Peter Dunn starrte auf das Wasser im Hafenbecken. Es schwammen noch immer tote Fische darin von dem Unglück am Vormittag. Die Möwen hatten sich satt gefressen. Träge saßen sie auf den Dächern der Lagerschuppen und wärmten ihr Gefieder in den letzten Strahlen der Abendsonne. Das Fangschiff hatte längst wieder abgelegt, und die Arbeiter waren nach Hause gegangen. Alle bis auf Angus, den seine Frau auf Anweisung des Arztes trotz seiner Proteste nach Inverness ins Krankenhaus gefahren hatte. Auch der deutsche Tourist war nach Inverness gebracht worden. Von der Polizei. Das zumindest hatte Emma erzählt, als sie sich am Nachmittag begegnet waren. Peter schüttelte ungläubig den Kopf. Was für ein Tag!
Er berührte seine Arme, die ihm unter der Wolle seines Pullovers noch immer wie die eines anderen erschienen, wie um sich zu vergewissern, dass sie heil waren, und dann kniff er sich in den Unterarm und genoss erleichtert den Schmerz, den er dabei spürte. Er war nicht unter einer halben Tonne Fisch begraben. Nein, er lebte! Aber nur, weil Angus ihn gewarnt hatte. Den ganzen Tag über hatte er immer wieder die Stimme seines Freundes gehört, seinen entsetzten Ruf, gefolgt von einem Schmerzensschrei, und dann nichts mehr. Verdammt, er hatte im ersten Moment geglaubt, Angus sei tot. Er schauderte und war so in Gedanken versunken, dass er nicht hörte, wie sich ihm jemand näherte, bis eine Stimme neben ihm erklang, mit der er überhaupt nicht gerechnet hatte.
»Peter?«
Überrascht fuhr er herum.
»Fionna!«
Sie lächelte verlegen, und er erinnerte sich, dass sie damals, als er sie zum ersten Mal gesehen hatte auf jenem Fest in Durness, genauso gelächelt hatte. Fast vierzig Jahre waren seither vergangen, aber hier stand sie nun, und allein ihre Anwesenheit ließ die Zeit zusammenschrumpfen, sich auflösen, und ihn für den Moment vergessen, dass er nicht mehr zwanzig, sondern fast sechzig war, ein Trunkenbold, der in einem Bootsschuppen hauste, weil diese Frau, die er doch seit fast vierzig Jahren liebte, ihn vor die Tür gesetzt hatte. Und ohne dass er etwas dagegen tun konnte, traten ihm Tränen in die Augen.
»Fionna«, wiederholte er mit rauher Stimme und streckte eine Hand nach ihr aus.
Sie trat einen Schritt näher. Sie war nie eine Schönheit gewesen, immer ein bisschen zu breit um die Hüften, schon als junges Mädchen, und das Gesicht zu derb, aber er hatte ihr seidiges Haar geliebt und ihre sanfte Stimme und ihr verlegenes Lächeln. Für ihn war sie die begehrenswerteste Frau von ganz Nord-Sutherland.
Sie nahm seine Hand, und gleich darauf spürte er ihre Finger, wie sie sanft über die Schwielen in seinem Handteller strichen. Wortlos machte er Platz auf der schmalen Bank, und Fionna setzte sich neben ihn. Lange Zeit sagten sie beide nichts. Doch schließlich zog sie ein Taschentuch aus ihrer Handtasche, ohne die sie niemals das Haus verließ, und schneuzte sich die Nase. »Ich bin gerade aus Durness zurückgekommen und hab gehört, was passiert ist.«
»Mir geht es gut«, entgegnete Peter und blickte verlegen auf seine Füße, die noch immer in den alten, ausgetretenen Sicherheitsschuhen steckten.
Aus dem Augenwinkel bemerkte er, wie sie das Taschentuch in ihren Fingern knetete, ein deutliches Zeichen ihrer Nervosität. Sie hatte ihren besten Rock an.
»Ich hab gestern Haggis gemacht«, brach es schließlich aus ihr heraus. »War natürlich zu viel für mich allein.«
»Hm«, erwiderte er nur und versuchte seine Überraschung zu verbergen.
Erneutes Schweigen. Nur das Gluckern des Wassers an der Pierkante war zu hören. Ihr Blick wanderte zu seinem Bootsschuppen hinüber. »Im Radio haben sie gesagt, dass es wieder kalt wird heute Nacht.«
Peter schluckte. Das verwitterte Holz des Schuppens schimmerte grau in der Sonne. Durch die Ritzen konnte er Tauwerk sehen, dahinter stand das alte metallene Bettgestell, das er von Angus bekommen hatte und das so fürchterlich quietschte, wenn er sich darauf umdrehte, dass er jede Nacht davon aufwachte. Und das erste Mal seit Tagen dachte er wieder an den Ring in seiner Hosentasche. Die Polizei hatte den Deutschen verhaftet. Er hatte gleich geahnt, dass diese seltsame Frau nicht zurückkommen würde. Und heute Morgen, als er den Mann auf dem Pier gesehen hatte …
Nein, nicht wieder diese Gedanken.
Fionna war gekommen. Hierher zu ihm in den Hafen, und nun hörte er, wie sie neben ihm kurz und schnell atmete, wie immer, wenn sie aufgeregt war und auf etwas wartete. Verflucht, sie hatte Haggis gemacht. Würde der Ring reichen, um ihr den Mantel zu kaufen? Und brauchte sie nicht auch noch einen Schal und ein Paar Handschuhe?
Sein Rücken schmerzte, als er aufstand und Fionna die Hand reichte. Drei Schiffe zu entladen war harte Arbeit für einen alten Mann, selbst wenn er nur einer von vielen Arbeitern war. »Komm«, sagte er. »Ich glaube, ich habe Hunger.«