1. August

Schottland. Wir sind tatsächlich hier und sollten es doch nicht sein. Ich hätte mich nicht auf diese Reise einlassen sollen. Dabei ist das Land großartig. Wir haben schon so viele andere Länder bereist. Nepal, Vietnam, Südafrika – phantastische, exotische Länder, doch in keinem hatte ich bereits bei der Ankunft das Gefühl, nach Hause zu kommen. Ich wandere in Glasgow durch die Gassen und Straßen und fühle so viel Vertrautheit, dass mir ganz schwindelig wird. Aber ich kann es nicht genießen.

Genauso wenig, wie ich mit Julian darüber sprechen kann. Er hat sich darauf gefreut, mir dieses Land zu zeigen, seit Wochen hat er von nichts anderem geredet. Und nun sehe ich jeden Tag aufs Neue die Fragen in seinen Augen: Gefällt es dir? Begeistert es dich?

Ja, ich bin fasziniert von der Stadt, dem Land, den Menschen!

Aber ich bringe es nicht heraus. Nichts bringe ich heraus. Ich bin wie blockiert. Nicht mehr fähig, meine Empfindungen ihm gegenüber in Worte zu fassen. Ausgerechnet jetzt.

Ich sollte nicht darüber schreiben, warum das so ist, diese dunklen Gedanken nicht verfestigen, bevor ich mit ihm geredet habe. Und ich muss mit ihm reden, auch wenn sich alles in mir sträubt. Und ich muss es bald tun, denn natürlich haben diese Gedanken längst begonnen, ein Eigenleben zu führen und sich zwischen uns zu drängen. Aber ich habe keine Ahnung, wo ich anfangen soll. Oder wie.

In den letzten Tagen vor unserer Abreise hätte es viele Gelegenheiten zum Gespräch gegeben. Ich habe sie alle ungenutzt verstreichen lassen. Liebe ich ihn denn noch immer? Es ist doch längst alles zerstört! Aber warum sollte ich sonst hier sein?

Gills hielt inne und starrte auf den Text vor sich, während die Worte in seinen Ohren nachklangen, als stünde Laura Tahn in seinem Büro und hätte sie zu ihm gesprochen. Er meinte ihre Stimme zu hören mit all der Atemlosigkeit und der Verzweiflung, die aus dem Geschriebenen sprach, und konnte sich nur schwer der Nähe entziehen, die sie auslösten.

Er zog sein Notizbuch zu sich heran, blätterte zurück zu den Einträgen, die er während seiner letzten Gespräche mit Julian Tahn gemacht hatte. Was hatte der Deutsche ihm alles verschwiegen? Der Vorfall mit dem Messer an Bord von Peter Dunns Kutter erhielt nach diesem Tagebucheintrag eine neue Dimension. Lauras Selbstmorddrohung. Hatte sie zu diesem Zeitpunkt bereits mit ihrem Mann gesprochen? Wollte Julian sich deshalb von ihr trennen? Für einen Moment war Gills versucht, den Mann vorführen zu lassen, jetzt, sofort, egal, wie spät es war. Doch damit würde er wertvolles Pulver nutzlos verschießen, und so zwang er sich, weiterzulesen.

 

2. August

Heute Morgen war es so weit. Schon am zweiten Tag. Wir hatten Streit wegen einer Nichtigkeit. Weil ich noch fotografiert und geschrieben habe und wir deshalb den Bus verpasst haben, dabei fuhr der nächste schon zwei Stunden später. Julian hat den halben Tag nicht mit mir gesprochen deswegen. Ich war kurz davor, ihn allein weiterfahren zu lassen, und habe mich im nächsten Bus zwei Reihen hinter ihn gesetzt. Als wir in Oban ankamen, hat er sich entschuldigt. Nun sitzen wir am Hafen in der Abendsonne und essen Fisch, und ich versuche, nicht an das letzte Telefonat zu denken, das ich in München geführt habe.

Der Eintrag brach ab, und Gills tippte gereizt mit dem Finger auf die Tastatur seines Computers.

3. August

Eine SMS von Tom. Ich weiß nicht, wie ich damit umgehen soll. Er versteht nicht, warum ich noch nicht mit Julian geredet habe. Er bedrängt mich.

In meinem Inneren tobt Mutters Stimme: »Das kommt davon, wenn man tiefer und immer tiefer gräbt. Wenn man seine Nase in Angelegenheiten steckt, die einen nichts angehen. Habe ich dich so erzogen?« Vielleicht Mami, vielleicht hast du das. Aber vielleicht sind es auch Vaters Gene, und du kannst gar nichts dafür. Vater kann auch nicht lockerlassen. Koste es, was es wolle. Ihn hat es schon einmal fast ins Grab gebracht. Und mich?

Ich habe gefunden, was ich gesucht habe, aber was habe ich geweckt, das ich nun nicht mehr beherrschen kann? Schadensbegrenzung war alles, woran ich in den vergangenen Wochen denken konnte, ohne mir darüber klar zu sein, ob ich es überhaupt wollte. Und nun sind Julian und ich hier in dieser Einsamkeit auf uns selbst zurückgeworfen, und ich spüre, dass ich ans Ende meiner Kräfte gelange. Wie um Himmels willen soll es weitergehen? Was wird passieren, wenn ich ihm alles erzähle? Ich muss! Ich muss! Ich muss! Wenn es noch eine Chance für uns geben soll. Aber was schreibe ich Tom?

Mit einem Gefühl des Unbehagens schloss Gills die Datei. Diese Zeilen waren nicht für fremde Augen bestimmt. Vielleicht würde nicht einmal die Verfasserin sie jemals wieder lesen. Er hatte gehofft, dass das, was Laura Tahn in dieser gut versteckten und kryptierten Datei hinterlegt hatte, mehr über sie preisgeben würde als ihre öffentlichen Blog- und Twitter-Nachrichten, aber diese Offenheit war fast zu viel. Er blickte bis auf ihren Seelengrund, sah sie ungeschützt in all ihrer Verletzlichkeit.

Er trat ans Fenster, doch er nahm weder den Parkplatz noch die dahinterliegende Straße wahr, vor seinem inneren Auge blickte er in Laura Tahns Gesicht. Er hatte das Foto, das ihr Mann der Polizei zur Verfügung gestellt hatte, so oft betrachtet, dass er jede kleine Einzelheit davon aus dem Gedächtnis abrufen konnte. Wie das kaum wahrnehmbare Lächeln in ihren Mundwinkeln und ihren Augen, das nur ihr selbst gehörte und das im Betrachter unwillkürlich die Frage auslöste, woran sie in dem Moment, als das Foto entstanden war, wohl gedacht haben mochte.

Nun hatte dieses Gesicht mit dem selbstvergessenen Lächeln eine Stimme erhalten, auch wenn er sie noch nie hatte sprechen hören. Aber diese Stimme war anders, ganz anders, als er sie sich vorgestellt hatte. Schon aus den wenigen Zeilen, die er bis jetzt gelesen hatte, sprach weitaus mehr Ernsthaftigkeit und Selbstreflexion, als ihre öffentlichen Interneteinträge auch nur ahnen ließen.

»Na, Gills, Sie sind ja immer noch hier. Kommen Sie voran?«

Gills fuhr herum und nahm instinktiv Haltung an, als er sich dem Chief Inspector gegenübersah, der mit seiner Körperfülle den Türrahmen nahezu komplett ausfüllte. Wie lange mochte er dort schon gestanden und ihn beobachtet haben?

»Sir, ich gehe davon aus, dass ich Ihnen morgen Ermittlungsergebnisse präsentieren kann, die die Verhaftung von Julian Tahn mehr als rechtfertigen werden«, entgegnete er steif.

Mortimer Brown musterte ihn kritisch. »Lassen Sie mich raten: Sie werden noch heute Nacht ein Geständnis aus ihm herauslocken«, bemerkte er dann mit einem Lächeln, das bestenfalls als herablassend gelten konnte. Wie konnte er bei einem der Richter einen Haftbefehl erwirken, ohne seinen Chef über den Inhalt von Laura Tahns Aufzeichnungen zu informieren?

»Ja, ein Geständnis wäre in der Tat die perfekte Lösung«, entfuhr es ihm vielleicht deshalb in einem Ton, den er Brown gegenüber noch nie angeschlagen hatte. »Ich arbeite daran.«

Der Chief Inspector sah ihn überrascht an, kommentierte Gills’ Bemerkung jedoch nicht weiter, sondern verließ nur mit einem kurzen »na, dann viel Erfolg« seinen Posten an der Tür.

Gills lauschte seinen sich entfernenden Schritten, dem Zuschlagen einer Tür. Morgen müsste er Brown etwas präsentieren, wenn er Julian Tahn in Untersuchungshaft behalten und eine Genehmigung für eine offizielle Übersetzung erhalten wollte. Die wenigen bislang übersetzten Textstücke aus dem Reisetagebuch von Laura lieferten genügend Verdachtsmomente. Gleichzeitig warfen sie jedoch mehr neue Fragen auf, als sie Antworten gaben.

Laura hatte in München ein letztes Telefonat geführt, das ihr offensichtlich nachging. Warum war die SMS von jenem Tom bei der Auswertung ihres Telefons niemandem aufgefallen? Hatte sie mit ihm eine Affäre und deshalb ihren Mann verlassen wollen, letztlich aber doch festgestellt, dass sie es nicht konnte? Und in welchem Zusammenhang stand der Hinweis auf die angedeuteten bedrohlichen Ereignisse aus der Vergangenheit? Gab es überhaupt einen Zusammenhang? Er benötigte mehr Informationen aus dem Tagebuch, und das möglichst schnell, um wenigstens einige dieser Fragen bis zum kommenden Tag klären zu können und so dem Chief Inspector Fakten auf den Tisch zu legen. Brown würde ihn sicher nicht mit ein paar vagen Vermutungen zum Haftrichter gehen lassen.

Gills blätterte die Akte zum Fall Tahn zum wiederholten Mal durch. Dabei fiel ihm zum ersten Mal auf, dass Liam ihm nicht nur Sonjas Bürodurchwahl, sondern auch ihre Mobilnummer aufgeschrieben hatte.

Er zögerte kurz, dann griff er zum Telefon.

»Ich habe schon mit Ihrem Anruf gerechnet«, bemerkte sie, als er seinen Namen nannte. Sie besaß eine angenehme, weiche Stimme und wirkte keinesfalls irritiert. »Sie wollen vermutlich wissen, ob ich Sie bei der Übersetzung weiter unterstützen kann.«

Gills räusperte sich verlegen.

»Kein Grund für ein schlechtes Gewissen«, fuhr sie fort. »Liam hat mich schon vorgewarnt. Warum kommen Sie nicht einfach vorbei und bringen mit, was Sie haben?«

Erneut zögerte Gills. Er war ungeduldig, wollte um jeden Preis tiefer in Laura Tahns Gedankenwelt eindringen, gleichzeitig jedoch befiel ihn bei der alleinigen Vorstellung daran eine ungewohnte Scheu. Zudem entsprach das, was er plante, nicht der legalen Vorgehensweise in einem solchen Fall.

»Eigentlich wollte ich mich nur bei Ihnen bedanken und Sie nicht Ihres Feierabends berauben«, wandte er deshalb ein, doch Sonja Stanfield wiegelte seine Bedenken mit einem einzigen Satz ab: »Feierabend gibt es bei uns nicht.«

Als er wenig später vor einem der nostalgischen Reihenhäuser aus dem späten 19. Jahrhundert stand, die das Straßenbild der Greg Street bestimmten, und das Bed-and-Breakfast-Schild in Sonja Stanfields Wohnzimmerfenster sah, verstand er, warum.

»Seit mein Mann keine Touren mehr durch die Highlands führt, vermietet er Betten«, erklärte sie Gills mit einem Augenzwinkern, als sie ihn in ihr Wohnzimmer bat. Aber sie wurde sogleich wieder ernst, als sie seine Anspannung bemerkte. »Aus einem anderen Dezernat habe ich zufällig erfahren, dass es zurzeit Wochen dauern kann, einen Übersetzer mit entsprechendem Geheimhaltungsgrad zu bekommen«, beruhigte sie ihn. »Glauben Sie mir, Sie sind nicht der Einzige, der nach unorthodoxen Lösungen sucht.«

»Das ist auch mein Kenntnisstand«, entgegnete Gills und zog die Seiten, die er ausgedruckt hatte, aus seiner Aktentasche. »Dennoch sollte dieses Treffen hier unter uns bleiben. Mein Chief Inspector …«

»DCI Brown?«, fragte sie mitfühlend.

Er nickte.

»Machen Sie sich keine Sorgen. Von mir erfährt er nichts.«

Sie setzten sich, und während sie den Text überflog, beobachtete er, wie ihre Finger angespannt das Ende des schweren dunkelblonden Zopfs drehten, der geflochten über ihrer Schulter hing.

»Ich bin froh, dass Sie hier sind, und wir sprechen können«, sagte sie, und aus ihren graublauen Augen sprach Unsicherheit. »Was ich hier lese, hat das Potenzial, mir nicht nur heute Nacht den Schlaf zu rauben …«