Julian blickte an dem Gesicht des Arztes vorbei auf das große, nicht vergitterte Fenster, hinter dem sich die Äste einer alten Esche im Wind wiegten. Das Licht fiel durch die gefiederten Blätter, eine Taube gurrte, und aus der Ferne hörte er das Rauschen des Verkehrs. Sonst war es still. Wunderbar still.

Der Arzt saß auf der äußersten Kante von Julians Bett, die Hände in den Taschen seines weißen Arztkittels vergraben. Er war ein ernsthafter, hagerer Mann, dessen Strenge jedoch durch den teilnahmsvollen Ausdruck seiner Augen hinter der schwarzen Hornbrille gemildert wurde.

»Was empfinden Sie?«, fragte er jetzt.

Julian konzentrierte sich auf die warme Stimme des Mannes. »Ruhe«, erwiderte er. »Ich empfinde vor allem Ruhe.«

Der Arzt nickte. »Sie haben eine Panikattacke gehabt mit den typischen Symptomen. Vom Schweißausbruch über Herzrasen, Atemnot bis hin zur Ohnmacht.« Er schob die schwarze Brille auf seiner Nase zurecht. »Für Außenstehende sind diese Symptome in der Regel nicht erkennbar, vor allem dann nicht, wenn sie den Betroffenen nicht näher kennen. Daher sind dem Detective Sergeant und Ihrer Pflichtverteidigerin keine Vorwürfe zu machen.«

»Ich weiß«, entgegnete Julian. »Ich mache ihnen auch keine Vorwürfe.« Er war der Zelle entflohen. Das war das Einzige, was zählte.

»Der Arzt vor Ort hat Ihnen ein Beruhigungsmittel verabreicht, das noch eine Weile wirken wird. Aber ich denke, auch danach werden Sie stabil sein.«

Ein Beruhigungsmittel. Julian versuchte, sich die Szenen im Verhörraum ins Gedächtnis zu rufen. Gills hatte ihm Fotos vorgelegt. Das von dem roten SUV. Damit hatte er fast gerechnet. Und dann das von Tom. Damit hatte es angefangen. Von dem Moment an hatte er alles um sich herum nur noch aus immer weiterer Ferne wahrgenommen. Und als er begriffen hatte, was geschah, war es schon zu spät gewesen. Die Angst vor der Angst hatte ihn bereits gepackt. Er hatte kaum noch erfasst, was um ihn herum passierte, hatte nur an die Zelle denken können, die vergitterten Fenster, die gelben Wände und das nackte Klo. Und an Gills’ Zorn. Natürlich hatte der Polizeibeamte ihm seinen Angriff nicht verziehen. Und egal, was die junge rothaarige Anwältin auch behauptete. Julian zweifelte nicht an Gills’ Voreingenommenheit ihm gegenüber.

Es hatte ihn größte Anstrengung gekostet, sie um ein Gespräch unter vier Augen zu bitten. Gills’ Stimme, seine Gegenwart, seine Anschuldigungen, sie hatten ihm die Luft zum Atmen genommen. Erst als der Detective Sergeant den Raum verlassen hatte, war es kurz besser geworden. Allerdings nur, um dann mit doppelter Macht erneut zuzuschlagen.

»War das Ihre erste Panikattacke?«, wollte der Arzt wissen.

Julian antwortete nicht sofort. Was konnte er dem Mann erzählen? Konnte er ihm vertrauen? Wie jeder Mediziner unterlag er der Schweigepflicht, aber galt sie auch im Rahmen polizeilicher Ermittlungen?

Der Arzt deutete sein Zögern richtig. »Was Sie mir erzählen, wird diesen Raum nicht verlassen«, erwiderte er mit Bestimmtheit.

Julian sehnte sich danach, zu reden. Er musste sich endlich jemandem mitteilen, wenn er nicht verrückt werden wollte. Die sanften Augen hinter der Hornbrille sagten ihm, dass er Verständnis finden würde. Dass Zeit kein Thema war. Dennoch rang er mit sich. Wo sollte er beginnen? Und wie?

»Haben Sie Familie?«, fragte er schließlich.

Der Arzt wirkte überrascht. Er überlegte, worauf sein Patient hinauswollte. »Ich habe eine Frau und zwei fast erwachsene Kinder«, gab er verhalten zu.

»Die hätte ich heute vielleicht auch«, sagte Julian knapp. »Aber meine Frau ist gestorben.«

Schweigende Anteilnahme löste die Zurückhaltung ab.

»Nach ihrem Tod hatte ich über mehr als ein halbes Jahr immer wieder Panikattacken gehabt«, fuhr Julian fort. »Das war eine schlimme Zeit.«

»Haben Sie sich therapeutisch behandeln lassen?«

»Ich habe ein paar Sitzungen gehabt.«

»Haben Sie Medikamente bekommen? In manchen Fällen werden Antidepressiva gegeben.«

Julian schüttelte den Kopf. »Ich habe die Behandlung abgebrochen. Ich bin weggegangen, habe ein Jahr Auszeit genommen.«

»Was haben Sie in der Zeit gemacht?«

»Ich war wandern. Nepal. Tibet.«

»Allein?«

Julian nickte.

Der Arzt sagte lange Zeit nichts. »Und danach dachten Sie, alles wäre wieder in Ordnung«, resümierte er schließlich. »Bis Sie das Ganze jetzt wieder eingeholt hat.«

»Das trifft es ziemlich genau.«

»Wollen Sie darüber sprechen, was damals geschehen ist? Was der Auslöser für Ihre Panikstörung war?«

Der Auslöser. Was für ein seltsames Wort, dachte Julian. Es klang so normal, so unbedeutend. Viel zu normal, für das, was geschehen war. Es gab Erlebnisse, die sich in das Gedächtnis einbrannten, ohne dass die Zeit ihnen die Schärfe oder den Schmerz nehmen konnte. Sie ließen sich verdrängen, verschließen in eine jener Kisten ganz unten im Regal der Erinnerungen, dort, wohin kein Licht kam und man nicht zufällig darüberstolperte. Aber wenn die Kiste doch einmal unverhofft aufsprang, waren die Erlebnisse unbeschadet von der Zeit in ihrer unverminderten Intensität wieder da. Julian schnappte nach Luft, als die Erinnerung ihn überflutete. Er suchte den Blick des Mannes auf seiner Bettkante wie einen rettenden Anker, um sich nicht zu verlieren in einer Vergangenheit, die noch immer eine zerstörerische Macht besaß. Er kämpfte gegen Bilder voller Leid und Trauer, Angst und Misstrauen an. Gegen die Erinnerung an Monique. Selbst im Tod war sie noch schön gewesen.

Julian schluckte und verlor seine Fassung.

Wollen Sie darüber sprechen, hatte der Arzt gefragt.

Vielleicht ein anderes Mal.

Hatte er es gedacht oder gesagt?

Dem Gesichtsausdruck des Arztes nach zu urteilen, war es ihm tatsächlich gelungen, zu sprechen. Der Mann akzeptierte seine Entscheidung, drängte ihn nicht. Und Julian wünschte sich plötzlich, dass sie sich wiedersehen und erneut Gelegenheit haben würden, miteinander zu sprechen. Der Arzt kannte ihn nicht. Und nicht seinen Vater. Er war niemand, der sich um ihn kümmerte, weil ein Mitglied seiner Familie seine Beziehungen spielen ließ. Wenn Julian das Krankenhaus verlassen würde, würden sie sich nicht wiedersehen. Er war ein Fall unter vielen und schon bald vergessen.

Für den Moment verblasste die Angst. Die Sorge. Alles. Selbst der Gedanke an Laura. Sie erschien ihm so weit weg wie nie zuvor. Was blieb, war Licht, das zitternde Schatten über ein weißes Laken warf, und das leise Gurren der Tauben. Julian schloss die Augen und versuchte, diesen friedlichen Moment festzuhalten. Er hörte nicht, wie der Arzt das Zimmer verließ.