nicht ohne einen flüchtigen Blick auf das zerfallene Cottage rechts unterhalb von ihnen zu werfen, wo ein paar Schafe wiederkäuend im Schutz der halbhohen grauen Steinmauern lagen.

Als sie endlich die Dünen erreichten, zeigten ihnen frische Fußspuren im Sand, dass sie nicht die Ersten waren, die der Bucht an diesem Morgen einen Besuch abstatteten. Sie folgten ihnen vorbei an Zeichen ehemaliger Fluten, die Algen, Muschelreste und Treibholz bis weit hinter die Gezeitenlinie getragen hatten. Ian schnaufte wie ein Walross, sichtlich bemüht im tiefen Sand nicht zurückzubleiben.

»Lass uns auf den alten Mann warten, sonst kriegt er noch einen Herzinfarkt vor Anstrengung«, bemerkte Brian augenzwinkernd und blieb stehen.

Ian wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Spotte du nur, wir werden schon sehen, wer beim nächsten Sportfest des Countys die Medaillen holt.«

Gills schmunzelte während dieser unbeschwerten Wortgefechte. Manchmal vermisste er diese Nähe, der auch die unterschiedlichen Dienstränge nichts anhaben konnten, nicht hier draußen weit weg von Querelen um Beförderungen und Dienstposten. Gleichzeitig wusste er auch, wie einengend sie sein konnte.

 

Sie fanden das rostrote Zweipersonenzelt am südlichen Ende der Bucht, so wie Julian Tahn es ihnen beschrieben hatte. Gut geschützt vor Blicken und dem Wind vom Meer, duckte es sich am Ausgang der Dünen in eine kleine natürliche Senke.

»Hübsches Plätzchen«, bemerkte Ian und zog ein Paar dünner Gummihandschuhe aus seiner Jackentasche.

Gills hatte seine Handschuhe bereits übergestreift und kniete sich vor den Zelteingang, um den Reißverschluss zu öffnen. Der Sand gab weich und leise knirschend unter seinen Knien nach, und die morgendliche Kühle, die noch in ihm lag, drang durch Gills’ Hose bis auf seine Haut, während sein Blick auf einen blaugrauen Schlafsack fiel, der zusammengerollt auf einer sich selbst aufblasenden dünnen Luftmatratze lag. Dahinter an der Zeltwand ein ungeordneter Kleiderhaufen, ein Fleecepullover, soweit Gills sehen konnte, T-Shirts und eine Hose. Er zögerte, in das Zelt hineinzukriechen und unabsichtlich oder mit Vorsatz etwas zu verändern, und teilte seine Bedenken Ian mit.

»Meine Güte, Gills, wir haben es hier mit einer vermissten Person zu tun und nicht mit einem Mordfall«, erwiderte dieser, und Gills meinte, eine leichte Gereiztheit in seiner Stimme zu hören. Deshalb zog er entgegen seiner eigentlichen Überzeugung sein Smartphone aus der Tasche und machte Fotos vom Inneren des Zeltes, bevor er seine Schuhe abstreifte und hineinkroch. Sofort umfingen ihn Wärme und eine gewisse Stille, allein schon hervorgerufen durch das Fehlen des Windes, der an seinen Haaren und seiner Kleidung zerrte.

Er fotografierte jedes Detail an seinem Platz, bevor er es herausnahm. In den Taschen an den Wänden fand er zwei Bücher, eine Packung mit drei Müsliriegeln und eine Taschenlampe. Eine Flasche mit einer Antimückenlotion, Sonnencreme und einen knappen Bikini. Er rief sich das Foto von Laura Tahn ins Gedächtnis, das ihr Mann ihnen gegeben hatte: eine attraktive Frau mit dunkeln Augen, breitem Mund und eigenwilligen Gesichtszügen, das glatte blonde Haar in einem Pferdeschwanz zusammengefasst. Warum war sie nach dem Auffüllen der Wasserflaschen nicht mehr zurückgekehrt? Was war in der Bucht passiert?

Zigarettenqualm zog ins Zelt und erinnerte ihn, dass Ian und Brian mit der Untersuchung der Umgebung vermutlich längst fertig waren und auf ihn warteten. Er sah sich ein letztes Mal suchend um. Und fand etwas, womit er nicht gerechnet hatte.