Peter, was ist heute bloß los mit dir? Du stehst ja nur rum!«

Peter schrak zusammen, als er den fragenden Blick von Kenneth, dem Vorarbeiter seiner Schicht, bemerkte.

»Ich weiß nicht«, murmelte er. »Mir ist heute den ganzen Vormittag schon nicht gut.«

»Dann geh zum Arzt, lass dich krankschreiben und kurier dich aus.« Kenneth blickte auf den Plan an der Wand. »In der nächsten Woche brauchen wir euch alle, denn dann haben wir bis über beide Ohren zu tun.«

Peter sah Kenneth nach, einem vierschrötigen Mann in den Vierzigern, der meistens nicht auf Antworten wartete, wenn er Fragen stellte. Dennoch war er, so fand Peter, ein ganz netter Kerl. Man musste ihn nur zu nehmen wissen.

An diesem Tag war Peter dazu aber nicht in der Lage. Er fühlte sich so elend, seit er gesehen hatte, wie Ian und Brian die Leiche von Julian Tahn gebracht hatten, und seit er gehört hatte, dass in der Sandwood Bay ein weiterer Toter entdeckt worden war. Er hatte Fischkisten falsch gestapelt und eine ganze Fuhre Eis ausgekippt. Bis zum Mittag hatte er gebraucht, um alles wieder in Ordnung zu bringen, und dabei ständig an den Deutschen gedacht. An ihre erste Begegnung hier im Hafen, als er an Bord seines Bootes gewesen war, und Julian und Laura Tahn langsam den Pier entlanggekommen waren, die schweren Rucksäcke geschultert. Die junge Frau hatte ausgelassen gelacht. Ihr Mann war zurückhaltender gewesen, viel zurückhaltender. Peter hatte sich nichts dabei gedacht, erst später, als es zu dem entsetzlichen Streit an Bord gekommen war, hatte er das Verhalten des Mannes verstanden. Niemals hätte er ihnen die Bootstour angeboten, wenn er damals schon geahnt hätte, wie viel Verderben das Paar mit sich brachte. Außerdem hätte er ihnen den Besuch in der Sandwood Bay ausgeredet. Aber dafür war es jetzt zu spät.

Julian Tahn war tot.

Und er, Peter, hatte das kommende Unheil gespürt und nichts dagegen unternommen. Nichts. Als der Deutsche im Hafen vor ihm gestanden hatte, war seine üble Vorahnung so intensiv gewesen, dass er sie zunächst für sein eigenes Ende gehalten hatte.

Er hatte Julian Tahn nicht gewarnt.

Und das war der eigentliche Grund, warum er sich an diesem Morgen so erbärmlich fühlte, dass er nicht einmal das Frühstücksbrot aß, das Fionna ihm gemacht hatte.

Was sollte er nun tun?

Zum Arzt wollte er nicht. Allistar Munroe stellte immer zu viele Fragen. Aber er wollte Kenneth auch nicht widersprechen. Also streifte er Schürze und Handschuhe ab, reinigte seine Stiefel und ging zu seinem Spind. Nachdem er sich umgezogen hatte, schwang er sich auf sein Fahrrad und machte sich auf den Weg. Er war gerade bei der alten Kirche angelangt, wo die Straße voller Schlaglöcher war, als ein Wagen neben ihm langsamer wurde. Hinter dem Steuer saß der junge Gills.

Peter hielt an.

»Hallo, Mr. Dunn«, begrüßte ihn der Detective durch die geöffnete Beifahrerscheibe. »Haben Sie es eilig?«

Peter rieb sich die Nase. »Ich bin auf dem Weg zu Dr. Munroe, aber es ist nicht so dringend.«

Gills fuhr den Wagen an den Straßenrand und stieg aus. Er sah wie immer wie aus dem Ei gepellt aus. »Ich habe auch nur ein paar kurze Fragen«, erklärte er, als er auf ihn zukam. »Das können wir schnell vor Ort klären.«

Dass enttäuschte Peter ein wenig, denn er hatte damit gerechnet, dass der Detective ihn in den Pub auf ein Bier einladen würde. Es war immerhin schon später Nachmittag. »Was gibt es denn?«, wollte er misstrauisch wissen.

»Sie haben doch vor einiger Zeit dieses deutsche Ehepaar auf Ihrem Boot mitgenommen.«

»Hm«, erwiderte Peter zurückhaltend.

»Sie haben darüber bereits erzählt, aber ich würde gern noch einmal mit Ihnen über den Streit sprechen, den die beiden auf dem Boot hatten.«

Vielleicht wäre es doch besser gewesen, so zu tun, als ob der Arztbesuch keinen Aufschub duldete, dachte Peter. Aber wie üblich wartete er erst einmal ab und sah den Detective nur fragend an.

»Was hat es eigentlich mit dem Foto auf sich?«, wollte dieser wissen.

»Welches Foto?«, wendete sich Peter. Er wusste sehr wohl, welches Foto Gills meinte, aber er wollte nicht mit ihm darüber reden. Er hatte mit niemandem darüber gesprochen. Nicht einmal mit Fionna. Unangenehm berührt wich er dem Blick des Detectives aus und trat von einem Fuß auf den anderen.

Gills verstand seine Reaktion sofort. »Mr. Dunn, Sie wissen ganz genau, was ich meine.«

Peter räusperte sich. »Nun ja …«, er suchte krampfhaft nach den richtigen Worten und spürte, wie er rot wurde.

»Mr. Dunn, ich möchte nur wissen, ob Sie die Frau auf dem Foto erkannt haben.«

Peter fragte sich, was es für die Deutsche bedeutete, wenn er Gills’ Frage beantwortete. Er erinnerte sich, wie wütend sie ihm das Handy ihres Mannes aus den Fingern gerissen hatte.

»Laura Tahn hat mir selbst von diesem Foto erzählt, Mr. Dunn.«

Hatte sie das wirklich? Das konnte sich Peter kaum vorstellen, aber woher sonst sollte der Detective davon wissen? Nachdem der Leichnam ihres Mannes abgeholt worden war, hatte Gills die Deutsche mit auf die Polizeistation nach Rhiconich genommen, das hatte Peter zufällig gehört. Wie so manch anderes Detail.

»Ja, ich hab sie auf dem Foto erkannt«, gab er deshalb zu.

»Danke, Mr. Dunn. Das hat mir sehr geholfen.«

Peter nickte. »Schon merkwürdig, dass ihr Mann tot ist«, entfuhr es ihm dann, »aber das musste wohl so kommen.«

Gills, der sich schon abwenden wollte, verharrte in seiner Bewegung. »Wie meinen Sie das, Mr. Dunn?«

Peter zuckte unschlüssig mit den Schultern. Er hatte schon wieder zu viel gesagt, und er wusste, er sollte besser nicht weitersprechen, weil er sich dann um Kopf und Kragen redete, aber manchmal hatte er keine Macht über seine Worte. »Es ist die Bay, Detective«, sprudelte es aus ihm heraus. »Sie hat ihre eigene Gesetzmäßigkeit. Was wir mit uns dorthin mitnehmen, ob gut oder böse, das lockt das Meer aus uns heraus. Das war schon immer so.«

Gills sah ihn nachdenklich an. »Vielleicht ist das tatsächlich so, Mr. Dunn«, erwiderte er dann zu Peters Überraschung. »Wer weiß, was es in dieser Gegend zwischen Himmel und Erde alles gibt, wovon wir keine Ahnung haben.«

Peter sah dem Detective nach, als er in seinen Wagen stieg und mit einem letzten Winken davonfuhr. Er mochte Anzüge und polierte Lederschuhe tragen, wie die Städter in Edinburgh oder in Glasgow, aber im Herzen war er doch einer von ihnen. Einer von den echten Männern aus dem Norden, wie Fionna augenzwinkernd zu sagen pflegte. Peter lächelte bei dem Gedanken an sie, und sein Herz wurde leicht. Er stieg auf sein Fahrrad und trat in die Pedale. Sicher wartete Fionna schon mit dem Essen auf ihn. Das würde ihm mehr helfen als ein Besuch bei Dr. Munroe.