Sie entdeckte ihn, bevor er sie sah. Er saß in der verlassenen Gaststube mit dem Rücken zu ihr allein an einem Tisch. Seine Schultern bildeten unter dem dunklen Shirt eine breite gerade Linie, und sein Haar wirkte wie immer ungekämmt. Bei seinem Anblick wurde ihre Sehnsucht so groß, dass sie nicht anders konnte, als auf ihn zuzulaufen und ihn zu umarmen.
Er hörte sie nicht kommen und wandte sich ruckartig um, als er die Berührung spürte.
»Laura!!!«, rief er überwältigt.
So unendlich viel Erleichterung lag in seiner Stimme, dass sie sofort an die Worte des alten Skippers dachte.
Alle denken, Sie sind tot.
»Laura …«, wiederholte Julian noch immer fassungslos.
Sie lächelte unsicher. »Hast du auch geglaubt, dass ich tot bin?«, fragte sie aufgewühlt.
»Nein, Süße«, flüsterte er und zog sie in seine Arme. »Ich wusste, dass du lebst. Ich wusste, dass du wiederkommen wirst. Ich habe ganz fest daran geglaubt.« Er vergrub sein Gesicht in ihrem Haar. Alle Spannung, aller Streit waren in dieser ersten Wiedersehensfreude vergessen.
Aber das Entsetzen lauerte gleich dahinter. Sie spürte es, meinte es zu sehen, zu hören. Es wartete nur auf die Gelegenheit, das Zepter zu übernehmen.
»Was ist passiert?«, fragte sie.
»Wo, zum Teufel, warst du?«, wollte er wissen.
Es sprudelte gleichzeitig aus ihnen heraus. Sie lachten, aber es war ein nervöses Lachen, oberflächlich und eine Spur zu laut.
»Hast du hier ein Zimmer gebucht?«, fragte sie.
Er nickte.
»Dann lass uns gehen.«
Julian legte ihr seinen Arm um die Schultern und drückte sie fest an sich, als könne sie sich wieder verflüchtigen, sobald er sie losließ.
Sie begegneten niemandem.
»Bist du hier ganz allein?«, fragte sie irritiert.
»Die Wirtin kauft Fisch im Hafen ein, sie müsste jeden Augenblick zurückkommen.«
»Und andere Gäste gibt es nicht?«
Er schüttelte den Kopf und führte sie durch einen langen Flur.
Seine Finger zitterten, als er den Schlüssel ins Schloss seines Hotelzimmers steckte. Unruhig blickte sie sich um. Sie wollte keinem Menschen begegnen, mit niemandem sprechen außer mit Julian.
Ihr Mann hat Sie als vermisst gemeldet, und dann wurde eine Leiche an Land gespült.
Sie wollte keine Erklärungen abgeben.
Endlich öffnete Julian die Tür.
Es war ein Doppelzimmer.
»Du hast tatsächlich auf mich gewartet«, sagte sie, während sie mit dem Rücken an der Zimmertür lehnte, als könne sie so verhindern, dass jemand ungebeten hereinkam. Der Raum war ebenerdig, das einzige Fenster bot einen grandiosen Ausblick auf das Meer.
»Ich habe nichts anderes getan, als auf dich zu warten«, erwiderte er und strich ihr über die Wange. Seine Stimme war sanft, doch etwas in seinem Tonfall verriet ihr, dass er ihr nur die halbe Wahrheit erzählte. »Wo warst du?«, fragte er erneut.
Sie zögerte. Konnte sie es ihm erzählen? Würde er ihr glauben? Obwohl sie bei ihrer Ankunft noch erleichtert gewesen war über das menschenleere Hotel, erschreckte der Gedanke sie nun. Niemand würde sie schreien hören.
»Was ist?«, wollte er wissen. »Wovor hast du Angst?«
Er kannte sie zu gut.
»Vor deiner Reaktion«, gestand sie und klammerte sich an das Versprechen, das sie sich vor zwei Wochen in Ullapool gegeben hatten.
Unbedingte Offenheit.
Er räusperte sich. »Ich hatte viel Zeit zum Nachdenken, Laura.«
»Die hatte ich auch«, beeilte sie sich zu sagen, bevor er mit seinen Wörtern Tatsachen schuf, die sich nicht rückgängig machen ließen. »Was vorbei ist, ist vorbei. Wir können gewisse Dinge nicht ändern. Wir müssen …« Sie formulierte den Satz nicht zu Ende, als sie seinen Gesichtsausdruck sah.
»Sag nicht, wir müssen nach vorne schauen«, warf er ein. »Es ist etwas passiert, das …«
Sie legte ihm ihre Finger auf den Mund. »Lass uns packen und nach Hause fliegen. Lass uns vergessen, was passiert ist.«
»Ich kann nicht einfach von hier weg, Laura. Ich war mehrere Tage in Untersuchungshaft, weil ein Detective der Scottish Police sich darauf versteift hatte, dass ich dich umgebracht habe.«
Sie biss sich auf die Lippe. »Ich habe von der Leiche gehört, die gefunden wurde.«
»Wann?«
»Gerade eben, als ich gekommen bin. Ich habe unten im Laden den Skipper getroffen, der uns auf seinem Boot mitgenommen hat.«
»Wo warst du, Laura?«, drängte er.
»Julian, bitte glaub mir, wenn ich gewusst hätte, dass du verhaftet wurdest …«
»Wo in dieser Gegend konntest du dich verstecken, ohne davon etwas mitzubekommen?«, fragte er ungläubig und, wie sie meinte, leicht gereizt. »Es dürfte tagelang das Gespräch der Region gewesen sein.«
Sie nahm all ihren Mut zusammen. »Cape Wrath«, gestand sie endlich.
Fassungslos starrte er sie an. Aber der befürchtete Wutausbruch blieb aus. »Du warst dort?«, erwiderte er verblüfft.
Es war ihr gemeinsames Ziel gewesen für jenen Tag, aber wie hätten sie diesen Ausflug machen können, als wäre nichts geschehen?
»Es war der einzige Ort, von dem ich wusste, dass ich ihn ohne Karte finden würde«, erklärte sie. »Ich war so durcheinander, Julian. Ich wollte einfach nur weg.«
»Weg von mir«, stellte er fest.
»Weg von allem«, gab sie zu. »Und ja, auch von dir. Die ganze Nacht habe ich im Zelt wach gelegen und die ganzen entsetzlichen Ereignisse wieder und wieder erlebt. Ich hatte so fürchterliche Angst, Julian. Überleg dir, was wir getan haben! Wir haben … «
»Sag es nicht«, fiel er ihr ins Wort. »Sprich es nicht aus. Nicht zwischen uns.«
Sie wollte etwas erwidern, doch er ließ sie nicht zu Wort kommen. »Hast du nicht gerade gesagt, wir sollten vergessen, was passiert ist?«
»So hab ich es nicht gemeint.«
Er ging nicht darauf ein. »Wie lange warst du auf Cape Wrath?«
»Die ganze Woche.«
»Warum hast du dich nicht gemeldet?«
»Das Gelände um den Leuchtturm wurde kurz nach meiner Ankunft wegen militärischer Schießübungen gesperrt, und Maggie …« Sie stockte, als das Bild der drahtigen Frau mit dem kurzen grauen Haar vor ihrem inneren Auge auftauchte.
»Maggie?« Julian sah sie fragend an.
»Ihr gehört das Café. Sie telefoniert nicht gern. Und andere Medien nutzt sie nicht.«
»Aber du!«, entfuhr es ihm, und er ergriff ihre Schultern und schüttelte sie. »Du hättest anrufen können!«
Sie kämpfte gegen die Angst, die sie erneut zu überwältigen drohte. »Ich konnte nicht, Julian.« Ihre Anspannung entlud sich in Tränen. »Ich konnte einfach nicht mit dir sprechen«, fuhr sie weinend fort. »Nicht nach dem, was geschehen ist. Oder was glaubst du, warum ich einfach weggegangen bin? Ich musste erst einmal allein damit klarkommen.«
»Das kann keiner von uns beiden allein bewältigen.«
»Ich habe die Zeit aber gebraucht«, widersprach sie und löste sich aus seinem Griff.
Er hielt sie am Arm zurück. »Laura, wir können das hier nur hinter uns lassen, wenn wir zusammenhalten.«
»Dann komm mit mir nach Hause!«, flehte sie. »Geh mit mir fort! Seitdem ich die Sandwood Bay verlassen habe, wache ich jede Nacht schweißgebadet auf!«
Er atmete tief durch. »Alpträume habe ich auch, Laura.«
Schweigend musterten sie sich.
»Ich muss den Detective in Inverness darüber informieren, dass du wieder da bist«, brach er schließlich das Schweigen.
»Ich will aber keine Erklärungen abgeben.«
»Ich weiß. Aber er darf auch keinen Verdacht schöpfen«, sagte er mit eiskalter Stimme.
Laura schauderte. Es war nicht vorbei. Es war noch lange nicht vorbei. Wie hatte sie das nur glauben können?