Die Gesichter von John Gills und Samantha Merryweather verloren sich, ihre Stimmen verklangen. Julian stand wieder im Eingangsbereich ihrer gemeinsamen Wohnung, ein Raum, der sich direkt in das drei Stufen tiefer gelegene Wohnzimmer öffnete. Wie lange hatte er sich dagegen gewehrt, diesen Moment noch einmal zu erleben? Wie viele Jahre hatte er gegen die Erinnerung gekämpft, mit der Schuld und dem Wissen, dass er getötet hatte, was er am meisten geliebt hatte, was ihm wertvoller gewesen war als das eigene Leben?

Monique lag auf der Couch, den Blick auf die Fenster gerichtet, in denen sich die puristische Einrichtung des Raums spiegelte. Er sah sich selbst in diesem Bild, einen sportlichen Mann mit kurzem dunklem Haar, einer Tasche unter dem Arm und Hoffnung in den Augen, die augenblicklich starb, als er ihren Gesichtsausdruck sah.

Sie hatte es getan!

Langsam, viel zu langsam richtete sie sich auf. Ihr sonst so geschmeidiger Körper und ihre langen, schlanken Glieder bewegten sich an diesem Abend schwerfällig und ohne Anmut. Die Freude, sie zu sehen, verlöschte wie Feuer, das in Wasser ertrank, was blieb, war lediglich dichter, beißender Rauch, der sich um sein Hirn und seine Gedanken legte und ihm den Atem nahm.

Sie hatte es getan!

Es brauchte keiner Worte zwischen ihnen, längst nicht mehr. Dennoch sprach er es aus, seine Stimme rauh und fremd: »Du hast es getan, Monique.« Tränen stiegen ihm in die Augen. »Warum?«

Ihre Hände fuhren in ihre störrischen dichten Locken, wie immer, wenn sie nach Worten suchte und verzweifelt war. »Ich habe dir gesagt, warum, wieder und wieder.« Der Klang ihrer warmen Stimme war noch tiefer als sonst. »Es ist vorbei, Julian. Es ist tot.«

Es.

Übelkeit stieg in ihm auf.

Sein Spiegelbild ließ die Tasche fallen, hob hilflos die Arme. »Du hast mir keine Chance gegeben«, hörte er sich selbst klagen. Oder war es ein anderer? »Monique, sag, dass es nicht wahr ist!«, flehte er sie plötzlich an.

Entschlossenheit überlagerte für einen Moment die Müdigkeit in ihren Augen. »Wir haben lange darüber geredet, Julian«, sagte sie tonlos.

»Wo ist es jetzt?«, flüsterte er.

»Julian, bitte!«, wehrte sie ab.

»Verdammt, Monique«, stieß er hervor. »Du hast unser Kind abgetrieben. Du hast es getötet. Um deiner Karriere willen. Das ist krank!«

»Hör auf!«, schrie sie und hielt sich die Ohren zu.

Hör auf, hallte es in seinem Kopf nach. Wie konnte sie es wagen?

»Sag mir nicht, wie ich mich verhalten soll!«, brach es aus ihm heraus, während sich sein Schmerz in jene unheilvolle Aggression verwandelte, die er nie gelernt hatte zu beherrschen. Er spürte sie kommen, wehrte sich dagegen, aber es war bereits zu spät.

Monique bemerkte die Veränderung in seiner Haltung, in seiner Stimme und wich unwillkürlich zurück. Angst flackerte in ihren Augen.

»Julian, bitte, es tut mir leid.«

Angst war ein gefährlicher Trigger.

Er stand noch immer auf den Stufen, überragte sie, so dass sie zu ihm aufblicken musste, und steigerte so die Überlegenheit, die er fühlte.

»Was tut dir leid?«, fragte er beunruhigend leise.

Tränen sprangen ihr in die Augen, während sie gleichzeitig nach einem Fluchtweg suchte. An ihm vorbei. Zur Tür. Hinaus. Bis er sich wieder beruhigt hatte. Das war ihre Taktik. Sie kannte die Anzeichen inzwischen so gut, dass sie nur noch selten Spuren davontrug. Aber an diesem Abend war sie nicht schnell genug, weder im Denken noch in ihren Bewegungen. Die Medikamente und der Eingriff lähmten sie.

Er hob seine Hand.

Sie duckte sich panisch. »Julian, bitte! Nicht!«

Mit Wucht stieß er gegen ihre Schultern. Sie taumelte zurück, verlor das Gleichgewicht und fiel. Ihr Mund öffnete sich zu einem entsetzten Schrei, der in dem Geräusch von berstendem Glas unterging, als sie mit dem Hinterkopf auf die Ecke des Couchtisches aufschlug.

Ihr Schrei erstickte, ihre Augen wurden groß, zersplittertes Glas tanzte über den dunklen Parkettboden und brach das Licht wie in tausend funkelnde Edelsteine.

»Monique!«

Ihre Blicke trafen sich, dann sackte ihr Kopf zur Seite. Julian zitterte am ganzen Körper, als er neben ihr kniete und ihr Gesicht in seine Hände nahm.

»Monique«, wiederholte er atemlos. »Hörst du mich?«

Alle Wut war verflogen.

Ihre Augen waren geschlossen, Blut lief aus ihrem Mundwinkel.

Sein Herz setzte für einen Moment aus, als er auch unter ihren Locken ein dünnes Rinnsal entdeckte, das langsam zu einer samtigen Pfütze gerann.

»Monique!« Seine Stimme brach.

Endlich schlug sie die Augen wieder auf. Ihre Lippen formten seinen Namen. »Julian …«

Ihr Puls schlug schnell und war kaum zu spüren.

»Ich kann mich nicht bewegen«, flüsterte sie kaum hörbar.

»Monique, ich bin bei dir.« Seine Finger rutschten über die Tasten des Telefons, das er aus seiner Jackentasche gezogen hatte. »Ich rufe einen Notarzt.«

»Ich kann dich kaum sehen …«

Eine schier unerträgliche Ewigkeit wartete er, bis der Krankenwagen kam, doch als es klingelte, waren keine acht Minuten vergangen. Das leuchtende Orange der Trage und die reflektierenden Jacken der Rettungssanitäter, ihre gezielten Handgriffe und die Fragen des Notarztes waren Erleichterung und Schock zugleich. Sie verkörperten Ordnung und Kompetenz, gleichzeitig machte ihre Gegenwart ihm jedoch auch das Ausmaß der Tragödie bewusst, und er konnte nur stammelnd erklären, was geschehen war. »Wir hatten Streit … sie ist gestürzt …«

In einem Taxi folgte er dem Rettungswagen in das nächstgelegene Krankenhaus. Die Notaufnahme war überfüllt, vermutlich wie an jedem Freitagabend in Hamburg, aber Monique wurde an den Wartenden vorbeigeschoben. Türen schlossen sich vor ihm, eine Krankenschwester nahm seinen Arm und bat ihn um Moniques Daten und ihre Versichertenkarte. Wie ferngesteuert folgte er ihr zur Anmeldung.

»Wann kann ich zu ihr?«

»Wir rufen Sie auf. Warten Sie hier«, antwortete die Krankenschwester in einem resoluten, aber auch mitfühlenden Tonfall. »Nehmen Sie sich einen Kaffee.«

Er wartete lange. Und es war der behandelnde Arzt, der schließlich zu ihm kam, ihn in ein kleines Besprechungszimmer führte, ihm ein Glas Wasser reichte und erklärte: »Ich weiß nicht, ob wir Ihre Frau retten können.«

»Wie bitte?«

»Ihre Frau hat eine schwere Fraktur an der Basis des Hinterkopfes. Nervenbahnen sind durchtrennt …«

Sie war nur rückwärts gestolpert. Das konnte nicht sein. Er betrachtete den Arzt: blond und segelgebräunt, jung, zu jung für diesen Job.

»Kann ich zu ihr?«

»Wir haben sie auf die Intensivstation verlegt. Sie ist nicht bei Bewusstsein.«

»Bitte!«, bat Julian. »Lassen Sie mich zu ihr!«

Der Arzt faltete akribisch den Bericht, den er vor sich liegen hatte, steckte ihn in einen Umschlag. »Ist es richtig, dass Ihre Frau heute eine Abtreibung hat vornehmen lassen?«

Julian nickte. »Ich habe es dem Notarzt gesagt, wegen …«

»Der Medikamente, ich weiß«, fiel ihm der Arzt ins Wort. Er reichte Julian den Umschlag. »Fünf Minuten«, willigte er schließlich ein. »Eine Schwester wird Sie begleiten.«

In der Schleuse zur Intensivstation musste er einen grünen Kittel, Überschuhe und eine Kappe für die Haare anziehen. Als er fertig war, reichte die Schwester ihm einen Mundschutz. »Bitte nehmen Sie Rücksicht«, ermahnte sie ihn leise. »Es liegen noch andere Patienten hier.«

Das Licht war gedimmt, das Summen und Piepsen der lebenserhaltenden Geräte erfüllte den langgestreckten Raum. Julian hielt den Blick gesenkt, bis sie zu dem hinter mobilen Trennwänden versteckten Bett gelangten, in dem Monique lag. Schläuche und Kabel schlossen ihren Körper an die Maschinen neben ihrem Bett an, Kanülen ragten aus ihren Handrücken, eine Beatmungsmaske lag über ihrem Gesicht.

»Monique«, flüsterte er, als er an ihr Bett trat und seine Hand auf ihren Arm legte.

»Sie befindet sich in einem künstlichen Koma«, erklärte die Schwester. »Sie kann Sie nicht hören.«

Sie kann spüren, dass ich hier bin, wollte Julian widersprechen, aber er schwieg. Zu diesem Zeitpunkt wusste er noch nicht, dass er nie erfahren würde, ob Monique seine Gegenwart tatsächlich gespürt hatte. Sie verstarb kurz vor Anbruch des nächsten Tages, ohne das Bewusstsein wiedererlangt zu haben. Nachdem er den Anruf aus dem Krankenhaus erhalten hatte, hatte er in der Dunkelheit des grauen Spätherbstmorgens in ihrer gemeinsamen Wohnung gesessen inmitten der Scherben und des Blutes und hatte sich immer wieder an den letzten Satz erinnert, den sie gesagt hatte. Ich kann dich kaum sehen.

Irgendwann war er ins Krankenhaus zurückgefahren.

In einem eigens dafür vorgesehenen Raum im Keller des Gebäudes war ihr Körper aufgebahrt, bis sie von einem Bestattungsunternehmen abgeholt werden würde. Zu seiner Überraschung stand ein Fremder an ihrer Bahre. Ein Mann mittleren Alters sah auf, als Julian hereintrat. Ein sauber gestutzter Bart bedeckte die untere Hälfte seines Gesichts, darüber begegneten ihm ungewöhnlich sanfte Augen.

»Herr Tahn?«, fragte er.

Julian nickte, angesichts Moniques Leichnam unfähig, etwas zu sagen. Er wollte allein mit ihr sein, mit niemandem sprechen.

»Ich bin der Gynäkologe, der gestern bei Ihrer Frau hier in diesem Krankenhaus die Abtreibung vorgenommen hat. «

»Sie!«, entfuhr es Julian. »Was wollen Sie hier?«

»Ich wollte mich von Ihrer Frau verabschieden. Wir haben in der letzten Zeit zahlreiche intensive Gespräche geführt.«

Julian rang um seine Beherrschung.

»Ich hatte ihr von der Abtreibung abgeraten, aber sie hatte einen Grund, von dem sie sich nicht abbringen lassen wollte.«

»Ich kenne ihren Grund«, entgegnete Julian scharf.

Der Gynäkologe, der ihm seinen Namen bislang nicht genannt hatte, sah ihn nachdenklich an. »Ich bezweifle, dass Sie den wahren Grund kennen.«

Julians Blick flog zu Monique. Sie sah aus, als ob sie schliefe. So sanft, so friedlich. Der Anblick zerriss ihm das Herz.

»Ich will ihn nicht wissen«, log er und kämpfte gegen die Tränen an.

»Nach allem, was mir Ihre Frau über Ihre gemeinsame Beziehung erzählt hat, ist es vermutlich besser, Sie erfahren es von mir und nicht vor Gericht.«