Peter wagte sich nicht aus dem Haus. Das Entsetzen, das der Deutsche in ihm ausgelöst hatte, als er plötzlich vor ihm aufgetaucht war, steckte ihm noch immer in den Knochen, ebenso wie das Gefühl des drohenden Unheils, das ihn so unvermittelt überfallen hatte. In seiner Verzweiflung tat er etwas, wozu er sich noch nie zuvor hatte hinreißen lassen. Er rief Fionna bei ihrer Schwester an.
Und Carol war nicht begeistert, als sie seinen Anruf annahm. »Kann sich Fionna nicht einmal ein paar Tage erholen, ohne an ihre Pflichten erinnert zu werden?«, giftete sie ihn an.
Peter antwortete nicht darauf, hörte aber, wie sie nach Fionna rief und etwas von »dem unnützen Mann« schimpfte, und hätte beinahe wieder aufgelegt, aber dann war Fionna auch schon am Telefon. Allein ihre Stimme zu hören richtete ihn wieder auf. Ihre schlichte Frage: »Hallo, Peter, was gibt’s?«, rührte ihn so sehr, dass er kaum antworten konnte.
»Ach, nichts«, erwiderte er verlegen.
»Na, wegen nichts rufst du doch nicht an.«
Er lachte unsicher. »Ich wollte nur mal hören, wie es dir geht.«
Einen Moment lang war es still am anderen Ende der Leitung.
»Es geht mir gut«, sagte Fionna schließlich. »Und dir?«
»Alles bestens«, log Peter heiser. »Bin gerade von der Arbeit heimgekommen.«
Erneut ließ sich Fionna mit ihrer Antwort Zeit, so dass er schon dachte, die Verbindung wäre unterbrochen. »Weißt du, Peter«, hörte er sie dann aber sagen, »ich glaube, ich komme heute nach Hause.«
»Ach wirklich?« Er versuchte, unaufgeregt zu klingen, obwohl ihm das Herz vor Freude und Erleichterung bis zum Hals schlug.
Fionna schien es nicht zu bemerken. »Ja, ich habe heute Morgen Gordon McCullen im Hafen getroffen. Er hat ein paar Besorgungen für Emma gemacht«, erzählte sie im Plauderton. »Er hat mir vorgeschlagen, mich mitzunehmen, wenn er am späten Nachmittag zurückfährt. Ich habe gesagt, ich überleg es mir noch.«
»Du würdest das Geld für den Bus sparen, wenn du mit ihm fährst«, bemerkte Peter und war stolz, wie gelassen er diese Worte hervorbrachte.
»Richtig. Das hab ich mir auch gedacht«, stimmte Fionna ihm zu. »Er wollte vorbeikommen, bevor er sich auf den Heimweg macht, und ich werde sein Angebot wohl annehmen.« Sie räusperte sich. »Zumal ich mir den Wintermantel gekauft habe. Du weißt schon, den, von dem ich dir erzählt habe. Ich dachte, das können wir uns leisten, jetzt, wo du wieder Arbeit hast.«
Als er nicht antwortete, fügte sie hinzu: »Du bist doch nicht ärgerlich, dass ich dich nicht vorher gefragt habe?«
Peter dachte an das Geld, das er für diesen Mantel auf die Seite legen wollte. Und an den Ring, der jetzt im Hafenschlick lag. Sofort waren seine Gedanken auch schon wieder bei Julian Tahn. Er atmete tief durch. »Es ist gut, dass du nach Hause kommst«, erwiderte er. »Und das mit dem Mantel war genau richtig.«
Nachdem sie sich verabschiedet hatten, legte er das Telefon zurück auf die Station. Das Telefonat hatte ihn beruhigt, und er war froh, dass er ihr nichts von der Begegnung im Hafen erzählt hatte. Was sollte sie von ihm denken, wenn er sich so gehenließ? Und was konnte der Deutsche ihm schon anhaben? Er war gerade erst aus der Haft entlassen und würde sich vorsehen, nicht gleich wieder Ärger mit der Polizei zu bekommen.
Peter trat ans Fenster und sah hinaus. Das Haus, in dem sie lebten und das Fionna von ihren Eltern geerbt hatte, lag oberhalb der Straße nach Rhiconich. Der wolkenlose Himmel spiegelte sich im Wasser des Loch Inchard, in das die Hafenanlage wie eine Halbinsel hineinragte. Die Kollegen von der Spätschicht waren gerade dabei, einen Lkw zu beladen. Im Winter, wenn die Wolken tief hingen, konnte er oft tagelang nicht hinübersehen, dann war es, als ob die Straße unterhalb des Hauses direkt am Ende der Welt lag. Dennoch schien ihm diese Zeit, wenn die Zugvögel und mit ihnen auch die Touristen wieder gen Süden verschwunden waren, bisweilen die schönste Jahreszeit zu sein. Dann sind wir wieder unter uns, pflegte Fionna zu sagen, wenn er es ansprach, und sie lachten beide.
Er wollte sich gerade abwenden, als sein Blick auf die Rosen fiel, die vor dem Haus wucherten. Erschrocken erinnerte er sich, dass er seiner Frau versprochen hatte, sie anzubinden, während sie fort war. Noch beim Einsteigen in den Bus hatte sie geklagt, dass der Wind im September ihr die Rosen zerreißen würde.
Während er überlegte, wo er den Bindedraht fand, stellte er seufzend fest, dass der alte Holzzaun, der ihren kleinen Garten einfasste, nicht nur dringend Farbe, sondern auch ein paar neue Bretter benötigte. Während der vergangenen Monate, die er in seiner Hütte im Hafen gehaust hatte, war dafür keine gute Zeit gewesen.
Peter ließ die Gardine fallen. Fionna würde nicht vor dem Abend zurück sein, und im Schuppen stand noch ein Farbeimer. Ein paar passende Latten fanden sich bestimmt in der Ecke, wo er das Holz lagerte. Ein Zaun war vielleicht kein Mantel, aber repariert und weiß gestrichen würde er ihre Rosen viel besser zur Geltung bringen.
Der Nachmittag war schon fortgeschritten, die Rosen hochgebunden und der Zaun fast fertig. Peter wischte sich den Schweiß von der Stirn. Seit er damals das alte Boot seines Schwiegervaters wieder auf Vordermann gebracht hatte, hatte er nicht mehr so intensiv gearbeitet. Zumindest fühlte es sich so an. Er betrachtete seine schwieligen und mit Farbe bekleckerten Hände. Jetzt könnte er ein kaltes, frisch gezapftes Bier vertragen und sah sehnsüchtig zum Hotel hinüber, das nur wenige hundert Meter entfernt den Hang hinauf lag. Aber vermutlich war der Deutsche dort abgestiegen. Peter befürchtete, dass Julian Tahn nicht nach Kinlochbervie gekommen war, um gleich wieder zu verschwinden. Also würde es heute kein Bier für ihn geben, es sei denn, er fuhr zum Laden. Dann würde er jedoch nicht mit dem Zaun fertig werden. Peter rieb sich die Nase. Fionna freute sich sicher auch über einen zur Hälfte gestrichenen Zaun, wenn er ihr versprach, den Rest noch in dieser Woche fertigzustellen.
Keine Viertelstunde später saß er auf seinem Fahrrad und rollte vorsichtig den Berg hinunter. Die Straße hatte Schlaglöcher genau vor der alten Kirche, an dieser Stelle wäre er schon einmal fast gestürzt. Und täglich kamen neue Schlaglöcher dazu. So zumindest erschien es ihm, seit er hier wieder regelmäßig vorbeifuhr. Der Asphalt im Ort war eben nicht dafür ausgelegt, ständig schwere Sechsundreißigtonner auszuhalten.
In dem kleinen Supermarkt, der aus nicht mehr als zwei Regalreihen und einer großen Tiefkühlbox bestand, war nicht viel los. Peter nahm sich einen Sixpack Bier aus dem Regal und ging damit zur Kasse, hinter der die beiden Söhne des Inhabers gelangweilt ihr Taschengeld aufbesserten.
»Hallo, Mr. Dunn«, begrüßte ihn der jüngere der beiden und tippte den Preis für das Sixpack ein.
»Hallo Tony«, entgegnete Peter, und nachdem er einen Blick auf den Kassenzettel geworfen hatte, den dieser ihm reichte, fügte er hinzu: »Du hast vergessen, das Pfand zu berechnen.«
Tony wurde rot, bekam von seinem älteren Bruder einen Schlag auf den Hinterkopf und nahm Peter eilig den Bon wieder ab, um seinen Fehler zu korrigieren.
Beim Hinausgehen warf Peter einen Blick auf die Tageszeitung, die in einem Ständer neben der Tür hing. Er überlegte gerade, eine zu kaufen, als einer der Jungen hinter der Kasse rief: »Die sind von gestern. Heute gab es keine Lieferung.«
Peter hob eine Hand zum Gruß, verließ den Laden und prallte dabei mit einer Frau zusammen, die die wenigen Stufen von der Straße heraufkam.
»Entschuldigung«, murmelte sie und wollte sich an ihm vorbeidrängen.
Peter starrte ungläubig ihr glattes blondes Haar, den zu breiten Mund und ihre dunklen Augen an.
Sein Kiefer klappte herunter, und das Sixpack fiel ihm aus der Hand.
Mit lautem Klirren zerschellten die Flaschen auf dem Boden, und das Bier spritzte über ihre Wanderstiefel.
Sie war es!
Sie war nicht tot!
Sie stand hier vor ihm in Fleisch und Blut und starrte ihn genauso sprachlos an.
»Sie sind der Mann, der uns auf seinem Boot mitgenommen hat«, sagte sie schließlich mit seltsam rauhem Unterton.
Er konnte nur wortlos nicken.
»Warum starren Sie mich so an?«
Er schluckte, nicht sicher, ob ihm seine Stimme gehorchen würde. »Alle … alle denken, Sie sind tot.«
»Tot? Ich?«
Wieder nickte er.
»Ihr Mann hat Sie als vermisst gemeldet, und dann wurde eine Leiche an Land gespült …«
»Eine Leiche?«, unterbrach sie ihn, und er spürte ihre Atemlosigkeit, ihre plötzliche Panik. »Was für eine Leiche?«
»Die einer Frau. Einer blonden langhaarigen Frau.«
Sie schüttelte irritiert den Kopf. »Ist das möglich?« Sie betrat den Laden, und für einen Moment wanderte ihr Blick in die Ferne, und sie glich jenem Bild, das der junge Gills ihm gezeigt hatte.
Dann trat sie beiseite, weil Tony herauskam, Feger und Schaufel in der Hand. »Mr. Dunn, wollen Sie ein neues Sixpack haben?«
Peter schüttelte den Kopf. Die Lust auf Bier war ihm vergangen. »Hast du die Frau gesehen?«, fragte er den Jungen.
Der nickte überrascht.
»Hast du sie auch gehört?«
Tony bedachte Peter mit einem misstrauischen Blick, nickte aber erneut. Erleichtert klopfte Peter dem Jungen auf die Schulter. »Schönen Tag noch, Tony.«
»Schönen Tag noch, Mr. Dunn.«
Erst als Peter zu Hause war, begriff er, warum er Laura Tahn für einen Geist gehalten hatte, der vor ihm auftauchte wie eine Ausgeburt seiner überreizten Phantasie. Er hatte nichts gefühlt in ihrer Gegenwart. Beinahe, als wäre sie tot.