Sobald Gills das Büro verlassen hatte, atmete Samantha erleichtert aus. Dass er sie nicht gleich wieder vor die Tür gesetzt hatte, war ein Anfangserfolg. Sie war auf den Detective Sergeant bislang immer nur in Verhörräumen oder bei Gericht getroffen. Dass war ihr erster großer gemeinsamer Fall und ihr erster Besuch in seinem Büro gewesen. Die fast klinische Ordnung gab nicht viel über ihn preis. Die Schränke und Schubladen waren geschlossen, und auf dem Schreibtisch lag außer der Tastatur seines Computers und einem Mousepad mit Maus nicht einmal ein Stift. Als sie sich genauer umsah, entdeckte sie einen benutzten Kaffeebecher auf dem Fenstersims. Auf der Vorderseite war eine Billardkugel mit einem albernen Gesicht abgebildet. Sie starrte irritiert darauf, denn dieser Becher passte nicht zum Rest des Büros und auch nicht zu Gills’ beruflichem Auftreten, so dass sie sich fragte, ob ihn jemand versehentlich vergessen hatte.

Sie setzte sich auf den Besucherstuhl vor dem Schreibtisch. Allmählich beruhigte sich ihr Atem wieder. Sie hatte Gills in dem Glauben gelassen, dass sie in Eile gewesen war. Er musste nicht wissen, dass sie anstatt des Aufzugs in den vierten Stock die Treppen genommen hatte. Umständlich zog sie ihre Brille aus ihrer Tasche. Gills hatte ihr den Ausdruck einer E-Mail in die Hand gedrückt. Das Schreiben einer deutschen Behörde in holprigem Englisch. Sie las es stirnrunzelnd und lehnte sich schließlich mit unterdrücktem Seufzen zurück. Sie hatte gerade begonnen, Julian Tahn zu mögen. Mitleid mit ihm zu haben, obwohl sie sehr wohl wusste, dass das unprofessionell war. Und jetzt erfuhr sie, dass er schon einmal verheiratet gewesen war, seine Frau unter ungeklärten Umständen verunglückt war und er wegen fahrlässiger Tötung vor Gericht gestanden hatte.

»Verdammt«, murmelte sie. »Warum hast du mir nichts davon erzählt?«

»Er hat niemandem davon erzählt.«

Sie zuckte zusammen. Sie hatte Gills nicht zurückkommen hören. Hastig setzte sie ihre Brille ab und setzte sich aufrecht hin.

»Ich habe ein Rechtshilfeersuchen bei den deutschen Behörden gestellt«, fuhr Gills fort und trat an seinen Schreibtisch. Er legte die Akte ab, die er in der Hand hielt, und Samantha konnte den Namen »Laura Tahn« darauf entziffern, bevor er sie in seiner Schreibtischschublade verschwinden ließ. Er setzte sich und musterte sie scharf. »Sind Sie noch immer davon überzeugt, dass wir die DNA-Analyse der Toten abwarten sollten?«

Sie hielt seinem Blick stand. »Sie wissen, in welchem Zustand sich mein Mandant derzeit befindet. Der behandelnde Arzt hat keinen Zweifel daran gelassen, wie instabil er ist. Ich habe mit ihm ausführlich über die Situation gesprochen.«

»Das habe ich auch.« erwiderte Gills, und sein Tonfall verriet, wie er Julian Tahns Zusammenbruch und die Aussage des behandelnden Arztes bewertete. »Ich möchte Ihnen noch etwas zeigen, damit Sie verstehen, warum ich die Vernehmung trotz seines Zustands nicht aufschieben möchte.«

Er startete seinen Computer, und sie stand auf und stellte sich neben ihn. Als er sich vorbeugte, um mit der Maus ein Fenster zu öffnen, roch sie sein Rasierwasser, einen sehr dezenten, männlichen Geruch, der ihr für einen Moment die Konzentration raubte. Irritiert trat sie einen Schritt zurück.

»Sie kennen sicher dieses Foto von Laura Tahn?«, fragte er.

Sie kannte es, allerdings nur als Schwarzweißausdruck aus der Akte. Es war die Fotografie, die ihr Mandant der Polizei zur Verfügung gestellt hatte. Mit einigen schnellen Klicks öffnete Gills eine weitere Bilddatei, und Samantha biss sich auf die Lippe, als ein nackter Frauenkörper auf dem Monitor auftauchte und ihr Blick an dem langen blonden Haar hängenblieb, das wie ein Schleier über die Schultern der Toten fiel.

»Es gibt viele Frauen mit solchem Haar«, wandte sie matt ein.

Gills richtete sich auf. »Das ist sicher richtig, Miss Merryweather. Es gibt sehr viele Frauen, die ihr Haar genauso tragen.«

Die Anwältin trat ans Fenster und sah über den Parkplatz hinweg auf die nahen Baumwipfel. Gills hatte natürlich recht. Laura Tahn war während ihres Aufenthaltes in der Sandwood Bay verschwunden, die nur wenige Kilometer nördlich des Strandes von Oldshoremore lag. Sie kannte sich nicht aus mit den Gezeiten und Strömungsverhältnissen vor der Nordwestküste Schottlands, aber wie wahrscheinlich war es, dass es sich bei der Toten nicht um die vermisste Deutsche handelte? Sie dachte an ihr Gespräch mit Julian Tahn zurück.

Ich habe meine Frau nicht umgebracht, hatte er ihr auf ihre Frage, ob er unschuldig sei, geantwortet. Streng genommen war er ihr mit dieser Antwort ausgewichen. Vorausgesetzt, er sagte die Wahrheit: Was war dann geschehen? Hatte es einen Unfall gegeben, der zu Lauras Tod geführt hatte?

Ich kann das nicht noch einmal durchmachen, hatte er gefleht, kurz bevor er zusammengebrochen war. Was konnte er nicht noch einmal durchmachen? Die Untersuchungshaft? Die Vernehmungen? Oder trieb ihn allein die Anschuldigung in die Verzweiflung? Der Verdacht? Das waren die Fragen, die sie sich seit diesem letzten Gespräch mit ihm gestellt hatte. Jetzt kannte sie die Antwort.

»Wollen Sie sich immer noch zum Schutz Ihres Mandanten mit mir absprechen?«, riss Gills’ vom schottischen Dialekt nur leicht gefärbte Stimme sie aus ihren Gedanken. »Meinen Sie, das ist wirklich notwendig?«

Sie atmete tief durch und wandte sich zu ihm um. »Was ist so schlimm daran, die DNA-Analyse der Toten abzuwarten, bevor Sie ihn mit den Neuigkeiten konfrontieren?«

Ungeduld blitzte in seinen dunklen Augen auf. Oder war es Zorn? »Miss Merryweather …«, begann er und betonte dabei jede Silbe ihres Namens, wie es auch einer ihrer Professoren an der Universität getan hatte, wenn sie seiner Meinung nach wieder einmal über das Ziel hinausgeschossen war.

»Schon gut«, wiegelte sie ab. »Ich ziehe die Frage zurück.«

Sie glaubte zu wissen, warum er so unnachgiebig war. Vor wenigen Monaten erst war er zum Detective Sergeant befördert worden, vorbei an einigen Kollegen, die wesentlich länger als er in der Abteilung Dienst taten, und der Fall Tahn war seine erste Chance, sich und seinem Arbeitsumfeld zu beweisen, dass diese frühe Beförderung verdient war. Er wollte um jeden Preis Fehler vermeiden.

Insgeheim dankte sie ihrer Freundin Betsy, die ihr diese Information gegeben hatte. Als Assistentin des Chief Inspectors äußerste sie sich zwar grundsätzlich nicht zu aktuellen Fällen, ließ sich aber doch hin und wieder zum Tratsch hinreißen. Und John Gills war, ohne dass er es ahnte, eines der beliebtesten Klatschthemen des Northern Constabulary.

Sie räusperte sich: »Führen Sie Ihre Ermittlungen in nächster Zeit noch einmal an die Küste?«

Er nickte.

»Können Sie mich mitnehmen?«

»Sie mitnehmen?« Nun war er es, der sich räusperte. »Ich fürchte, dass mein Vorgesetzter das nicht gutheißen würde.«

»Er braucht es ja nicht zu erfahren.«

Gills’ Blick sprach Bände. »Warum fahren Sie nicht selbst?«

»Ich habe kein Auto.«

»Was ist mit einem Mietwagen? Soweit ich informiert bin, können Sie die Kosten dafür …«

»Ich habe auch keinen Führerschein«, fiel sie ihm ins Wort.

Unangenehmes Schweigen breitete sich zwischen ihnen aus.

»Ja, nun«, sagte Gills nach einer Weile und rückte seinen Krawattenknoten zurecht.

Sie schluckte. »Die Anbindung an die öffentlichen Verkehrsmittel ist nicht so gut in der Region.«

Gills entwich ein Geräusch, das wie ein unterdrückter Lacher klang. »Nein, das ist sie wirklich nicht«, gab er zu. »Die Bahn fährt in diesem Teil Schottlands überhaupt nicht, und der einzige Bus benötigt von Inverness aus fast einen halben Tag. Ohne Auto sind Sie im Nordwesten ziemlich verloren.«

Ihre Blicke trafen sich.

»Und?«, wagte sie zu fragen.

Endlich ließ er das Lächeln zu. »Sie stellen das ziemlich geschickt an, das wissen Sie, oder?«

Samantha Merryweather spürte, wie sie errötete.

Er willigte kopfschüttelnd ein. »Also gut. Ich werde dem Chief Inspector die besondere Situation erklären. Es ist nicht die erste Kröte, die er heute schlucken muss.«

»Danke.«

»Bedanken Sie sich lieber erst, wenn wir unterwegs sind. Vielleicht macht die kommende Vernehmung von Julian Tahn die Fahrt überflüssig.«

Sie kommentierte die Bemerkung nicht. Natürlich hoffte Gills auf ein Geständnis oder zumindest darauf, dass der Deutsche endlich sein Schweigen brach. Ein aufwendiger Indizienprozess war das Letzte, was sich ein Ermittler wünschte, nicht zuletzt aufgrund des Risikos eines Freispruchs aus Mangel an Beweisen, der einer Ohrfeige für die Ermittler gleichkam. Sie konnte Gills’ Drängen nachvollziehen. Sie konnte ihm Steine in den Weg legen, aber aufhalten würde sie ihn nicht. Daher war eine Kooperation auf niedrigem Level vermutlich die beste Wahl.

»Wann wollen Sie mit dem behandelnden Arzt sprechen?«, fragte sie diplomatisch.

»Das werde ich sofort erledigen.«

Sie nahm ihre Tasche. »Dann mache ich mich am besten schon einmal auf den Weg ins Krankenhaus.«

Gills sah von dem Telefonverzeichnis auf, das er soeben auf seinem Monitor aufgerufen hatte. »Wenn Sie möchten, kann ich Sie mitnehmen.«

»Danke, aber ich bin mit dem Fahrrad hier.« Sie wollte vor Gills im Krankenhaus sein und Julian Tahn auf das vorbereiten, was ihn erwartete.