Julian Tahn hob beschwichtigend eine Hand, als er Gills’ Bestürzung bemerkte. »Bitte, das ist kein Grund zur Aufregung. Laura droht häufig damit, sich umzubringen. Sie setzt sich gern in Szene und besitzt eine Vorliebe für das große Drama.«
Der Gesichtsausdruck des Kriminalbeamten blieb skeptisch. »Das mag sein, Mr. Tahn, aber es wird dennoch ein Motiv für die Reaktion Ihrer Frau geben.« Seine Stimme verlor nicht ihren scharfen Unterton.
Julian richtete sich auf seinem Platz auf. »Ich habe ihr gesagt, dass ich darüber nachdenke, mich von ihr zu trennen«, erklärte er dann mit fester Stimme.
Flackerte bei seinen Worten etwas in Gills’ Blick? Julian war sich nicht sicher. Der Beamte hatte sich äußerst gut unter Kontrolle. »Das verleiht dem Ganzen natürlich eine völlig neue Dimension«, bemerkte der Kriminalbeamte dementsprechend sachlich. »Was war der Grund für eine solche Äußerung Ihrerseits?«
Julian zögerte. Er war nicht gewillt, dem schottischen Polizisten Details aus seiner Ehe preiszugeben. »Wir hatten in der letzten Zeit heftige Meinungsverschiedenheiten«, erwiderte er ausweichend. »Ich hatte gehofft, dass sich die Situation während des Urlaubs beruhigen würde, aber das Gegenteil war der Fall.«
Der Stift in Gills’ rechter Hand schlug wiederholt auf dem Block vor ihm auf und hinterließ ein Muster aus kleinen, dunkelblauen Punkten auf dem karierten Papier. »Alles, was Sie mir jetzt erzählen, hätten Sie meinem Kollegen gestern Abend bereits mitteilen müssen, spätestens aber mir heute Morgen«, erklärte der Beamte der Scottish Police. »Wir wären den Hinweisen in der Sandwood Bay unter ganz anderen Voraussetzungen nachgegangen.«
»Laura hat sich nichts angetan«, beteuerte Julian.
»Woher wollen Sie das wissen?«
»Ich kenne sie. Sie ist impulsiv und aufbrausend, aber nicht depressiv oder selbstmordgefährdet.«
»Die Impulsivität Ihrer Frau kann sie zu einer Affekthandlung verleitet haben, das sollten Sie nicht unterschätzen. Sie befindet sich in einem fremden Land, hat niemanden, mit dem sie über ihre Probleme reden kann, und gerät so in eine gedankliche Abwärtsspirale …«
»Solange Laura in regelmäßigen Abständen Zugang zum Internet hat, ist sie nicht allein«, unterbrach ihn Julian ungehalten und lauter als nötig. »Über ihr Mobiltelefon tauscht sie sich permanent mit Freunden und Bekannten aus.«
Unangenehmes Schweigen folgte seinem Ausbruch. Gills legte den Stift aus der Hand, griff nach dem Telefon in der Klarsichthülle und ließ es über dem Tisch baumeln, während er Julians Blick suchte. »Wenn dieses Telefon für Ihre Frau so wichtig ist, verstehe ich nicht, warum sie es im Zelt zurückgelassen hat.«
Mit einer Seelenruhe, wie sie nur ein Küstenbewohner in einer solchen Situation aufbringen konnte, legte er das Telefon zurück, griff nach einem der Gebäckstücke, schnitt es auf und bestrich es.
Julian sah ihm zu, wie er schweigend aß, und versuchte, sich wieder zu beruhigen. »Ich weiß nicht, worauf Sie hinauswollen, Detective Sergeant Gills«, sagte er schließlich. »Meine Frau ist vorgestern Morgen zum Loch Sandwood aufgebrochen. Sie wollte Wasser für unseren Kaffee holen und ist nicht zurückgekommen.« Erneut stieg Wut in ihm auf, und er zwang sich und seine Stimme zur Ruhe. »Ich habe die Vermisstenanzeige aufgegeben, weil ich fürchte, dass ihr etwas zugestoßen sein könnte. Wer weiß, wer sich an diesem Morgen sonst noch in der Bucht herumgetrieben hat.«
Gills nahm seine Serviette und säuberte sich seine Finger. Dann griff er nach den Unterlagen, die er mitgebracht hatte, und blätterte darin. »Sie haben bei Ihren beiden vorangegangenen Aussagen über nichts Ungewöhnliches berichtet. Hier steht, dass Sie angenommen haben, über Nacht allein am Strand gewesen zu sein.«
»Das ist richtig«, gab Julian zu.
»Gibt es etwas, das Sie uns bislang verschwiegen haben?«
Julian schwankte. Was riskierte er, wenn er Gills von dem SUV erzählte? »Da war ein Fahrzeug«, entgegnete er zögernd. »Ein roter SUV. Er war dort abgestellt, wo der Weg zur Bay in einen Fußweg übergeht.«
Gills’ Gesichtsausdruck verriet nichts, dennoch konnte sich Julian des Gefühls nicht erwehren, dass der Detective Sergeant bereits von dem Wagen wusste.
»Ein roter SUV, sagen Sie.« Gills ließ ihn nicht aus den Augen.
Julian nickte.
»Wann haben Sie ihn dort bemerkt?«
»Als wir vor vier Tagen auf dem Weg in die Bucht waren, stand er bereits da, und als ich allein zurückgegangen bin, stand er immer noch dort.« Er hielt Gills’ Blick stand. »Oder wieder.«
»Sind Sie Personen begegnet, zu denen dieser Wagen gehören könnte?«
»Wir haben einige Menschen gesehen. Das Wetter war gut, und es ist nach wie vor Hochsaison, soweit ich weiß«, antwortete Julian so gleichmütig wie möglich. »Wie soll ich wissen, wer von ihnen mit dem SUV gekommen ist?«
Gills zuckte mit den Schultern. »Die meisten Wanderer, die sich nach Sandwood aufmachen, haben ein Minimum an Ausrüstung dabei. Wasser, Nahrung, Regenkleidung und feste Schuhe. Wer mit einem Fahrzeug bis auf anderthalb Meilen an die Bucht heranfährt, kommt unter Umständen ohne all das aus.«
»Uns ist nichts aufgefallen«, wiederholte Julian bestimmt.
Gills beließ es dabei und schob seine Unterlagen zusammen. »Wir haben das Foto Ihrer Frau und die Vermisstenanzeige an alle Polizeidienststellen des Landes herausgegeben. Der nächste Schritt wäre, die Information an die Presse weiterzuleiten.« Er sah Julian ernst an. »Das werde ich aber nicht ohne Absprache mit Ihnen veranlassen und auch nicht, bevor Sie Ihre Familie in Kenntnis gesetzt haben.« Er stand auf. »Ich möchte Sie bitten, das umgehend zu tun. Unter Umständen tauchen Fragen auf, mit denen wir uns an Ihre Angehörigen wenden müssen. Da ist es besser und auch schonender für alle Beteiligten, wenn diese bereits informiert sind.« Er nahm das Mobiltelefon vom Tisch. »Ich werde das Telefon Ihrer Frau zur Auswertung mitnehmen.«
»Sicher«, erwiderte Julian und hörte selbst, wie gepresst seine Stimme klang.
Er begleitete Gills zur Tür. Bevor dieser zu seinem Wagen ging, wandte er sich noch einmal um. »Ich möchte Sie bitten, sich zu unserer Verfügung zu halten.«
Julian runzelte die Stirn. »Ist das die höfliche Form eines Hausarrestes?«
»Keineswegs. Ich gehe lediglich davon aus, dass es in Ihrem eigenen Interesse ist, erreichbar zu sein.«
Julian beobachtete, wie Gills davonfuhr. Im Kofferraum des Wagens lag das Zelt. Er hatte gesehen, wie Gills es zusammen mit dem jungen rothaarigen Polizisten eingeladen hatte. Sie hatten miteinander geflachst und gelacht, das hatte er am Tonfall ihrer Stimmen erkannt. Verstanden hatte er kein Wort, denn auch die Polizisten verfielen in ihren Dialekt, sobald sie unter sich waren.
Der Audi bog um eine Kurve und verschwand aus seinem Blickfeld. Was würde die Untersuchung des Zelts ergeben? Julian wagte nicht, daran zu denken. Ebenso wenig wie an das Telefon, das Gills scheinbar so gedankenlos in seine Tasche gleiten ließ. Für Gills war das reine Routine. Am Abend würde er nach Hause gehen und ausblenden, was geschehen war. Das war der Unterschied zwischen ihnen. Julian konnte nichts ausblenden. Was geschehen war, war ein Teil von ihm. Er atmete Erinnerungen und Bilder, von denen er sich nicht befreien konnte. Nicht einmal im Schlaf. Er blickte landeinwärts über den Hafen von Kinlochbervie, wo gerade ein großes, von einem kreischenden Schwarm Möwen begleitetes Fangschiff anlegte. Dahinter erstreckte sich Loch Inchard, dessen Wasser an diesem sonnigen Tag in einem tiefen Blau leuchtete. Zu beiden Seiten des Fjords stiegen die schroffen Küstenberge auf und boten ein wildes und unberührtes Panorama. Julian, der sonst so empfänglich für solche Anblicke war, nahm die Schönheit der Landschaft nicht einmal wahr. Vor seinem inneren Auge tauchte Lauras entsetztes Gesicht auf, er sah, wie sie hektisch ihre Fäuste ballte und wieder löste, eine Ersatzhandlung, die sie immer dann überkam, wenn der Stress zu groß wurde und sie kein anderes Ventil fand. Julian schauderte. John Gills wusste nichts. Einfach nichts. Wie sollte er auch.