Blut.

John Gills starrte auf die vier Buchstaben in dem Untersuchungsbericht des Labors. Die Kriminaltechniker hatten Blut gefunden im Inneren des Zeltes von Laura und Julian Tahn. Blut, das auf dilettantische Weise mit Meerwasser beseitigt worden war. Gills lehnte sich auf seinem Schreibtischstuhl zurück und starrte aus dem Fenster seines Büros auf den Parkplatz vor dem Gebäude, ohne wirklich etwas zu sehen. Julian Tahn hatte ihm nicht die Wahrheit gesagt. Was auch immer in der Sandwood Bay geschehen war, war weitaus folgenschwerer, als dieser ihn glauben lassen wollte, und es überraschte Gills nicht.

Er nahm den Untersuchungsbericht von seinem Schreibtisch, um den Chief Inspector aufzusuchen, doch bevor er sein Büro verließ, überprüfte er in dem kleinen Spiegel in seinem Schrank den Sitz seiner Krawatte. Er wusste, dass er damit eine Manie befriedigte, denn der Doppelknoten, mit dem er seine Krawatten genau aus diesem Grund band, saß stets korrekt. Trotzdem konnte er nicht davon lassen.

Mortimer Brown telefonierte, als Gills an die offenstehende Tür klopfte, winkte ihn aber dennoch herein und wies ihn mit einer Geste an, sich zu setzen. Ungeduldig trommelte Gills mit den Fingern auf die Lehne seines Stuhls, was weniger ihm als Brown auffiel und einen scharfen Blick über den Rand seiner Brille hinweg provozierte. »Gibt es Probleme, Gills?«, fragte der Chief Inspector, während er den Hörer auflegte. Er saß mit dem Rücken zu der großen Fensterfront, die eine ganze Bürowand einnahm. Die Jalousien waren halb heruntergelassen und warfen gebrochene Schatten über das weiße Hemd seines Chefs und den feisten Nacken, der sich aus dem Kragen herauswölbte.

Gills richtete sich auf seinem Stuhl auf und reichte Brown den Untersuchungsbericht. »In der Tat, Sir. Es geht um die vermisste deutsche Touristin oben in Sutherland in den Nordwest Highlands.«

Das runde Gesicht seines Vorgesetzten verzog sich bedenklich beim Überfliegen des Berichts. Genervt ließ er die Akte schließlich sinken. »Das sind Komplikationen, wie wir sie gerade jetzt nicht brauchen können.«

»Das habe ich mir gedacht, Sir.«

Die gesamte Abteilung war in Aufruhr, wie Gills am Vortag bei seiner Rückkehr nach Inverness feststellen musste. Kurz vor seiner Ankunft hatte ein Anschlag auf die Zugstrecke nach Tain zum Entgleisen eines Regionalzugs geführt. Es gab Verletzte, zwei davon schwer, die Schäden am Material gingen in die Hunderttausende, und die Suche nach den Tätern lief auf Hochtouren. Verdammte schottische Separatisten, hatte einer seiner Kollegen geschimpft, der aus dem Süden hierherversetzt worden war, und obwohl Gills nicht mit dem Teil seiner Landsleute sympathisierte, die für die Unabhängigkeit Schottlands warben, hatte er sich ihnen in diesem Moment mehr als verbunden gefühlt. Zumal bislang nicht nachgewiesen war, ob der Anschlag auf eine Gruppierung, welcher Gesinnung auch immer, oder einen Einzeltäter zurückzuführen war.

»Wie wollen Sie weiter vorgehen, Gills?«

»Deswegen komme ich zu Ihnen, Sir.« Gills räusperte sich umständlich. »Ich möchte den Ehemann vorläufig festnehmen lassen.«

Der Chief Inspector schwieg eine ganze Weile. Dann tippte er mit einem seiner dicken Finger auf den Untersuchungsbericht. »Sie haben die beschlagnahmten Gegenstände gestern am späten Nachmittag bei Ihrer Rückkehr ins Labor gebracht, ist das richtig?«

»Ja, Sir.«

»Wann können Sie mit einem Ergebnis der DNA-Analyse des im Zelt gefundenen Blutes rechnen?«

»Nicht vor übermorgen«, entgegnete Gills ausweichend. »Aber …«

»Gills, das ist hoffnungslos«, fiel ihm Brown ins Wort. »Sie wissen nicht einmal, ob ein Verbrechen stattgefunden hat.« Er wies auf den Bericht vor sich. »Oder habe ich etwas übersehen? Den Fundort der Leiche zum Beispiel?«

Gills senkte den Blick. Mortimer Brown war bekannt für seinen Sarkasmus. Und er hatte den Chief in einer denkbar schlechten Situation erwischt. Brown wollte keine Ablenkung, keine Komplikationen. Nicht jetzt, wo er diesen Anschlag aufklären musste.

»Ich möchte verhindern, dass der Mann das Land verlässt, bevor wir Genaueres wissen«, fuhr Gills dennoch fort. »Ob die deutschen Behörden später einer Auslieferung zustimmen, ist fraglich. Diese Erfahrung haben wir schon des Öfteren gemacht.«

Brown schüttelte den Kopf. »Vergessen Sie es. Wie wollen Sie das begründen?«

»Er hat für unsere Ermittlungen entscheidende Aspekte verschwiegen – unter anderem, dass er seiner Frau aufgrund ihrer häufigen Streitigkeiten mit Trennung gedroht hat und sie ihm daraufhin mit Selbstmord, und das alles zwei Tage vor ihrem Verschwinden.«

Brown strich sich nachdenklich über das fleischige Kinn, und Gills schöpfte bereits Hoffnung, doch er freute sich zu früh. »Tut mir leid, Gills. Ich sehe da keine Möglichkeit«, sagte der Chief Inspector schließlich und warf einen Blick auf die in Glas gefasste Uhr auf seinem Schreibtisch – ein Geschenk zu seinem fünfundzwanzigjährigen Dienstjubiläum. »Und jetzt müssen Sie mich entschuldigen. Ich habe in zwanzig Minuten eine Pressekonferenz zu leiten.«

»Bitte, Sir, geben Sie mir wenigstens achtundvierzig Stunden.«

Brown runzelte die Stirn. »Sie sind verdammt hartnäckig, Detective Sergeant.«

Gills schluckte. »Ich mache nur meinen Job.«

Der Chief Inspector lehnte sich mit einem Seufzen zurück. »Also gut, achtundvierzig Stunden. Aber wir werden die deutsche Botschaft informieren müssen, die dann vielleicht eigene Anwälte ins Spiel bringt, daher erwarte ich, dass Ihre Begründung für eine vorübergehende Festnahme des Ehemanns wasserdicht ist.« Ein scharfer Blick. »Kriegen Sie das hin? Ich will keine Beschwerde auf meinem Schreibtisch finden.«

Gills fiel ein Stein vom Herzen. »Natürlich, Sir. Ich danke Ihnen.«

»Freuen Sie sich nicht zu früh«, warnte der Chief Inspector. »Dieser verfluchte Anschlag auf die Bahnstrecke erfordert all unsere freien Kräfte. Ich habe niemanden, der Sie in dem Fall unterstützen kann. Sie können höchstens um Amtshilfe bei den Uniformierten vor Ort bitten, aber das ist erfahrungsgemäß nicht immer so einfach.«

»Die Kollegen dort haben mich bereits bei den Ermittlungen unterstützt«, gab Gills zu, »aber ich möchte das nicht überstrapazieren.«

»Sie sind doch in der Gegend aufgewachsen.«

»Ja, Sir.«

»Dann springen Sie über Ihren Schatten und nutzen Sie Ihre Beziehungen.« Er reichte ihm die Akte. »Aber seien Sie vorsichtig. Sie sind noch jung, Gills, lassen Sie sich von Ihrem Übermut nicht davontragen.«

Gills beeilte sich das Büro zu verlassen. Er hatte sich die Rückendeckung des Chief Inspectors erkämpft und achtundvierzig Stunden herausgeschlagen. In diesem Zeitraum musste er genügend Indizien für ein Verbrechen finden, von dem er noch nicht einmal wusste, ob es stattgefunden hatte.

 

Zurück an seinem eigenen Schreibtisch setzte er sich als Erstes mit seinem Freund Liam in Verbindung, der in der IT-Forensik seit Gills Rückkehr am Vortag damit beschäftigt war, Lauras Mobiltelefon auszuwerten.

»Ich muss dich enttäuschen, John. Bislang haben wir nichts Verwertbares. Die Frau besitzt zwar eine Vielzahl von meist weiblichen Kontakten, mit ihnen schreibt sie sich jedoch nur belangloses Zeug, vorzugsweise über WhatsApp.«

»Kein Wort über die Probleme zwischen ihr und ihrem Mann?«, hakte Gills nach. »Nichts von den heftigen Streitigkeiten, die sie seiner Aussage nach gehabt hatten?«

»Nein, tut mir leid.«

Wie es schien, gab es keine enge Freundin, mit der sie sich darüber austauschte. Wenn Julian Tahn ihm die Wahrheit gesagt hatte. Wofür es keine Beweise gab.

Gills wollte sich dennoch nicht geschlagen geben. »Wirklich gar nichts?«, hakte er erneut nach. »Nach Aussage ihres Mannes muss sie eine große Datenmenge hochgeladen haben in ihren Blog, auf ihre Facebook-Seite, zu Twitter. Ich habe das selbst im Netz überprüft. Ist euch dabei nicht vielleicht etwas durch die Finger geschlüpft?«

Liam räusperte sich. »Jetzt, wo du es sagst, sorry, John. Es gibt ein Verschlüsselungsprogramm auf ihrem Mobiltelefon. Darüber sind Daten gesendet worden.«

»Wohin?«

»Vielleicht in eine Cloud, aber ohne die Zugangs-PIN können wir das nicht verifizieren.«

»Die könnt ihr doch sicher herausfinden.«

»Diese Verschlüsselungsprogramme arbeiten nicht mit einer vierstelligen PIN, John. Die zu knacken erfordert mehr Rechenleistung, als wir hier haben.«

»Ich habe bei meinem Chief Inspector gerade erstritten, den Ehemann für achtundvierzig Stunden vorübergehend festnehmen zu dürfen.«

Liam schwieg so lange, dass Gills schon dachte, die Verbindung wäre unterbrochen. »Okay«, sagte er dann jedoch. »Weil du es bist.«

»Wann?«, wollte Gills nur wissen.

»Ich ruf dich an.«

Gills knirschte mit den Zähnen, wusste aber, dass er Liam keine Frist setzen durfte. Liam kannte Gills’ Zeitvorgaben, und er hatte ihn noch nie hängenlassen.