Die Nachricht der als vermisst gemeldeten deutschen Touristin Laura Tahn flatterte Detective Sergeant John Gills noch am selben Abend auf den Schreibtisch. Sein Büro befand sich im modernen Gebäude des Northern Constabulary in Inverness, einem von neun regionalen Hauptquartieren der schottischen Polizei. Mit der Bemerkung: »Das ist doch Ihre Ecke, oder?«, schickte ihm der Chief Inspector die von den Kollegen in Rhiconich aufgenommene Meldung und die ausgefüllten Formulare per Mail.

»Besuchen Sie Ihre Heimat, und finden Sie heraus, was los ist«, fügte er hinzu, als Gills ihn gleich darauf anrief.

Der zögerte. »Kann das nicht die Polizei vor Ort erledigen? Ich meine …«

»Gills, es geht hier nicht um verlorengegangene Schafe, sondern um eine verschwundene Touristin«, fiel ihm sein Vorgesetzter ungehalten ins Wort. »Da müssen wir schnell und kompetent agieren, bevor die Medien Wind davon bekommen.«

Gills verfluchte seine Entscheidung, ausgerechnet an diesem Tag länger im Büro geblieben zu sein. Sicher hätte irgendein Kollege den Fall übernommen, wenn er seinem Chef nicht vor einer Viertelstunde auf dem Flur begegnet wäre. Der Chief Inspector neigte zu spontaner Aufgabenverteilung, vor allem wenn er bis spätabends im Büro saß, um Anfragen des Ministeriums zu bearbeiten.

Er legte auf und ging über den Flur zum Druckerraum, um sich die Formulare zu holen. »Wie kann man jemanden in der Sandwood Bay verlieren?«, murmelte er vor sich hin, während er sie gleich darauf überflog. Dann rief er seinen Freund Liam an, mit dem er in der Altstadt von Inverness in einer Stunde zum Billardspielen in seiner Stammkneipe am Ufer des River Ness verabredet gewesen wäre, und sagte ihr Treffen ab.

»Nicht dein Ernst?«, erwiderte Liam enttäuscht. »Das heißt, dass ich mich heute Abend zu Hause um die Kinder kümmern muss. Das kannst du mir nicht antun!«

Gills lachte. »Grüße an Amy. Der Chief Inspector hat vermutlich nur an sie gedacht, als er mir den Fall aufgehalst hat.«

»Du wirst definitiv heute Abend noch fahren?« Liam wollte die Hoffnung immer noch nicht aufgeben.

»Es bleibt mir nichts anderes übrig«, gestand Gills. »Es sind fast hundert Meilen, und in der Region sind das gut zweieinhalb Stunden Fahrt.«

»Na, wenigstens deine Eltern werden sich freuen.«

Da war Gills sich nicht so sicher. Nach seinem letzten Besuch waren sie im Streit auseinandergegangen, und er war nicht wirklich darauf erpicht, sich bei seinen Eltern einzuquartieren, aber um diese Uhrzeit blieb ihm kaum eine andere Wahl. Halbherzig wählte er im Anschluss an das Gespräch mit Liam ihre Nummer, während er gleichzeitig auf seinem Bildschirm die Verkehrslage für den Nordwesten des Landes abrief.

Sein Vater nahm den Anruf an. »Hab schon gehört, da ist eine Frau verschwunden«, sagte er, als Gills sein Kommen ankündigte.

Der unterdrückte ein Seufzen. »Sprich bitte nicht darüber, Vater«, bat er ihn, die Worte seines Chefs noch im Ohr. Wenn bekannt wurde, dass er als Ermittler aus Inverness anreiste, war das nicht unbedingt förderlich für die Geheimhaltung der Untersuchung.

»Meinst du, die Leute hier können nicht eins und eins zusammenzählen, wenn sie morgen früh dein Auto vor dem Haus sehen?«

»Mag sein«, entgegnete Gills, »dennoch wäre es mir lieber, wenn ihr Stillschweigen bewahrt …«

Sein Vater räusperte sich, und Gills ahnte, was kam.

»Wenn du schon herkommst, solltest du dir auch die Zeit nehmen, Susan zu besuchen«, sagte sein Vater erwartungsgemäß. »Deine Mutter und ich …«

»Das sollten wir nicht am Telefon besprechen«, unterbrach er den alten Mann. »Richte Mutter bitte Grüße aus und leg mir einen Schlüssel raus, falls ihr ins Bett gehen solltet, bevor ich ankomme.«

Er legte auf, ohne eine Antwort abzuwarten, und blickte gedankenverloren auf das Telefon, bevor er schließlich aufstand, die Unterlagen zusammensuchte und aus seinem Schrank seine Reisetasche nahm, die er immer gepackt hatte, falls er unerwartet einen Außentermin erhielt, der eine Übernachtung einschloss. Auf dem Weg zum Parkplatz rief er über sein Mobiltelefon die Privatnummer des Detectives an, der die Vermisstenmeldung vor Ort aufgenommen hatte. Ian Mackay war kein Unbekannter für ihn. Im äußersten Nordwesten Schottlands kannte jeder jeden, und entsprechend herzlich war die Begrüßung.

»Na, John, wenn ich gewusst hätte, dass es nur einer verschwundenen Frau bedarf, um dich mal wieder nach Hause zu locken, hätten wir schon viel früher etwas in dieser Hinsicht arrangiert«, begrüßte ihn Mackay erfreut.

Gills lachte. Obwohl Mackay fünfzehn Jahre älter war als er, verband sie eine enge Freundschaft. Nicht zuletzt war es auch Ians Einfluss gewesen, der dazu geführt hatte, dass Gills sich dem Polizeidienst verschrieben hatte.

»Ich würde morgen gern als Erstes mit dem Ehemann der Frau sprechen und dann zur Bay fahren, um mir vor Ort ein Bild zu machen«, teilte er ihm seine Pläne mit. »Wäre gut, wenn ich ein oder zwei Officer zur Unterstützung bekommen könnte.«

»Ich werde dich begleiten«, erklärte Mackay. »Und vielleicht nehmen wir noch den jungen Brian mit. Soll ich den Ehemann über deinen Besuch informieren?«

»Das wäre gut. Ich werde morgen früh gegen acht Uhr im Hotel sein.«

»Alles klar, ich kümmere mich darum«, versprach Mackay. »Ich rufe gleich mal Emma an und werde sie bitten, die Nachricht weiterzuleiten.«

»Bis morgen«, verabschiedete sich Gills und ließ das Telefon in die Tasche seiner Jacke gleiten.

Inzwischen war er bei seinem Wagen angelangt, einem fast noch fabrikneuen dunkelgrauen Audi A3, den er sich gekauft hatte, nachdem er vor zwei Monaten zum Detective Sergeant befördert worden war. Ursprünglich hatte er mit einem größeren Modell geliebäugelt, aber dann doch lieber in Leistung und Ausstattung anstatt in eine größere Karosserie investiert. Liebevoll fuhr er mit dem Finger über den glänzenden Lack und polierte mit dem Ärmel eine matte Stelle weg, bevor er einstieg.

 

Er fuhr die A9 Richtung Norden. Das Wasser des Cromarty Firth wirkte grau und abweisend, die Wolken hingen tief, und in dem Dunst zeichneten sich schemenhaft die Skelette der Ölplattformen, die hier gewartet wurden, wie hochbeinige Fabelwesen ab. Es war erst August, doch die Tage wurden schon wieder spürbar kürzer, und an diesem trüben Abend erinnerte Gills lediglich das Goldgelb des gepressten Strohs auf den abgemähten Feldern daran, dass der Sommer noch nicht vorüber war.

Sobald er ins Landesinnere abbog, wurden die Ortschaften und der Verkehr merklich weniger, nur noch vereinzelt tauchten die Umrisse eines Gehöfts in der kargen Landschaft auf. Außer kahlen, halb im Nebel verborgenen Bergen, einsamen, weitläufigen Tälern und mit Flechten überwucherten Felsblöcken gab es hier nichts, woran sich das Auge festhalten konnte: Doch Gills atmete bei diesem Anblick befreit auf. Das war seine Heimat. Lange Zeit hatte er sich dagegen gewehrt, hatte nicht wahrhaben wollen, wo er herkam und was ihn geprägt hatte, obwohl ihm die ersten Jahre in Inverness nach seiner Ausbildung am Scottish Police College ziemlich zugesetzt hatten. Von Glasgow ganz zu schweigen, wohin er von seiner Behörde für ein Dreivierteljahr ausgeliehen worden war. Das Leben in der schottischen Metropole hatte Beklemmungen in ihm ausgelöst. Er hatte sich gezwungen, es auszuhalten, obwohl ihm das Häusermeer und die vielen, zu hastig hin und her eilenden Menschen den Atem genommen hatten. Das Gefühl, nirgendwo allein sein zu können, und die ständig präsente Geräuschkulisse der Stadt hatten ihm körperliche Qualen bereitet. Fasziniert hatte ihn hingegen die Weltoffenheit, die er bei den Städtern erlebt hatte, insbesondere bei den vielen Studenten. Je weiter das Land, desto engstirniger seine Bevölkerung, hatte ein guter Bekannter damals spöttisch bemerkt, als Gills das Thema angeschnitten hatte. Dieser Aussage zustimmen zu müssen, hatte ihn damals geschmerzt. Inzwischen gelang ihm der Spagat zwischen Heimatliebe und kritischer Distanz besser, wenn er auch nach wie vor emotional belastet war. Aber davon würde er sich wohl nie lösen können. Ein echter Gills gehört an die Westküste. Unser Blut besteht nun einmal zu einem Teil aus Meerwasser, da brauchen wir den Blick auf den Minch, hatte sein Großvater gerne betont.

 

Als er endlich das nur wenige Meilen nördlich von Kinlochbervie gelegene Blairmore erreichte, war es längst dunkel. Er bog von der schmalen Straße ab in die Sackgasse, in der das Haus seiner Eltern zwischen zwei anderen lag. Die Mauern der alten weißen Cottages blitzten im Scheinwerferlicht auf, und das Erste, was er wahrnahm, als er aus dem Wagen ausstieg, war der salzige Geruch des Meeres und das entfernte Dröhnen der Brandung, das besonders in einer so ruhigen Nacht deutlich zu hören war. Ansonsten lag tiefe Stille über dem Land.

Gills musste sich eingestehen, dass seit seinem letzten Besuch fast ein halbes Jahr vergangen war. Aus Bitterkeit über den Streit mit seinen Eltern hatte er nahezu einen ganzen Sommer verstreichen lassen, ohne auch nur einmal herzukommen, hatte auf die Strände und das Fischen ebenso verzichtet wie auf den Blick über den Minch, der Meeresenge zwischen dem schottischen Festland und der Inselgruppe der Äußeren Hebriden, und jetzt stand er mitten in der Nacht vor seinem Geburtshaus und ärgerte sich darüber. Starrsinn war in seiner Familie eine ausgeprägte Charaktereigenschaft.

 

Feuchte Erde blieb an seinen Fingern kleben, als er unter dem dritten Stein im Beet neben der Eingangstür nach dem Schlüssel tastete. Seit seiner Kindheit lag der Schlüssel dort, und dorthin legte Gills ihn auch zurück, nachdem er aufgeschlossen hatte. Im Haus war es dunkel, aber sobald er eintrat, konnte er hören, wie am anderen Ende des Flurs in der Küche ein Stuhl gerückt wurde. Gleich darauf ging die Tür auf, und die schlanke Silhouette seiner Mutter zeichnete sich im Licht ab, das in den dunklen Gang fiel.

»John«, begrüßte sie ihn zurückhaltend, doch die Freude in ihrer Stimme entging ihm nicht. Sie war immer eine schöne Frau gewesen, und sogar jetzt im Alter besaßen ihre Bewegungen noch eine Grazie, um die sie so manch jüngere Frau beneiden dürfte.

»Hallo Mum«, erwiderte Gills. Unschlüssig blieb er in der Tür stehen.

»Dein Vater schläft schon«, fügte sie hinzu, und im Halbdunkel konnte er das Lächeln, das bei diesen Worten um ihre Mundwinkel zuckte, mehr erahnen als sehen. Behutsam schloss er die Tür hinter sich, machte einen Schritt auf sie zu und zog sie in seine Arme. »Schön, dich zu sehen«, flüsterte er ihr ins Ohr.