6. August

»Ich habe es ihm gesagt. Ihm erzählt, dass ich alles weiß. Es ist nicht gut gelaufen. Überhaupt nicht gut. Seither spricht er nicht mehr mit mir. Sieht mich nicht einmal mehr an.

Liebesentzug – die klassische Bestrafung.

Nun sitze ich in einem Pub in Ullapool am Hafen und betrinke mich. In anderthalb Stunden nehme ich die Fähre nach Stornoway. Raus auf die Hebriden. Da gibt es nicht viel außer Wind, Felsen und Schafen, aber das ist egal. Ich muss nur weg, fort von Julian. Ich brauche einen Ort zum Nachdenken. Allein. Diese kalte Ablehnung ertrage ich keinen Moment länger. Ich muss mir darüber klarwerden, wie es weitergehen soll. Ob es weitergehen soll.

 

Er hat mich gefunden.

Mein Fährticket zerrissen und mich im Affekt geschlagen, als ich ihn angeschrien habe.

Niemand hat mir geholfen.

Julian hat gesagt, ich bin selbst schuld.

Betrunkenen Frauen hilft niemand.

John Gills starrte auf das Foto auf dem Bildschirm. Auf die Frauenleiche. Die Flut hatte sie auf den Saum der Insel vor Oldshoremore getragen, die aussah wie der Rücken eines tief im Sand vergrabenen und mit Gras bewachsenen Dinosauriers, dessen Schwanz sich bis zum Strand erstreckte.

Neben ihm lag die Akte »Laura Tahn«, ihr Foto obenauf. Langes blondes Haar, ein Gesicht voller Sommersprossen. Ein viel zu breiter Mund. Jetzt wurde ihm klar, dass er sich immer gewünscht hatte, diesen Mund sprechen zu hören, lachen zu sehen. Dass er darauf gehofft hatte, seit er das erste Mal ihre Fotografie in Händen gehalten hatte.

Mit einem Seufzen lehnte er sich zurück und rieb sich die Augen. Obwohl er schon zahlreiche Leichen gesehen hatte und genau wusste, wie er bei der Betrachtung vorzugehen hatte, misslang der Versuch, sich auf andere Details zu konzentrieren als die langen blonden Haare, die selbst in feuchtem Zustand so glatt über den Nacken und die nackten Schultern der Toten fielen, als hätte jemand sie sorgfältig drapiert. Es gab bislang keine Beweise außer eben diesem Haar, der Form des schlanken Körpers und dem übereinstimmenden Alter, dennoch war er sich sicher, dass es sich bei der Toten um Laura Tahn handelte.

Das Wasser hatte die Tote erst vor wenigen Stunden freigegeben. Sie lag auf dem Bauch, und ihre blasse Haut schimmerte noch feucht im ersten Licht des Tages. Das Gesicht war in die Steine geschmiegt, die Arme wie die einer achtlos beiseitegeworfenen Puppe ausgestreckt, die Beine von Seegras umschlungen.

Dem beigefügten Bericht entnahm er, dass es kein Gesicht mehr gab, und die Finger fehlten ebenso wie Teile der Füße. Auf der Vorderseite wies der Körper vom Hals bis zum Unterbauch und an den Beinen Verletzungen auf. Was auch immer sie verursacht hatte, hatte die schützende Haut zerstört, Muskeln und Innereien freigelegt, und Fische und Vögel hatten ein Übriges geleistet. Noch konnte niemand sagen, wie lange die Frau im Wasser gelegen hatte. Das herauszufinden, war die Arbeit der Rechtsmediziner. Ebenso wie den endgültigen Identitätsbeweis anhand einer DNA-Analyse zu liefern. Aber Gills zweifelte nicht, wie das Ergebnis lauten würde.

Entgegen aller Vernunft wünschte er sich, er wäre vor Ort gewesen, als Georg Bristol den Leichnam gefunden hatte. Hätte die Tote dort am Strand begutachten können statt später auf dem kalten Metalltisch der Rechtsmedizin, um mit eigenen Augen zu sehen, was die Fotos ihm auf dem Computerbildschirm zeigten. Er konnte sich des Gefühls nicht erwehren, dass er etwas Entscheidendes übersah. Natürlich würde es nach diesen ersten Bildern weitere Aufnahmen geben. Professionelle Aufnahmen der Spurensicherung, aufgenommen mit Spezialkameras. Es würde Vergrößerungen geben. Berichte und Analysen. Dennoch.

Sein Blick wanderte zurück zu der aufgeschlagenen Akte. Zu Laura Tahns Foto. Ich habe es ihm gesagt. Ihm erzählt, dass ich alles weiß.

Julian Tahn war schon einmal verheiratet gewesen. Das ging aus den Informationen hervor, die Gills von den deutschen Behörden als Antwort auf sein Rechtshilfeersuchen zu seiner eigenen Überraschung innerhalb von nur vierundzwanzig Stunden per Mail erhalten hatte. Die Ehe mit Laura war für Julian also nicht die erste gewesen. Laura musste davon gewusst haben. Da gab es für Gills keinen Zweifel. Aber was wusste sie über den Tod von Julians erster Frau? Über Monique Noviak, gestorben an den Folgen eines Sturzes in ihrer Hamburger Wohnung? Und darüber, dass ihr Ehemann wegen fahrlässiger Tötung angeklagt gewesen war? Letztlich hatte das Gericht ihn freigesprochen, doch es war ein Freispruch zweiter Klasse, der nicht wegen erwiesener Unschuld, sondern aufgrund mangelnder Beweise erfolgt war – in dubio pro reo.

Ich habe es ihm gesagt. Ihm erzählt, dass ich alles weiß.

Erneut betrachtete er Lauras Foto. Was hast du deinem Mann gesagt? Was hatte sie über ihn herausgefunden? Hatte es etwas mit seiner früheren Ehe zu tun?

Sie lächelte still in sich hinein, den Blick in die Ferne gerichtet.

Ich brauche einen Ort zum Nachdenken. Allein.

Lauras digitales Tagebuch gab nichts preis über den Inhalt des Streits mit ihrem Mann und auch nichts über ihr vermeintliches Wissen. Gills hatte Julian Tahn ursprünglich auf das in der Cloud versteckte und verschlüsselte Dokument ansprechen wollen, doch nun war er erleichtert, dass sich keine Gelegenheit ergeben hatte. Laura hatte einen nicht unerheblichen Aufwand betrieben, ihre Aufzeichnungen geheim zu halten. Plötzlich erschien es Gills von Bedeutung, diesen Wunsch zu respektieren, auch wenn er damit vielleicht Vorschriften verletzte. Außer ihm kannte nur Sonja Stanfield den Inhalt, und auf sie konnte er sich verlassen, wenn er sie bat, Stillschweigen zu wahren.

Er legte Lauras Foto in die Akte und klappte sie zu. Allmählich kristallisierte sich heraus, dass er die Antworten auf die sich summierenden Fragen und Ungereimtheiten nicht in Schottland finden würde. Sie lagen in der Vergangenheit der Tahns, und solange er sich darüber keine Klarheit verschaffte, kam er in seinen Ermittlungen nicht voran. Bevor er sich auf diesen Weg begab, musste er jedoch sicherstellen, dass die emotionalen Bruchstücke, mit denen Laura ihn in ihren Aufzeichnungen versorgte, nicht nur einer persönlichen Wahrheit, sondern der Realität entsprachen, und da er mit Julian Tahn nicht darüber sprechen wollte, würde er nach Ullapool fahren müssen. Sollte sich Laura dort tatsächlich tagsüber in einem der Pubs im Hafen betrunken haben, war das nicht unbemerkt geblieben, ebenso wenig wie der erwähnte Streit auf offener Straße. Darüber hinaus musste er herausfinden, in welchem der Hotels oder Bed-and-Breakfast-Pensionen das deutsche Paar übernachtet hatte, und mit dem Betreiber sprechen. Allerdings brauchte er dafür die Genehmigung des Chief Inspectors, der einige begründete Fragen stellen würde, warum Gills diese Ermittlungen gerade jetzt, wo sein Verdächtiger mit einer Panikattacke zusammengebrochen war, durchführen wollte, und der zudem zu Recht verlangen würde, dass Gills Julian Tahn mit dem Leichenfund konfrontierte.

Bei diesem Gedanken runzelte Gills die Stirn. Er hatte sich die Diagnose des Arztes angehört und sich erklären lassen, was zu einer solchen Attacke führen konnte. Er wollte jedoch nicht ausschließen, dass Julian Tahn ihnen allen und vielleicht sogar sich selbst etwas vorspielte, aber gegen den Willen des behandelnden Arztes würde er wohl kaum mit ihm sprechen können. Jetzt, wo ein Haftbefehl vorlag, hatten er zwar Zeit gewonnen, aber was, wenn Samantha Merryweather auf Haftunfähigkeit ihres Mandanten plädierte? Würde es ihm unter den gegebenen Bedingungen gelingen, Julian Tahn dann in die geschlossene Abteilung der Psychiatrie einweisen zu lassen? Und inwieweit hätte er dort noch Zugriff auf ihn? Bislang hatte sich Julian geweigert, seine Familie in Deutschland zu informieren, wenn das erst geschah …

Stopp!

Das war eine Gedankenspirale, die ihn nicht voranbrachte. Er durfte sich nicht allein auf die Probleme konzentrieren, die sich vor ihm auftürmten. Kurz entschlossen griff er deshalb zum Telefon, überlegte es sich jedoch noch während der Eingabe der Kurzwahl anders. Ein Gespräch mit Mortimer Brown von Angesicht zu Angesicht kostete ihn jedes Mal aufs Neue Überwindung, war vermutlich aber erfolgversprechender, als telefonisch um die Genehmigung der Dienstreise nach Ullapool und Kinlochbervie zu bitten, wo er sich am Ort des Leichenfundes selbst noch einmal ein Bild machen wollte. Er stand von seinem Schreibtisch auf und war gerade im Begriff, seine Bürotür zu öffnen, als es klopfte.

Samantha Merryweathers rundes Gesicht leuchtete ihm wie ein rotwangiger Apfel entgegen. Sie war ein wenig erhitzt, die roten Locken klebten an ihren Schläfen, und ihr Busen hob und senkte sich unter ihrem schnellen Atem.

»Sie haben es augenscheinlich sehr eilig gehabt, Miss Merryweather«, stellte er fest.

»Eilig, Sie zu sehen, Mr. Gills, in der Tat«, bekannte sie atemlos. »Passt es?«

Er zögerte. »Ich bin auf dem Weg zum Chief Inspector.«

»Ich kann warten.«

Gills’ Hand verharrte auf dem Türgriff. »Worum geht es denn?«

Samantha fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. Sie wollte ihr Anliegen nicht zwischen Tür und Angel vortragen, das spürte er, und wog nun in Sekundenschnelle ihre Chancen ab. »Es … geht um den Leichenfund in Oldshoremore«, sagte sie schließlich und sah ihn mit ihren grünen Augen eindringlich an.

Gills versuchte, seine Überraschung zu verbergen. Woher wusste sie bereits davon?

Sie nutzte seine Sprachlosigkeit. »Angesichts der psychischen Instabilität meines Mandanten möchte ich Sie bitten, ihn mit diesen Neuigkeiten nicht zu konfrontieren, solange die Identität der Frau noch nicht abschließend geklärt ist«, stieß sie hastig hervor.

»Sie möchten mich bitten …«, wiederholte Gills langsam. Ärger kochte in ihm hoch. »Woher haben Sie überhaupt die Information?«

Sie ging nicht auf seine Frage ein. »Mr. Gills, ich bin zu Ihnen gekommen in der Hoffnung, dass wir einvernehmlich eine Lösung finden, ohne dass ich eine Stellungnahme des Arztes einholen muss«, sagte sie stattdessen.

Gills lauschte ihr mit hochgezogener Braue. »Miss Merryweather, drohen Sie mir gerade?«

Sie schluckte und wirkte betreten, doch der Schein trog. »Keineswegs, Mr. Gills«, entgegnete sie mit fester Stimme. »Ich zeige nur meine Möglichkeiten auf.«

»Ihre Möglichkeiten, so.« Er hörte selbst die plötzliche Kälte in seiner Stimme. Kurzerhand klappte er die Akte auf, die er unter dem Arm trug, und entnahm ihr einen Computerausdruck. »Lesen Sie das, Miss Merryweather, während ich mit dem Chief spreche. Wenn ich zurück bin, können wir uns darüber austauschen und unsere Möglichkeiten besprechen. Ich stelle Ihnen gerne so lange mein Büro zur Verfügung.«