Es war ein warmer Tag, keine Wolke trübte das Blau des Himmels, und vom Atlantik her wehte eine kräftige Brise, die ihr das Haar aus dem Gesicht blies und das Shirt gegen den Körper drückte. Wie ein dichter grüner Teppich erstreckte sich das Gras vor ihr. Die kurzen Halme waren noch feucht und kitzelten sie zwischen den Zehen. Barfuß über eine Wiese zu laufen war für sie seit ihrer Kindheit ein Gefühl von Freiheit, das vor der Weite des Meeres und den fast senkrecht abfallenden Felsen noch intensiver war.

Sie wagte sich vor bis an die Abbruchkante, wo der Wind wie durch Zauberhand plötzlich abflaute, und blieb lauschend stehen. Tief unter ihr schäumte donnernd das Wasser gegen die Felsen, Möwen kreisten schwerelos über der spritzenden Gischt – kleine weiße Punkte vor dem dunklen Braun der Felsen und dem tiefen Blau des Atlantiks, dessen Untiefen türkisgrün schimmerten.

Sie nahm das Fernglas aus der Tasche über ihrer Schulter und hielt auch heute Ausschau nach Walen. Orcas wurden hier am Eingang des Minches oft beobachtet, hatte Maggie ihr erzählt, doch sie hatte noch keinen zu Gesicht bekommen. Auch heute entdeckte sie keine Flosse in den Wellen, das Einzige, was sie sah, war ein Containerschiff am Rand des Horizonts. Und einen Frachter, der aus dem Pentland Firth langsam näher kam.

Sie ließ das Fernglas sinken, und ihr Blick wanderte nach Süden. Die Luft war so klar, dass sie jedes Detail der mächtigen Klippen erkannte, die hier die zerklüftete Linie der Küste bildeten. In der Ferne ragte Am Buachaille, der hohe schmale Brandungspfeiler am südlichsten Punkt der Sandwood Bay, wie eine Nadel aus dem Wasser. Der Anblick war faszinierend, und doch fröstelte es sie, als ob die Sonne unversehens an Kraft verlor. Sie schlang die Arme um ihren Körper, und der Felsen verschwamm vor ihren Augen, als ihr die Tränen kamen.

Die Zeit, die ihr geschenkt worden war, war zu kurz gewesen, um zu heilen, was in ihr zerbrochen war. Alles in ihr wehrte sich gegen den drohenden Abschied.

Sie wollte nicht zurück!

Sie wollte nicht fort aus dieser geschützten Umgebung, in der sie so unverhofft Zuflucht gefunden und wieder zu sich gefunden hatte. Und in der sie schließlich begriffen hatte, was geschehen war.

Und welchen Anteil sie daran hatte.

Sie wischte sich die Tränen weg und verstaute das Fernglas wieder in der Tasche. Nicht einmal mehr eine Stunde, dann würde der Bus kommen. Maggie hatte bereits mit dem Fahrer telefoniert.

Langsam ging sie zurück zum Leuchtturm. Die drahtige Wirtin stand wie so oft neben dem roten Nebelhorn. Ihr kurzes graues Haar schimmerte in der Sonne wie ein Silberhelm. Maggie hatte nichts gefragt, sondern schweigend akzeptiert, dass der Zufall ihr eine durchnässte junge Frau ohne Gepäck und mit Entsetzen in den Augen auf die Türschwelle spülte. »Hier draußen«, hatte sie erklärt »gibt es keine unnötigen Fragen. So haben wir es schon immer gehalten.«

Der Tag ihrer Ankunft war dunkel und regenverhangen gewesen, und der Anblick des weißen Leuchtturms am nordwestlichsten Zipfel des Festlandes, der sich so trotzig in den grauen Himmel gereckt hatte, war ihr wie ein Sinnbild erschienen.

Nun musste sie Maggie jedoch verlassen, ohne dass diese wusste, wer eine Woche unter ihrem Dach gelebt hatte. Und was diese Frau getan hatte. Sie wünschte sich sehnlichst, dass Maggie es auch nie erfahren würde. Dass sie nicht zu einer ihrer Geschichten werden würde, die sie den Touristen erzählte, die auf den acht Stühlen in ihrem kleinen Café Platz fanden, Cola tranken und über den Leuchtturm und seinen Erbauer, den Großvater von Robert Louis Stevenson, dem Erfinder der Schatzinsel, sprachen.

Maggie kannte so viele Geschichten. Über die Bewohner, die hier lebten und gelebt hatten. Über die Tiere. Und über das Militär, das seit bald einhundert Jahren in dieser menschenleeren Gegend seine Manöver abhielt.

»Normalerweise erst wieder im Herbst«, hatte sie gemurmelt, als sie bei ihrer Ankunft die Tür hinter ihr zugezogen hatte. »Aber was ist schon normal heutzutage? Zeitverschwendung, auch nur darüber nachzudenken.«

Sie wollte es zunächst nicht glauben, was Maggie ihr eröffnete. Dass sie Gefangene waren auf dem Gelände des Leuchtturms. Eingesperrt innerhalb eines Gebietes, das von See aus beschossen wurde. Doch dann hatte sie durch das Fernglas mit eigenen Augen die Kriegsschiffe vor der Küste gesehen und das Krachen der Explosionen gehört, die das Land erschütterten.

Eine Woche lang hatte es gedauert, bis an diesem Morgen die letzten grauen Schiffe die Gewässer verlassen hatten und die Sperrung von Cape Wrath aufgehoben wurde.

Nun würden die Touristen zurückkehren, wie Maggie erleichtert festgestellt hatte. Die Saison währte nicht mehr lang, nur noch einen Monat. Ab Oktober würden keine Besucher mehr kommen, und Maggie würde den langen Winter allein verbringen.

Als sie nun den kleinen Bus um die letzte Kurve biegen sah und die erwartungsvollen Gesichter der fünfzehn Menschen erblickte, beneidete sie Maggie um ihr abgeschiedenes Leben.

Als sie es Maggie zum Abschied anvertraute, lachte diese. »Keine vierzehn Tage würdest du es aushalten, wenn die Stürme um den Turm fegen und die Dunkelheit sich über Tage nicht hebt. Dafür, mein Kind, bist du zu jung.« Ein Finger hatte ihre Wange berührt. »Und zu unschuldig.«

Sie lehnte sich in diese flüchtige Liebkosung, sog die Worte begierig auf. Unschuldig. Strahlte sie das tatsächlich aus? Sie konnte es nicht glauben und wurde so heftig von Scham überwältigt, dass ihr übel wurde. Was würde Maggie von ihr denken, wenn sie erfuhr, was geschehen war?

Fast hätte sie Maggie gebeten, bleiben zu dürfen, doch sie wusste, nun, da der Kontakt zur Außenwelt wiederhergestellt war, würde sich, in dieser dünn besiedelten Gegend, die Nachricht von einer jungen Deutschen auf Cape Wrath schnell verbreiten. Es würde Fragen geben, auf die sie keine Antworten hatte.

Und dann war es so weit, sie saß im Bus.

Maggie hatte für sie den Platz in der ersten Reihe neben dem Fahrer erkämpft, der das Gefährt im Schneckentempo über holperige Wege durch das Schießgelände lenkte. Maggies Silberhelm schrumpfte sehr schnell zu einem kleinen leuchtenden Punkt in der Einfahrt zum Leuchtturm.

 

Der Fahrer war ein jovialer, rotgesichtiger Mann, der neugierig Fragen stellte, aber sie tat, als verstünde sie ihn nur schlecht, und so wandte er sich schließlich den anderen Fahrgästen zu. Es dauerte fast eine Dreiviertelstunde, bis sie endlich den Anleger erreichten, wo ein kleines offenes Boot auf sie wartete, um sie auf die andere Seite des Kyle of Durness zu bringen. Dort würde, das hatte Maggie für sie bereits telefonisch arrangiert, bei ihrer Ankunft ein Taxi für sie bereitstehen.

»Es wird dich zurückbringen«, hatte Maggie gesagt. Und ihr Blick sagte, wo auch immer du hergekommen sein magst.

Sie tastete nach dem Geld in ihrer Jackentasche. Zwanzig Pfund. Es war das Einzige, was sie mitgenommen hatte, weil es zufällig in der Tasche ihrer Wetterjacke gesteckt hatte. Sie hatte das Geld Maggie geben wollen, doch die hatte ihre Finger wieder darum geschlossen und den Kopf geschüttelt. »Du warst mein Gast. Mehr konnte ich nicht tun.«

Sie hatte sich verzweifelt gewünscht, ihr alles anvertrauen zu können, um Schutz zu finden vor den düsteren Träumen, die sie quälten, und der entsetzlichen Schuld, die sie verspürte. Rat zu finden. Aber sie hatte es nicht gewagt. Jetzt beobachtete sie gemeinsam mit den anderen Passagieren, wie sie sich dem anderen Ufer näherten. Sie sah das wartende Taxi und sehnte sich nach dem Gefühl von feuchtem Gras unter ihren nackten Füßen, nach dem Anblick des Wassers, das tief unter ihr gegen die Felsen brandete, und dem schwerelosen Tanz der Möwen.

 

Der Taxifahrer, ein bulliger Mann mit einem Tattoo auf dem rechten Unterarm, stieg aus, als sie den niedrigen Pier erreichten, legte mit Hand an, um das Boot festzumachen und beim Aussteigen zu helfen. Suchend glitt sein Blick über die Männer, Frauen und Kinder, bis er sie bemerkte.

»Sind Sie Laura Tahn?«, fragte er in breitem schottischem Dialekt.

Sie nickte beklommen.

»Ich soll Sie nach Kinlochbervie fahren.«

»Ja«, entgegnete sie leise. »Dahin muss ich zurück.«