Julian hatte mit Laura nie über die dunklen Zeiten seines Lebens gesprochen, hatte ihr nie von Monique erzählt, nichts von Tom. Und das aus gutem Grund. Es hatte ihn viel Kraft gekostet, diesen Lebensabschnitt hinter sich zu lassen, und er hatte sich damals entschieden, nichts davon in seine neue, unschuldige Beziehung mitzunehmen, die ihm das Gefühl gab, in seine eigene Jugend zurückzukehren. Seine Familie hatte sich gefügt, hatte die Zeiten in den Erzählungen und Gesprächen ausgeklammert, vielleicht aus Liebe zu ihm, vielleicht aus Bequemlichkeit, vielleicht auch mit einer gewissen Genugtuung, denn das Verhältnis zwischen ihnen und Monique war kompliziert gewesen. Und so war die Erinnerung an sie unmerklich verblasst wie die Farben eines alternden Aquarells, bis er eines Tages festgestellt hatte, dass er nicht mehr wusste, wie ihre Stimme geklungen oder sich ihr Lächeln angefühlt hatte.
Er hatte sich frei gefühlt, bereit für einen Neuanfang, und just zu jenem Zeitpunkt war Laura in sein Leben gestolpert, und er hatte sich mitreißen lassen von ihrer Unbekümmertheit und Lebensfreude. Es war eine unbeschwerte und leichte Zeit gewesen, ihre Beziehung geprägt von Leidenschaft und Intensität. Doch diese anfängliche Leichtigkeit hatte nicht lange angehalten. Viel zu schnell waren sie abgeglitten in einen nichtssagenden Beziehungsalltag und hatten sich in immer häufiger werdenden Auseinandersetzungen verschlissen, die sich aus Lauras Unberechenbarkeit und seiner Sturheit nährten. Lange Zeit hatte er den Fehler bei sich gesucht. War er zu unbeweglich, zu starr? Hätte er mehr agieren statt nur reagieren sollen und damit dem Credo jedes Paartherapeuten folgen? Und warum konnten sie trotz aller Probleme nicht voneinander lassen? Was hielt ihn in dieser selbstzerstörerischen Beziehung? Doch nicht allein der Sex, diese Lust aufeinander, die sie selbst nach einem Streit wieder gemeinsam ins Bett trieb?
Erst an jenem Abend in Oban vor noch nicht einmal zwei Wochen, als Laura ihn gefragt hatte, was ihm der Name Tom Noviak sagte, hatte er gespürt, dass eine Trennung nicht nur möglich, sondern bitter nötig war, wenn er sich nicht selbst verlieren wollte, egal, welche Gefühle er für Laura nach wie vor hegte.
Tom Noviak.
Mehr als zehn Jahre hatte er nichts von ihm gehört oder gesehen.
»Wir sehen uns wieder«, hatte der Mann am Ausgang des Friedhofs zum Abschied gedroht, während ihnen der Regen in die Gesichter peitschte. »Und ich werde dich auf dieselbe Weise zerstören, wie du Monique zerstört hast.«
Julian hatte den von Schmerz und Wut zerfressenen Bruder seiner Frau nicht ernst genommen. Tom, der damals als Fotomodell sein Geld verdient hatte, war krankhaft eifersüchtig gewesen, hatte seine Schwester keinem anderen gegönnt, und für ihren Tod gab es in seinen Augen nur einen Verantwortlichen.
Es war Julian nicht schwergefallen, ihn zu vergessen.
Als Laura nun an jenem Abend in Oban Toms Namen erwähnt hatte, glaubte er zunächst, dass Moniques Bruder seine Drohung nach so vielen Jahren wahrgemacht hatte. Doch dann hatte er erkennen müssen, dass nicht Tom die Verbindung zu Laura gesucht hatte, sondern sie zu ihm, und jener schicksalhafte Tag in München vor vier Monaten, jener Tag, an dem er Laura gegenüber die Beherrschung verloren hatte, war der Auslöser gewesen. Er hätte wissen müssen, dass sie keine Ruhe geben würde, bis sie alles wusste.
Er sah sie wieder vor sich, wie sie ihn aus großen Augen fassungslos anstarrte, die Hand auf der Wange, dort, wo seine Finger rote Striemen hinterlassen hatten. Sie hatte seine Entschuldigung angenommen, den Kniefall, die Rosen, und sie hatte sein Entsetzen über sich selbst wahrgenommen, aber sie hatte die Angelegenheit nicht auf sich beruhen lassen. Im Gegenteil. Laura war nicht der Mensch, der irgendetwas auf sich beruhen ließ. Das wäre wider ihre Natur gewesen. Heimlich hatte sie in seiner Vergangenheit gewühlt wie in einem Haufen alter Fotos, die man auf dem Dachboden findet. So erfuhr sie von einer Zeit, die ihr den Mann an ihrer Seite in einem völlig unerwarteten Licht zeigte. Wer war er tatsächlich? Wer war die Frau, die er so geliebt hatte? Und warum hatte er ihr nie davon erzählt?
Als Laura an jenem Abend in Oban vor knapp zehn Tagen dann auch Moniques Namen ausgesprochen hatte, war es, als hätte sie sie damit wieder zum Leben erweckt. Als hätte Julian sie nicht an jenem kalten, verregneten Herbstmorgen auf Hamburgs größtem Friedhof beerdigt. Wie hatte er sich über Jahre einreden können, dass es möglich sei, sie zu vergessen, weiterzuleben ohne sie? Die plötzliche Sehnsucht war unerträglich gewesen, die Trauer so schmerzhaft wie in den Tagen nach ihrem Tod. Keine andere Frau würde Monique je ersetzen können, das hatte nicht nur er in diesem Moment begriffen, sondern auch Laura. Entsprechend hässlich war die Szene, die sie ihm darauf gemacht hatte. Sich mit einer Toten messen zu lassen war unerträglich für sie gewesen. Laura konnte nicht verlieren. Niemals.
Und er? Er war nach Lauras Offenbarung nicht mehr in der Lage gewesen zu denken. Diese alte, böse Wut, die sich niemals hatte zähmen, nur verbannen lassen, hatte sich erneut aus ihrem Gefängnis befreit und Besitz von ihm ergriffen, als hätte sie die letzten Jahre nur auf diese Gelegenheit gewartet.
Julian hatte sie nur kontrollieren können, indem er sich zurückzog, in der Hoffnung, dass sich das lodernde Feuer, das in ihm tobte, ausbrannte, bevor er etwas tat, das er später bitter bereuen würde.
Laura hatte lediglich gesehen, dass er sich von ihr abgewendet hatte, sie ignorierte – was hätte er darum gegeben, ihr erklären zu können, was geschah! Doch er war sein eigener Gefangener gewesen, unfähig mit ihr zu sprechen, ihr seine Verzweiflung und seinen Schmerz mitzuteilen. Seine Angst, sie zu verlieren und gleichzeitig zu wissen, dass es keine gemeinsame Zukunft für sie geben konnte. Zwei Tage lang hatte er kein Wort mit ihr gewechselt. Bis Ullapool, wo sie sich schließlich völlig betrunken auf die Fähre nach Stornoway einschiffen wollte.
Das Geräusch von Stimmen auf dem Flur des Krankenhauses riss ihn aus seinen Gedanken und brachte ihn zurück in die Gegenwart, und er starrte auf die Wand seines Zimmers, auf die Lichtpunkte, die die Sonne darauf warf. Aber die Schatten der Vergangenheit ließen ihn nicht los.
Ich werde dich auf dieselbe Weise zerstören, wie du Monique zerstört hast.
Innerhalb der vergangenen anderthalb Wochen hatte Julian komplett die Kontrolle über sein Leben verloren. War das Toms späte Rache? Als Laura ihn ausfindig gemacht und sich an ihn gewendet hatte, hatte Tom seine Chance ohne Zögern ergriffen. Er hatte Julian nie verziehen, trug noch immer den Schmerz in sich, und sein Zorn war über die Jahre zu bitterem Hass geworden. Er hatte Laura benutzt, um Julian zu quälen. Um ihre Ehe zu zerstören.
Erneut zwangen ihn Geräusche auf dem Flur zurück ins Jetzt. Er lauschte auf die näher kommenden Schritte und das Scharren eines Stuhls über Linoleum. Als es klopfte, versuchte er, sicher zu wirken, ruhig. Er wollte Tom, egal, wo er jetzt war, die Genugtuung nicht gönnen, ihn hier am Boden zu sehen, wimmernd, kriechend vor Angst. Selbst wenn ihm schlecht war von dieser Angst, denn es lag etwas in Samantha Merryweathers grünen Augen, das das Lächeln verblassen ließ, das sie auf den Lippen trug, als sie eintrat.
Ich habe meine Frau nicht umgebracht, hatte Julian ihr vor wenigen Tagen gesagt. Genauso wie er es vor vielen Jahren schon einmal einem Anwalt gesagt hatte. Damals hatte man ihn dennoch für Moniques Tod verantwortlich gemacht. Was erwartete ihn jetzt?