Das Meer hatte sich wieder einmal seinen Zoll geholt. Das war das Einzige, woran Peter denken konnte. Er starrte auf die dunklen Wogen, die gespickt waren mit weißen Schaumkronen und mit beständigem Dröhnen auf den Strand rollten. Jetzt, bei Ebbe, war dieser Strand gut fünfzig Meter breit, und die dunklen, von Seepocken und Muscheln verkrusteten Steine der vorgelagerten Insel lagen frei wie die Gebeine von Toten. Dort war die Frauenleiche angetrieben worden. So wie im Herbst und Winter die angefressenen Kadaver von Seehunden und Schweinswalen an den Strand gespült wurden, war auch die Tote zur Nahrung geworden für Fische und Seevögel. Das zumindest hatte Georg Bristol am Vorabend im Pub des Hotels erzählt. Der alte Mann hatte im Mittelpunkt gestanden und mit einem Bier in der einen und einem Zeigestock in der anderen Hand den Anwesenden auf der provisorisch an der Wand angebrachten Karte genau gezeigt, wo er die Tote gefunden hatte. Seit er pensioniert war, hatte er nicht mehr eine solche Zuhörerschaft gehabt. Die Handvoll naturbegeisterter Touristen, die ihn hin und wieder auf eine Vogelexkursion begleitete, war nichts im Vergleich zu der Aufmerksamkeit, die er an diesem Abend erhielt. Dementsprechend kostete der alte Lehrer die Situation aus und erging sich ausführlich in jedem noch so unbedeutenden Detail. Auch Peter hing an seinen Lippen. Was er hörte, wuchs in seinem Hirn zu Bildern zusammen, und die Frau ohne Gesicht und mit aufgerissenem Abdomen, der das lange blonde Haar über die nackten Schultern fiel, verfolgte ihn bis in seine Träume. Stöhnend hatte er sich im Bett hin und her gewälzt, bis Fionna ihn schließlich erlöste, ihm Tee mit einem ordentlichen Schuss Whisky gekocht hatte, so dass er wieder schlafen konnte, nachdem er ihr mit zitternder Stimme von seiner nächtlichen Mär erzählt hatte.
Aber Georg Bristols Bericht hatte ihm keine Ruhe gelassen, und so hatte er sich im Morgengrauen auf sein Fahrrad gesetzt und war die wenigen Kilometer von Kinlochbervie nach Oldshoremore hinausgefahren. Er hatte sich die Stelle genau gemerkt, die der ehemalige Lehrer beschrieben hatte, und jetzt starrte er vom Strand aus darauf und wartete, dass die Ebbe genug Land freigab, so dass er über den natürlichen Damm, der die Insel mit dem Festland verband, hinauswaten konnte. Für diesen Ausflug hatte er extra seine Arbeitsschicht im Hafen getauscht.
Fionna hatte versucht, ihn davon abzubringen. »Wozu soll das gut sein?«, hatte sie ihn noch vor einer Stunde gefragt, als er seine Wetterjacke übergezogen und ihr zum Abschied einen Kuss auf die Wange gedrückt hatte.
Er war ihr die Antwort schuldig geblieben. Er hatte nur gewusst, dass er hier sein musste. Dass er die Steine sehen musste, auf denen die Tote gelegen hatte, und die Muscheln und Seepocken, über die sie geschabt war. Dass er sie fühlen musste, es zumindest versuchen, selbst wenn nichts mehr von ihr da war. Die Beamten aus Inverness – ein Spezialteam, wie Bristol sie informiert hatte – hatten alle Überreste der Toten von den Steinen gekratzt, und wenn sie etwas übersehen haben sollten, so hatte die Flut, die bereits zweimal über die Ränder der Insel gespült war, ein Übriges geleistet.
Was also trieb ihn her?
Peter schob die Frage von sich, als er seine Gummistiefel aus dem nassen Sand zog und auf das leise Gurgeln lauschte, mit dem das Wasser die Löcher füllte, bevor er sich auf den Weg machte, der seine ganze Konzentration erfordern würde. Die Steine waren rutschig und nass, und es wäre nicht das erste Mal, dass sich hier draußen jemand den Knöchel brach.
Um diese Jahreszeit, wenn der Sommer sich bereits seinem Ende zuneigte, besuchte außer ein paar Touristen kaum jemand die Insel. Im Frühsommer war das anders. Dann lohnte es sich, dort nach Möweneiern zu suchen, eine Delikatesse, die die Einheimischen zu schätzen wussten. Er selbst hatte Fionna vor Jahren einmal einen ganzen Korb voll mitgebracht. Sie hatte sie eingelegt, so dass sie sie wochenlang genießen konnten.
Endlich erreichte Peter den Fundort, wo die Leiche gelegen hatte. Das kurze, dichte Gras, das den Rücken der Insel wie einen grünen Pelz bedeckte, wurde bei Flut regelmäßig überspült, Spuren von getrockneten Algen und Tang zeugten davon und vermischten sich mit dem Kot der Schafe, die hier den Sommer über ihr Weiderevier hatten. Darunter schimmerten die dunklen, von der Ebbe freigegebenen Steine feucht in der aufgehenden Sonne. Peter ging in die Hocke. Er ignorierte den Druck der Stiefelschäfte in seinen Kniekehlen und starrte angestrengt ins Wasser. In einem der Zwischenräume entdeckte er zwei große Krabben, die sich zurückzogen, sobald sein Schatten auf sie fiel. In den anderen war nichts als abgerissenes Seegras, Tang und leere Muschelschalen.
Er legte eine Hand auf einen der Steine und lauschte. Wenn er wie seine Vorväter das Lied gekannt hätte, mit dem sie der Sage nach die Meerjungfrauen auf die Felsen gelockt hatten, hätte er diese geheimnisvollen Wesen nach dem Geheimnis der Toten fragen können. So war er auf sein eigenes Empfinden zurückgeworfen. Doch so sehr er sich auch anstrengte, er hörte nichts. Nicht so wie damals bei Mary, als die Felsen, gegen die das Meer ihren leblosen Körper geschleudert hatte, ihm von ihrem Tod erzählt hatten, von dem Wasser, das in ihre Lungen gedrungen und sie erstickt hatte. Und von ihrem Lächeln und dem Frieden, den sie endlich gefunden hatte. Er selbst hatte sie an diesen Felsen aus dem Wasser gezogen, und das Lächeln, von dem sie erzählt hatten, hatte noch immer ihr Gesicht verziert. Für einen Moment spürte er wieder den kalten, nassen Körper in seinen Armen, als er ihr die dunklen Haare aus dem Gesicht strich. Wasserleichen waren nicht schön. Doch Mary war schön gewesen, schön wie eine Meerjungfrau, die im Schlaf vom Tod überrascht worden war. Inmitten eines seligen Traums.
Die Erinnerung trieb ihm nach all den Jahrzehnten immer noch die Tränen in die Augen. Er wischte sie weg, während sein Blick zum Südende der Bucht wanderte. Dort lag seine Schwester auf dem Friedhof von Oldshoremore mit Blick auf das Meer, das sie so geliebt hatte, und in vermutlich nicht zu ferner Zukunft würde auch er dort liegen zusammen mit Fionna. Gemeinsam würden sie nachts den Gesängen der Nixen lauschen.
Der Gedanke ließ ihn erneut schlucken. Ein frischer Wind strich über die Felsen, und er war froh, die Wetterjacke übergezogen zu haben. Langsam strich er mit seinen Fingern über die schimmernden Steine, doch so sehr er sich auch bemühte, sie gaben ihm nichts preis, nichts über die Tote, die hier angeschwemmt worden war. Vielleicht, weil sie nicht sein Fleisch und Blut war. Aber er hatte mit ihr Kontakt gehabt, und er trug ihren Ring in seiner Tasche. Er zog ihn heraus und betrachtete das goldene Band im Licht der Morgensonne. Julian war mit feinen Buchstaben eingraviert, aber kein Datum, wie es bei Eheringen normalerweise üblich war. Vielleicht waren die beiden nicht verheiratet gewesen? Peters Finger schlossen sich fester um das Schmuckstück, und er wog es in seiner Hand. Er war für einen Moment versucht, es in hohem Bogen ins Meer zu schleudern, doch dann hörte er in der Ferne Stimmen. Er wandte den Kopf in die Richtung, aus der sie kamen. Zwei Kinder stoben den Strand entlang, gefolgt von einem Hund und zwei Erwachsenen. Der Bann brach. Mühsam kam er aus der Hocke hoch, streckte seinen Rücken und ließ den Ring zurück in seine Hosentasche gleiten.
Er hätte nicht kommen sollen. Nicht der Erinnerung an Mary folgen, die ihn letztlich hinausgetrieben hatte. Er konnte hier nichts ausrichten. Hier mussten andere aktiv werden.
Auf dem Weg zurück zum Strand dachte er an den jungen Detective Sergeant, der ihn vor ein paar Tagen befragt hatte. Er hatte ihn nicht wiedererkannt. Erst als er seinen Namen genannt hatte, hatte er begriffen, dass er den Sohn von Frank Gills vor sich hatte. Der Junge hatte ihm seine Karte gegeben mit der Bitte, anzurufen, wenn ihm noch etwas einfallen würde zu dem Verschwinden der deutschen Frau. Höflich und zurückhaltend war er gewesen, das Gegenteil von seinem Vater. Peter hatte seiner Aussage eigentlich nichts hinzuzufügen. Aber wenn der junge Gills in nächster Zeit noch einmal nach Kinlochbervie kommen sollte, würde er sich vielleicht trotzdem mit ihm unterhalten.
Als Peter am Strand angelangt war, blieb er stehen und kniff die Augen zusammen, um die Familie zu beobachten, deren Aufmerksamkeit jetzt von etwas gefangen war, das in Ufernähe trieb. Die Kinder hangelten mit einem Stock danach, während der Hund bellend um sie herumsprang. Neugierig fragte sich Peter, was sie wohl gefunden haben mochten, doch als eine Windbö erneut ihre aufgeregten Stimmen zu ihm herübertrug, wandte er sich ab. Sie waren Touristen. Keiner der Einheimischen würde heute an diesem Strand spazieren gehen und die Ruhe der Toten stören.