Als John Gills den Flur betrat, in dem Liams Büro gleich neben dem Labor der IT-Forensik lag, hörte er bereits, dass es Probleme geben würde, und ein Blick auf seinen Freund, der mit leidendem Gesichtsausdruck und dem Telefonhörer am Ohr hinter seinem Schreibtisch saß, bestätigte seine Befürchtungen. Liam telefonierte mit seiner Frau. Als er Gills entdeckte, hielt Liam wortlos den Hörer in den Raum, und Gills konnte selbst über die Distanz den Wortschwall hören, der sich daraus ergoss.
»Love«, sagte Liam beschwichtigend, als er den Hörer wieder ans Ohr nahm, »bitte, lass es mich dir noch einmal erklären …«
Ein erneuter Wortschwall war die Antwort.
»Das hast du angerichtet«, begrüßte ihn Liam vorwurfsvoll, während er die Sprechmuschel mit der Hand abdeckte. »Mit diesem verfluchten Telefon, das du mir gebracht hast.« Er nahm die Hand von der Muschel. »Amy, nein, versteh das bitte nicht falsch …«
»Wo ist das Problem?«, wollte Gills wissen.
»Sie glaubt nicht, dass ich länger arbeiten muss. Sie glaubt … Amy, Himmel, nun hör mir doch mal zu!«
»Soll ich mit ihr reden?«
Liam winkte gestikulierend ab und legte einen Finger auf seine Lippen. Er war einer jener dunkel gelockten irischen Bastarde, wie Gills ihn immer gern aufzog, mit dem Blick eines Zigeuners und der Seele eines kleinen Jungen, der nichts als Unfug im Kopf hatte. Im Kreise der eher blassen Briten war er natürlich ein Mann, der die Augen der Frauen auf sich zog, und Amy war stets auf der Hut. Gills hatte schon so manche Szene erlebt, die sie Liam gemacht hatte, wenn er seinen Freund nach einem gemeinsamen Billardabend nach Hause gebracht hatte, weil Liam zwar noch hatte spielen und gewinnen können, aber zu betrunken gewesen war, um allein aufs Klo zu gehen. Er hatte Liam dann die Treppe des schmalen Reihenhauses nach oben geschoben, in das er mit Amy nach ihrer Hochzeit gezogen war, ihn ins Gästezimmer verfrachtet und sich danach zu Amy ins Wohnzimmer gesetzt und ihre Klagen angehört, in der Hoffnung, dass es seinen Freund am nächsten Morgen nicht ganz so hart traf. Was Amy nach mehr als zehn Ehejahren immer noch nicht begriffen hatte, war, dass ihr Mann sie aufrichtig liebte und niemals betrügen würde. Außer mit seiner Leidenschaft für Billard und einer guten Flasche Whisky.
Gills trat ans Fenster, während Liam seiner Frau erklärte, dass er tatsächlich noch immer im Büro saß, dass er nüchtern war und auch nicht plante, sich im Anschluss an seine Arbeit zu betrinken. »Ich komme sofort nach Hause, wenn ich mit John die Auswertung besprochen habe, Liebes. Und je eher ich das mache, desto eher bin ich bei euch. Küss die Mädchen von mir.« Mit einem Seufzer der Erleichterung ließ er den Hörer auf die Gabel fallen und sank in seinen Stuhl zurück. »Eines Tages bringt diese Frau mich um«, sagte er matt. Als er dann jedoch zu Gills aufsah, veränderte sich sein Gesichtsausdruck schlagartig. »Mein Freund, ich habe etwas für dich«, kündigte er mit breitem Grinsen an.
Gills schaute ihn erwartungsvoll an, aber Liam schüttelte den Kopf und machte eine unmissverständliche Geste mit dem Zeigefinger seiner rechten Hand. »Nein, nein, mein Lieber. Erst handeln wir den Preis aus.«
»Den Preis?« Gills zog eine Augenbraue hoch. »Wir sind im Dienst!«
Liam reckte sich und stand von seinem Stuhl auf. »Wenn wir im Dienst wären, wie du so schön sagst, würde das Telefon, das du mir gebracht hast, noch immer dort drüben in der Schublade liegen, wo ›Eingang‹ und ›zu bearbeiten‹ draufsteht.«
Gills seufzte. »Das ist Erpressung.«
»Natürlich.«
»Und? Was ist dein Preis?«
»Du zahlst den nächsten Billardabend, zu dem wir uns am Tag nach der Aufklärung deines aktuellen Falls treffen werden.«
»So viel Rücksichtnahme hätte ich jetzt nicht erwartet.«
Liam grinste erneut. »Ist auch nicht meine Art, aber die Ergebnisse meiner Auswertung lassen mir keine andere Wahl.«
»Was hast du herausgefunden?« Gills versuchte, sich seine Spannung nicht zu sehr anmerken zu lassen, doch Liam ließ sich nicht täuschen. Er zog eine schmale Akte aus dem Schrank und hielt sie Gills hin. Als dieser danach greifen wollte, zog Liam sie jedoch zurück. »Du zahlst?«
Gills nickte wortlos.
Die Akte enthielt nur wenige Blätter. Die erste Seite war leer, bis auf eine Zahlen-Buchstaben-Kombination, die prominent in der Mitte prangte. Liam besaß einen Hang zur Dramatik.
»Du hast den Code geknackt«, stellte Gills mit einem einzigen Blick darauf erleichtert fest.
»Nicht ich«, gestand Liam. »Dazu verfügen wir in dieser Abteilung nicht über die nötigen Ressourcen. Erinnerst du dich an Andy Mitchell?«
Gills runzelte die Stirn. »Ist er nicht inzwischen in dieser Einheit zur Abwehr von Internet-Kriminalität?«
»Richtig«, bestätigte Liam. »Er war mir noch einen Gefallen schuldig. Zum Glück. Denn beim MI5 kenne ich niemanden, und die Geheimdienste sind normalerweise die Einzigen, die über die nötige Rechenleistung verfügen, um solche Codes zu knacken, aber die sind derart auf ihre Terrorabwehr fokussiert, dass du sie wegen solcher Lappalien gar nicht ansprechen darfst.« Er tippte mit dem Finger auf die Seite mit der Buchstabenkombination, die Gills in der Hand hielt. »Du weißt jetzt also, welchen Schatz du hier in Händen hältst.«
Gills strahlte seinen Freund an. »Das ist großartig, Liam. Danke.«
Die nächste Seite enthielt Text. Deutschen Text. Gills starrte darauf, ohne etwas zu verstehen, nur einzelne Wörter stachen aus der Bleiwüste hervor. Namen. Orte. Er sah ratlos zu Liam.
»Blätter um!«, forderte dieser ihn auf.
»… heute Mittag haben wir Kinlochbervie erreicht. Der bedeutendste schottische Fischereihafen laut einem einschlägigen Reiseführer. Verdammt, darunter hatte ich mir wirklich etwas anderes vorgestellt als diese paar Häuser und diesen lächerlich kleinen Supermarkt. Als wir im Hafen aus dem Bus gestiegen sind, habe ich nachträglich den Blick des Fahrers einordnen können, als Julian ihm in Ullapool sagte, was unser Ziel ist …«
Gills ließ das Blatt sinken. Schluckte. »Ist es das, was ich meine, das es ist?«
Diesmal war es Liam, der stumm nickte.
»Wer ist für die Übersetzung verantwortlich?«
»Wir haben eine Kollegin in der Buchhaltung, die vor Jahren aus Deutschland hergezogen ist, nachdem sie sich im Urlaub in den Guide ihrer Highland-Tour verliebt hat.«
»Ich …«, begann Gills, wusste aber nicht, wie er fortfahren sollte.
Liam verstand sehr wohl, was in ihm vorging. »Es handelt sich tatsächlich um eine in einer Cloud gespeicherte Word-Datei, eine Art Reisetagebuch. Und Sonja, so heißt unser deutsches Goldstück, hat uns die ersten beiden Seiten übersetzt. Ich fürchte, den Rest müssen wir aus rechtlichen Gründen jedoch einem Spezialisten überlassen.«
Gills wies auf das Papier in seiner Hand. »Es gibt also mehr als das hier?«
»Ja, sicher«, versicherte Liam. »Tatsächlich handelt es sich um mehrere Dateien, von denen jede einzelne noch einmal mit einer vierstelligen PIN geschützt ist. Andy hat vorerst nur diese eine dechiffriert. Die Auswahl haben wir gemeinsam anhand des Datums der letzten Speicherung und des Dateinamens, in diesem Fall ganz profan ›Schottland‹, getroffen …«
»Moment«, unterbrach Gills ihn. »Lass mich das einmal zusammenfassen: Laura Tahn hat einen Speicherplatz in einer Cloud, wo sie Dokumente abgelegt hat.«
»Richtig.«
»Das Ganze ist mit diesem Code aus Zahlen und Buchstaben verschlüsselt.« Er wies auf das Blatt in der Akte, auf der lediglich die Kombination stand.
Liam nickte.
»Und zusätzlich ist jedes einzelne Dokument in diesem Cloud-Speicher noch einmal durch eine vierstellige PIN gesichert.«
»Ja.«
»Was hältst du davon?«
»Diese Frau dürfte sehr aufmerksam verfolgt haben, was Edward Snowden zum Thema Datensicherheit gesagt hat. Sie will unter allen Umständen vermeiden, dass jemand Zugriff auf die Dateien hat, die sie dort hinterlegt hat. Es handelt sich übrigens ausschließlich um Textdateien. So viel konnten wir schon herausfinden.«
»Weißt du, was drinsteht?«
»Ich kann genauso wenig Deutsch wie du.« Liam wies auf die Akte. »Am Ende des Textes findest du den Link zu dem Ordner, den ich in unserem internen System angelegt habe, da ist alles gespeichert.«
Gills klopfte seinem Freund herzlich auf die Schulter. »Liam, das ist mehr, als ich erwartet habe. Ich werde mich dafür revanchieren.«
»Ich hab meinen Preis genannt«, entgegnete Liam, während er seine Jacke von dem Haken hinter seiner Bürotür nahm. »Natürlich musst du mich beim Snooker auch gewinnen lassen, damit es für mich der perfekte Abend wird«, fügte er augenzwinkernd hinzu.
»Alles, was du willst«, versprach Gills.
Sonja Stanfield war nicht mehr an ihrem Arbeitsplatz. Gills hatte versucht, sie telefonisch zu erreichen, um sich persönlich bei ihr für ihre Unterstützung zu bedanken. Das musste nun bis zum nächsten Morgen warten. Aber ein Blick auf seine Armbanduhr sagte ihm, dass es inzwischen auch schon nach neunzehn Uhr war. Aus alter Gewohnheit strich er mit dem Finger über das Glas und erinnerte sich dabei ungewollt an den Abend, an dem ihm Susan diese Uhr geschenkt hatte. Natürlich hatte er sie nicht besucht, als er in Kinlochbervie gewesen war, und natürlich hatte es deswegen wieder eine Auseinandersetzung mit seinem Vater gegeben. »Dein Sohn ist jetzt bald ein halbes Jahr alt und wächst ohne Vater auf. Er kennt dich nicht einmal«, hatte der alte Mann ihm zum wiederholten Male vorgeworfen.
Sein Sohn.
Gills merkte, dass allein der Gedanke daran genügte, ihn erneut zu reizen. Sein Vater war nicht willens zu begreifen, dass Susans Alleingang für immer zwischen ihm und diesem Kind stehen würde. Gills ließ den Ärmel seines Hemdes über die Uhr an seinem Handgelenk gleiten. Es war nicht sinnvoll, fortwährend darüber nachzudenken. Er hatte Arbeit zu erledigen, die keinen Aufschub duldete, und er durfte sich gerade jetzt keine Ablenkung erlauben.
Deshalb gab er ohne weitere Verzögerung sein Passwort in seinen Computer ein und dann den Link, den Liam ihm aufgeschrieben hatte. Er fand darunter einen Ordner mit der Bezeichnung »Laura Tahn« und atmete tief durch, als er die entsprechende Datei mit einem Doppelklick öffnete. Endlich würde er eine Stimme zu dem Foto erhalten, zu den langen blonden Haaren, den Sommersprossen und dem zu breiten Mund, dem knappen Bikini und dem mädchenhaften T-Shirt mit dem Smiley. Er hoffte, dass es eine wesentlich persönlichere Stimme sein würde als die, mit der sich Laura Tahn auf Facebook und in ihrem Blog präsentierte, wo ihre vermeintliche Offenheit darüber hinwegtäuschte, dass sie tatsächlich nur das preisgab, was sie andere von sich sehen lassen wollte.