John Gills stand in der Tür des Lagezentrums und versuchte, sich einen ersten Überblick zu verschaffen. Einer der Drahtzieher des Anschlags auf den Regionalzug zwischen Inverness und Tain war am Morgen kurz vor Gills’ Rückkehr nach einer spektakulären Verfolgungsjagd durch den halben Distrikt von einer Sondereinheit auf einem verlassenen Industriegelände am Stadtrand von Inverness gestellt und verhaftet worden. Jetzt lief die Suche nach den Mittätern, von denen zuvor nichts bekannt gewesen war, auf Hochtouren. Die meisten der anwesenden Mitarbeiter der SOKO »Train« arbeiteten fieberhaft an ihren Terminals, auf einem zentralen Tisch waren Karten ausgebreitet, und die Wände waren bedeckt mit Skizzen und Lageplänen. Die Stirnseite des Raumes nahm ein modernes Whiteboard ein, das Fotos und Diagramme zeigte. In der Luft hing der Geruch nach verbranntem Kaffee und belegten Brötchen. Als Gills genauer hinsah, entdeckte er auf einem Tisch in einer Ecke unter der Fensterfront eine große Kaffeemaschine mit einer leeren Kanne und einige Tabletts mit Essensresten eines vermutlich hastig während einer Besprechung verzehrten Lunches.
»John«, begrüßte ihn Greg Campbell, der gerade aus seinem Büro auf der gegenüberliegenden Seite des Flurs trat. »Wie ich höre, hat DCI Brown deinen Fall als abgeschlossen erklärt und deinen Hauptverdächtigen nach Hause geschickt.«
Gills lächelte gequält.
»Nimm es nicht so tragisch«, tröstete Campbell ihn und klopfte ihm jovial auf die Schulter. »Wir haben das alle schon einmal erlebt. Aber wir werden Brown nicht mehr lange als Vorgesetzten haben.« Er grinste, und seine Glatze schimmerte im Neonlicht. »Ich bin mir sicher, er stirbt demnächst an Fettsucht.«
Gills war noch immer zu gereizt, um auf Campbells Späße einzugehen. »Sag mir einfach, wer mich einweist, damit ich mit der Arbeit beginnen kann«, bat er kurz angebunden.
Er wollte nicht mehr an seine Niederlage erinnert werden, und er wollte auch nicht mehr über Julian und Laura Tahn nachdenken. Ärger überkam ihn, wenn er daran dachte, dass wegen kurzsichtiger, opportunistischer Entscheidungen ein Mann, der seine Frau getötet hatte, straffrei davonkommen würde. Aber dann rief er sich selbst zur Räson. Solange er dem Chief Inspector keine Leiche präsentieren konnte, hatte dieser das Recht, den Fall einzustellen.
Es fiel ihm schwer, sich auf die Listen möglicher Verdächtiger zu konzentrieren, die er abzuarbeiten hatte. Immer wieder ertappte er sich dabei, dass seine Gedanken abschweiften, zurück nach Kinlochbervie. Und er fragte sich, wo zum Teufel Laura Tahn stecken mochte? Wo ihr Mann sie vergraben hatte, wenn er sie nicht doch einfach ins Meer gestoßen hatte in einem seiner Wutanfälle. Gills fasste sich unwillkürlich an den Hals, wo die Blutergüsse, die er von Julian Tahns tätlichem Angriff vor drei Tagen zurückbehalten hatte, noch immer empfindlich schmerzten. Waren seither tatsächlich erst drei Tage vergangen? In diesem Moment klingelte sein privates Handy. Auf dem Display erkannte er Mackays Nummer.
»Latha Math, Ian«, begrüßte er ihn. »Was gibt es?«
»Hòigh, John«, erwiderte Mackay, und Gills erkannte am Klang seiner Stimme, wie sehr er sich über die gälische Begrüßung freute. »Ein alter Bekannter von dir ist nach Kinlochbervie zurückgekehrt.«
»Ein alter Bekannter?«, wiederholte Gills begriffsstutzig. »Du meinst nicht Julian Tahn, oder?«
»Doch, genau den. Er hat sich wieder im Hotel eingemietet. Emma war ganz außer sich vor Freude.«
Gills ließ den Kugelschreiber, den er in der Hand hielt, auf seine Schreibtischplatte aufprallen. »Er holt sicher nur seine Sachen ab. Hatte er nicht den Rucksack seiner Frau dort gelassen?«, überlegte er laut, um sich selbst zu beruhigen.
»Wenn er nur seine Sachen abholen würde, hätte ich dich nicht angerufen.«
Gills starrte ins Leere.
»Warum?«, fragte er schließlich.
»Laut Emma will er auf die Rückkehr seiner Frau warten.«
»Er will – was?«, entfuhr es Gills, während er gleichzeitig aus seinem Bürostuhl emporschnellte.
»Im Gegensatz zu dir scheint er fest davon überzeugt zu sein, dass seine Frau noch am Leben ist«, bemerkte Mackay trocken.
»Hast du mit ihm gesprochen, oder hast du nur Informationen aus zweiter Hand?«, fragte Gills gereizt.
Er merkte plötzlich, dass sein Verhalten die Aufmerksamkeit der anderen auf sich zog, und verließ mit einer entschuldigenden Geste eilig den Raum.
»Ich habe heute Mittag kurz mit dem Deutschen gesprochen. Er hatte Streit mit Peter.«
»Mit Peter Dunn? Warum?«
»Peter hatte angeblich den Ehering seiner Frau.«
»Himmel«, stöhnte Gills und lehnte sich gegen die Wand im Flur. »Und nun?«
»Der Ring ist während des Streits ins Hafenbecken gefallen, daher habe ich erst einmal nichts unternommen. Es gibt schließlich kein Beweismittel.«
»Da lässt sich auch nichts machen«, stimmte Gills ihm zu.
Mackay räusperte sich. »Hat der Deutsche irgendwelche Auflagen bekommen?«
»Nein, er darf sich frei bewegen. Sogar das Land verlassen.«
»Willst du noch mal rauskommen zu uns?«
»Warum?«
»Ich weiß nicht, John«, gestand Mackay, »die Angelegenheit gefällt mir nicht. Die stinkt zum Himmel.«
Ja. Das war auch Gills’ Empfinden. Aber er konnte nichts tun. »Mir sind die Hände gebunden, Ian. Der DCI hat den Fall für abgeschlossen erklärt und mich in die SOKO ›Train‹ abkommandiert. Ich kann jetzt aus Inverness nicht weg.«
»Okay, versteh ich«, sagte Mackay. »Ich behalte den Deutschen im Auge.«
»Das ist vermutlich das Beste. Hältst du mich auf dem Laufenden?«
»Werde ich. Halt die Ohren steif, Kleiner.«
Frustriert ließ Gills das Telefon sinken. Julian Tahn war nach Kinlochbervie zurückgekehrt. Das war das Letzte, was er erwartet hätte. Er war davon ausgegangen, dass der Deutsche den nächstbesten Flug nach München nehmen würde.
Laut Emma will er auf die Rückkehr seiner Frau warten.
Als ob Laura Tahn noch lebte! Was ging im Kopf dieses Mannes vor sich? In welcher Parallelwelt lebte er?
Gills kämpfte gegen seine Verzweiflung an. Was würde er darum geben, jetzt vor Ort sein zu können. Julian Tahn ins Gesicht sehen zu können. Mit Peter Dunn zu sprechen. Warum hatte der Deutsche ihn aufgesucht?
So viele offene Fragen.
Er ballte seine Faust und hieb damit gegen die Wand. »Verdammt!«, fluchte er. »Verdammt! Verdammt! Verdammt!«
Dann richtete er sich auf und ging schweren Herzens zurück in das Lagezentrum.
Greg Campbell sah von dem Monitor auf, hinter dem er stand, als Gills den Raum betrat. »Wie weit bist du mit deiner Auswertung?«, fragte er.
»Fast fertig«, log Gills.
Campbell kam zu ihm herüber. Der Detective Inspector war gut zehn Jahre älter als er, in seinen frühen Vierzigern, und in ausgesprochen guter physischer Verfassung. Bei Campbell spannte kein einziger Hemdknopf. Gills hatte gehört, er sei Veganer, aber sie waren nicht so vertraut miteinander, dass er gewagt hätte, ihn danach zu fragen. Jetzt lehnte sich Campbell auf seinen Schreibtisch und scrollte die Liste durch, an der Gills seit mehr als zwei Stunden saß. Mit gerunzelter Stirn richtete er sich schließlich wieder auf.
»Du weißt schon, dass das ziemlicher Mist ist, was du hier machst«, bemerkte er.
Gills schluckte.
»Ich habe dich beobachtet, John. Die meiste Zeit hast du hier gesessen und Löcher in die Luft gestarrt.« Campbell sagte es so leise, dass die anderen es nicht hören konnten, und dafür war Gills ihm mehr als dankbar.
»Greg, es tut mir leid, aber der Sandwood-Bay-Fall will mir nicht aus dem Kopf.«
»Ich brauche hier jeden Einzelnen mit voller Aufmerksamkeit, John. Wenn wir diesen Anschlag nicht innerhalb der nächsten vierundzwanzig Stunden aufgeklärt haben, reißt mir der DCI den Arsch auf.«
Gills nickte angespannt.
»Hör zu, du bist ein guter Polizist«, fuhr Campbell fort. »Ich weiß, was du erreichen kannst, wenn du dich in eine Ermittlung reinhängst. Du konzentrierst dich jetzt auf diesen Job und schlägst dir alles andere aus dem Kopf. Und dann verspreche ich dir, dass du meine volle Unterstützung bekommst, um danach noch einmal diesen Mord ohne Leiche zu untersuchen.« Er sah Gills gewinnend an. »Vierundzwanzig Stunden, John. Sind wir im Geschäft?«
Gills atmete tief durch.
»Sind wir«, versprach er.
Er beobachtete Campbell, wie er durch die Reihen ging und bei jedem Mitglied seines Teams kurz stehen blieb, ein paar Worte wechselte oder aufmunternd eine Hand auf die Schulter legte. Auch wenn er bisweilen für die Gefälligkeiten, die er erwies, unnachgiebig eine Gegenleistung forderte, so waren die meisten doch sofort bereit, diesen Dienst auch zu leisten.
Entschlossen machte sich auch Gills an die Arbeit und vertrieb jeden Gedanken an das, was in den nächsten vierundzwanzig Stunden in Kinlochbervie geschehen könnte, aus seinem Gedächtnis. Er musste auf Ian Mackays Gespür vertrauen und darauf, dass sein ehemaliger Vorgesetzter Wort hielt und ihn informierte, wenn tatsächlich etwas geschah. Er brauchte jetzt seine gesamte Konzentration, um seinen Teil dazu beizutragen, dass Mortimer Brown am nächsten Tag zur Pressekonferenz die Ergebnisse vorlegen konnte, die vonnöten waren, den Chief Inspector vor allen glänzen zu lassen.