Julian Tahns Gesicht war aschfahl. »Ich habe meine Frau nicht getötet«, wiederholte er kaum hörbar.

»Was ist dann geschehen?«, fragte Samantha Merryweather. »Was ist da draußen in der Sandwood Bay vorgefallen, Mr. Tahn?«

Er fuhr sich mit der Hand über das Gesicht und durch die Haare, dann ließ er beide Hände kraftlos in seinen Schoß fallen und starrte ins Leere. »Laura …«

Die Anwältin hielt gespannt den Atem an.

»Was wollen Sie mir sagen?«, brach es plötzlich aus ihm heraus. Sein anfängliches Flüstern wurde zu einem hysterischen Geschrei: »Dass sie tot ist? Ist es das?«

Sie hob beschwichtigend die Hand. »Mr. Tahn, ich habe Ihnen lediglich mitgeteilt, dass eine Frauenleiche an einem Strand südlich der Sandwood Bay angetrieben wurde. Ihre Identität konnte bislang nicht festgestellt werden.«

Die Muskeln in seinem Gesicht zuckten. »Aber Sie fragen mich, was in der Bay geschehen ist! Ich habe nichts mit dieser toten Frau zu tun. Hören Sie auf! Verdammt, ich halte das nicht aus! Bevor Sie mich beschuldigen, machen Sie gefälligst Ihre Arbeit und finden heraus, wer die Tote ist. Laura ist es auf keinen Fall!« Er hielt inne, starrte sie an. Sein Körper zitterte vor Erregung. »Was sollen all diese Beschuldigungen und Fragen? Was wollen Sie damit erreichen?«

»Ich frage Sie, weil Detective Sergeant Gills in weniger als einer Stunde hier sein wird, um Sie zu vernehmen. Wir sollten uns bis dahin eine Taktik überlegt haben.«

»Eine Taktik«, echote er. »Warum?«

Samantha wappnete sich. »Detective Sergeant Gills hat bedenkliche Informationen von den deutschen Behörden erhalten.«

Julian Tahns Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen, und etwas in seiner ganzen Haltung und dem Schritt, den er auf sie zumachte, ließ sie instinktiv nach dem Türgriff tasten. Sie fragte sich, ob der Beamte draußen auf dem Flur des Krankenhauses hören würde, wenn sie nach ihm rief. Julian hielt abrupt inne, als er ihre Reaktion sah, trat einen Schritt zurück und löste seine Fäuste.

»Mache ich Ihnen Angst, Miss Merryweather?«

»Vielleicht«, gab sie zu, »aber das ist nicht unser Thema.« Sie atmete tief durch. »Warum haben Sie mir nicht erzählt, dass Sie schon einmal verheiratet waren?«

»Ich hielt es nicht für relevant.«

Seine Arroganz ärgerte sie, doch sie zwang sich zur Ruhe. Sich an seinem Gebaren zu stören, war unprofessionell. Julian Tahn verhielt sich wie ein in die Ecke getriebenes Tier. Aus seiner Haltung sprach nichts als Unsicherheit und der verzweifelte Wunsch nach Schutz.

»Sie hielten es nicht für relevant, mich zu informieren, dass Ihre erste Frau durch einen Unfall zu Tode kam und dass Sie dafür zur Verantwortung gezogen wurden?«, fragte sie daher nur.

»Ich wurde freigesprochen!«

»Ein Freispruch aus Mangel an Beweisen, Mr. Tahn, nicht aus erwiesener Unschuld.«

Wieder ballten sich seine Fäuste. »Was tut das zur Sache? Das geht Sie nichts an!« Keuchend wandte er sich ab, setzte sich auf die Kante seines Bettes, blickte durch das geöffnete Fenster und rang um seine Fassung.

Samantha betrachtete seinen Rücken. Die angespannten Schultern. Das Krankenzimmer lag im vierten Stock, ein großer, heller Raum mit Aussicht auf die alten Bäume des Parks. Das Rauschen der Blätter und das Singen der Vögel schufen eine ruhige, positive Atmosphäre, die ohne Zweifel angenehmer war als die im Zellentrakt des Untersuchungsgefängnisses, in das ihr Mandant über kurz oder lang zurückkehren würde, wenn er weiterhin nicht kooperierte.

»Mr. Tahn, ich bin Ihnen als Pflichtverteidigerin zugewiesen worden. Wenn Sie nicht wünschen, dass ich Sie vertrete, müssen Sie einen entsprechenden Antrag bei Gericht stellen, aber ich kann Ihnen nicht garantieren, dass dann ein Kollege von mir berufen wird. Der Richter kann auch entscheiden, dass ich weiter für Sie bestellt bleibe.«

Er rührte sich nicht, und sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. Sie gab ihm noch fünf Minuten, dann würde sie gehen und diesen Fall und den Kontakt zu ihm auf das Notwendigste beschränken, auch wenn das nicht ihrem Arbeitsethos entsprach.

Sie hatte die Situation mit Andrew besprochen, obwohl sie es normalerweise vermieden, über die Arbeit zu reden. Er hatte ihr berichtet, dass er vor seinem Wechsel in die Staatsanwaltschaft, als er noch als Pflichtverteidiger gearbeitet hatte, eben einen solchen Fall gehabt hatte. »Da kannst du nichts machen. Du kannst dich nur immer wieder gesprächsbereit zeigen und das auch in deinen Protokollen dokumentieren, so dass dir niemand den Vorwurf machen kann, du hättest dich des Falls nicht angenommen. Wenn dein Mandant beharrlich schweigt, dann ist das sein gutes Recht, auch wenn es zu seinem Schaden ist.«

Sie blickte noch immer auf Julian Tahns angespannten Rücken. Bislang hatte er alles ausgesessen, und im schlimmsten Fall würde er das die nächsten zwanzig Jahre tun.

»Laura ist nicht tot«, riss seine Stimme sie so unerwartet aus ihren Gedanken, dass sie zusammenzuckte. »Wer immer die Tote ist, die angetrieben wurde, es ist nicht Laura.« Langsam drehte er sich zu ihr um.

Samantha Merryweather schluckte, als sie das Leid sah, das in seinem Blick lag. »Was war der Grund für Ihren Ehestreit? Warum wollten Sie sich von Laura trennen?«

Er antwortete nicht gleich, und sie fürchtete schon, dass er sich erneut in sein Schneckenhaus zurückzog.

»Sie hat in meiner Vergangenheit herumgekramt, hat das Unterste zuoberst gekehrt«, entgegnete er tonlos.

»Sie wusste nichts von Ihrer ersten Ehe und dem Tod Ihrer Ehefrau Monique?«, stellte sie erstaunt fest.

Er schüttelte den Kopf.

Sie musterte ihn ungläubig. Konnte das sein? Konnten Menschen zusammenleben und ihre Vergangenheit zu einem solchen Geheimnis machen?

»Warum haben Sie nie mit ihr darüber gesprochen?«

Er rang mit sich. »Es war die schlimmste Zeit meines Lebens«, bekannte er schließlich. »Ich wollte nie wieder daran erinnert werden. Ich wollte einfach nur alles vergessen.«

»Und Laura hat die schmerzhafte Vergangenheit wieder hervorgeholt.«

Er nickte und schlang die Arme um den Körper wie ein verängstigtes Kind. Sein Zorn, seine Ablehnung war verschwunden, was blieb, war nur Mutlosigkeit, Müdigkeit, und seine nächsten Worte bestätigten diesen Eindruck. »Ich hatte nicht die Kraft, mich noch einmal damit auseinanderzusetzen«, gestand er.

Nicht die Kraft, sich noch einmal damit auseinanderzusetzen. Was hatte er stattdessen getan?

»Erzählen Sie mir von Laura. Was ist sie für ein Mensch?« Sie musste ihn dazu bringen, weiterzusprechen.

Ein flüchtiges Lächeln streifte sein Gesicht. Seine Finger berührten den schmalen Ring an seiner rechten Hand. »Sie ist spontan, positiv und offen«, sagte er dann. »Vieles im Leben ist für Laura nur ein Spaß.«

Samantha Merryweather dachte an Lauras Bild, an den nach innen gekehrten Blick. Julians Beschreibung passte nicht wirklich dazu. »Wenn man das ganze Leben als Spaß begreift, ist Ehrgeiz eher ein Kontrapunkt, meinen Sie nicht? Bei allem, was ich bisher über Ihre Frau in der Akte gelesen habe, über ihre Arbeit und ihren Erfolg, hatte ich das Gefühl, dass sie ein ehrgeiziger und nachdenklicher Mensch ist«, äußerte sie ihre Zweifel geradeheraus.

Wachsamkeit kehrte in Julians Blick zurück. Und Vorsicht.

»Warum versuchen Sie mir ein Bild von Laura zu vermitteln, das nicht der Wirklichkeit entspricht?«, fügte sie hinzu.

»Ich gebe Ihnen das Bild, das Laura der Welt von sich zeigt.«

»Das ist aber nicht die Frau, die uns hier interessiert.«

»Worauf wollen Sie hinaus?«

»Ich will auf gar nichts hinaus. Ich stelle nur Fragen. So wie Detective Sergeant Gills es gleich tun wird.«

Er saß noch immer auf der Kante seines Bettes. Einer spontanen Eingebung folgend, setzte sie sich neben ihn. »Julian, bitte! Das ist Ihre letzte Chance.«

Er straffte seine Schultern. Sie spürte sein Zögern, seinen Widerwillen. Er schwieg nicht aus Trotz, sondern aus Angst. Aber wovor hatte er Angst? War es seine Vergangenheit, die ihn verfolgte?

»Was soll ich Ihrer Meinung nach tun?«, fragte er sichtlich angestrengt.

»Beantworten Sie wahrheitsgetreu Gills’ Fragen zu Ihrer Vergangenheit, so wie Sie es bei mir auch getan haben«, antwortete Samantha Merryweather, ohne sich ihre Erleichterung anmerken zu lassen. Noch wusste sie nicht, ob er ihr wirklich zuhören würde.

Sie blätterte in der Akte, die sie inzwischen aus ihrer Tasche gezogen hatte. »Gills wird Sie vermutlich auch noch einmal zu dem roten SUV befragen und zu dem Mann, der das Fahrzeug in Inverness gemietet hat. Tom Noviak.«

Bei der Nennung des Namens zuckte er zusammen, dennoch wagte sie einen weiteren Vorstoß. »Wer ist dieser Mann?«

Julian senkte den Blick. »Er ist der Bruder meiner verstorbenen Frau.«

»Oh«, entwich es Samantha. »Das ist …«

»… eine Überraschung?«, beendete er ihren Satz spöttisch.

Samantha ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. »Das ist zumindest unerwartet«, gestand sie. Sie erinnerte sich nicht, dass der Name Noviak als Mädchenname von Julian Tahns verstorbener Frau in der knappen Mitteilung der deutschen Behörden erwähnt worden war, die Gills ihr gezeigt hatte. »Es bedeutet, dass Tom Noviak nicht zufällig dort war.«

»Nein. Das war er nicht.«