Julian starrte auf die Papiere in seiner Hand, dann auf den Psychologen, dessen Augen hinter der schwarzen Hornbrille einfühlsam auf ihn gerichtet waren.
»Das war es?«, fragte Julian ungläubig. »Ich kann gehen?«
»Wohin Sie wollen.«
»Aber …«
»Die Tote, die gefunden wurde, ist nicht Ihre Frau.«
»Ja, das weiß ich.«
Sie hatte es auch nicht sein können. Niemals hätte sie am Strand von Oldshoremore angespült werden können. Zweifellos hielt John Gills nach wie vor daran fest, dass er Laura getötet hatte, denn offiziell galt sie immer noch als vermisst, und niemand wusste, ob sie lebte. Trotzdem ließen sie ihn gehen. Überrascht und erleichtert zugleich verstaute Julian seine Entlassungspapiere in seinem Rucksack, der vor ihm auf dem Boden stand.
»Was werden Sie jetzt machen?«
»Ich habe keine Ahnung.« Julian konnte sich noch nicht vorstellen, dass er hinter der Tür des Krankenzimmers tatsächlich in Freiheit sein würde.
Der Psychologe verabschiedete ihn mit den Worten: »Ich wünsche Ihnen alles Gute und hoffe, dass sich das Geheimnis um Ihre Frau so schnell wie möglich positiv aufklärt.«
Julian schulterte seinen Rucksack.
»Danke für alles!«, sagte er ehrlich und reichte dem Mann die Hand.
Mit langen Schritten eilte er gleich darauf den Krankenhausflur entlang. Als er sich noch einmal umwandte, sah er den Psychologen mit besorgter Miene noch immer in seiner Zimmertür stehen. Er fragte sich, ob der Mann jeden seiner Patienten so betrachtete. Dann stieß er die Tür auf und eilte die Treppen hinunter, in der Hoffnung, weder den Psychologen noch das Gebäude je wiedersehen zu müssen.
Vor dem Krankenhaus warteten einige Taxis. Einer spontanen Eingebung folgend, ging er auf das erste zu. »Fahren Sie mich zur nächstgelegenen Autovermietung«, bat er den übergewichtigen Fahrer, der neben seinem Wagen stand und rauchte.
»Da bringe ich Sie am besten zum Bahnhof«, schlug dieser vor und warf seine Zigarette in den Rinnstein. Als der Fahrer sich hinter das Steuer quetschte, bereute Julian schon seine Wahl, denn der Geruch nach Qualm umgab den Mann wie eine Wolke.
Aber die Fahrt war kurz. Nach nicht einmal zehn Minuten hielt der Wagen vor dem Bahnhofsgebäude. Als Julian einige Pfundnoten aus seinem Portemonnaie herauszog, rutschte eine Visitenkarte heraus. Es war John Gills’ Karte, die dieser ihm im Kinlochbervie Hotel während ihrer ersten Begegnung überreicht hatte. Als Julian aus dem Wagen stieg, zerknüllte er die Karte in seinen Fingern und ließ sie achtlos fallen.
Keine halbe Stunde später lenkte er bereits seinen Mietwagen auf die A9 Richtung Norden. Es war ein silberfarbener Vauxhall Astra, so spießig in Form und Ausstattung, dass Laura ihn vermutlich ausgelacht hätte. Sie machte sich nichts aus Autos, kannte aber seine Vorlieben und Abneigungen. Als er nun die Straße entlangfuhr, auf der er vor nicht allzu langer Zeit mit ihr gemeinsam unterwegs gewesen war, überwältigten ihn die Erinnerungen. Seine Sehnsucht nach Laura und die gleichzeitige Ernüchterung, verursacht durch die Entwicklung der Geschehnisse, warfen ihn in ein Wechselbad der Gefühle, das er nur schwer ertrug.
Nach ihrem Aufenthalt in Ullapool war zwischen ihnen alles gut gewesen und ihr Miteinander beinahe von der gleichen Leichtigkeit erfüllt wie in den Anfangsmonaten ihrer Beziehung. Dass er vor Laura nichts mehr verbergen und zum ersten Mal sein Geheimnis nicht mehr hüten musste, hatte ihn geradezu beflügelt. Er hatte Glück gespürt. Zerbrechliches, leichtes Glück, wie seit Jahren nicht mehr. Aber sie hatten es nicht halten können. Ein weiterer Tropfen hatte genügt, das Fass zum Überlaufen zu bringen und auf dem Boot des Fischers einen weiteren Streit zu provozieren. Er hatte erneut gezweifelt und über Trennung gesprochen. Aus rationalen Gründen.
»Seit wann agieren wir rational, Julian?«, hatte sie ihn gefragt. Ruhig zunächst, doch wie immer hatte sie schnell die Kontrolle über ihre Emotionen verloren.
»Du darfst mich nicht verlassen!«, hatte sie erst gefleht und dann gedroht. »Wenn du mich verlässt, tötest du mich!«
Er hatte die alarmierten Blicke des Fischers gespürt. Der Alte hatte mehr verstanden, als gut war, und er hatte es gesehen.
Julian wusste, dass Peter Dunn John Gills nicht die ganze Wahrheit erzählt hatte, sonst hätte der Detective ihn mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln in der Untersuchungshaft behalten.
Julian seufzte erleichtert. Ja, Peter Dunn hatte geschwiegen, aber würde er auch schweigen, wenn die Leiche gefunden wurde?
Für einen Moment bereute Julian seinen Entschluss, zurück zur Küste zu fahren. Wäre es nicht klüger, sich einfach in ein Flugzeug zu setzen und das Land schnellstmöglich zu verlassen? Der Wagen wurde langsamer, als sein Fuß vom Gaspedal glitt. Aber was würde aus Laura, wenn er einfach so ging? Er durfte sie nicht zurücklassen. Egal, was geschehen war. Egal, was sie getan hatte.
Er zuckte zusammen, als die weibliche Stimme des Navigationssystems ihn plötzlich aus seinen Gedanken riss.
»Wenn möglich, bitte wenden«, forderte sie ihn auf Englisch auf und wiederholte die Anweisung stoisch, als er nicht sofort reagierte.
Julian starrte auf die Straßenschilder. Er hatte die Abzweigung nach Nordwesten verpasst. War das ein Zufall? Oder eine Mahnung?
Unschlüssig fuhr er weiter, bis er schließlich bei der nächsten sich bietenden Gelegenheit den Astra wendete. Der Motor heulte auf, als er heftig beschleunigte. Einhundertdreißig Kilometer und zwei Stunden Fahrt trennten ihn von dem Ort, an dem vor elf Tagen alles begonnen hatte. Er konnte die Zeit nicht zurückdrehen, nicht ungeschehen machen, was passiert war. Aber vielleicht konnte er doch noch etwas retten, das er schon für verloren gehalten hatte. Als er endlich auf die A836 Richtung Nordwesten einbog, die ihn zurück nach Kinlochbervie führen würde, war ihm, als falle eine Tür unwiderruflich hinter ihm zu.