Julian Tahns Geständnis traf Samantha völlig unvorbereitet. Während sie versuchte, weiterhin professionell und distanziert zu wirken, begegnete sie Gills’ Blick. Sie entdeckte weder Triumph noch Genugtuung darin, nur Resignation, und das war dasselbe, was sie auch empfand.
»Sie sagten, Sie wären gewalttätig gewesen«, brach der Detective schließlich das erdrückende Schweigen, das Julians letzten Worten gefolgt war. »Wie darf ich diese Formulierung verstehen?«
Seine Frage war eine Flucht in die Sachlichkeit, fort von der hochemotionalen Schwelle, auf der sie standen, fort von den Erinnerungen, die die Augen ihres Mandanten verdunkelten.
Sie erkannte die Anspannung in Julian Tahns Bewegungen, als er sich aufrichtete, und seinen leeren Blick, der sich langsam auf Gills richtete.
»Ich habe eine Therapie gemacht«, antwortete er, und seine Stimme klang rauh. »Eine Therapie zur Gewaltprävention.« Er atmete tief ein und aus. »Ein Jahr nach dem Tod meiner Frau habe ich damit begonnen.«
»Ein Jahr nach ihrem Tod?«, wiederholte Gills fragend. »Warum nicht früher?«
Julian Tahn strich unwirsch mit den Fingern über die Laken seines Bettes, auf dem er noch immer saß. Er räusperte sich, bevor er sprach. »Nachdem alles vorbei war, bin ich nach Nepal gereist und habe dort in der Abgeschiedenheit der Berge gelebt.«
»Ein ganzes Jahr?«
Vor Samanthas innerem Auge tauchten Bilder von der einzigartigen Bergwelt Asiens auf, Ahnungen von Askese und Einsamkeit, und ohne dass Julian Tahn eine weitere Erklärung geben musste, verstand sie. Er war nicht nach Nepal gereist. Er war geflohen.
Er hatte überlebt.
Aber hatte er auch an Willenskraft gewonnen?
Gewalt in der Beziehung, der Ehe, allgemein im häuslichen Umfeld war auch in Großbritannien ein Thema, mit dem sie als Strafverteidigerin immer wieder konfrontiert wurde. Es gab Männer, die lernten, mit ihrer Veranlagung zur Gewalt umzugehen, sie zu beherrschen. Aber das war ein langer, ein beschwerlicher Weg, der viel Einsicht erforderte und den Betroffenen stets aufs Neue den Willen und die Kraft zur Selbstreflexion abverlangte. Julian Tahn schien ihr nach wie vor zu labil und verwundet, um seine Gewaltausbrüche zu beherrschen. Wenn er unter Stress stand, brachen sie sich Bahn. Sein tätlicher Angriff auf Gills zeugte davon.
Sie sah zu dem Detective, der – die Ellbogen auf die Knie gestützt, die Akte aufgeschlagen in den Händen – Julian Tahn aufmerksam betrachtete, und sie fragte sich, ob ihn dieselben Gedanken beschäftigten.
»Mr. Tahn«, fuhr er jetzt fort, »Sie haben den Bruder Ihrer verstorbenen Frau erwähnt, einen gewissen Tom Noviak. Es handelt sich um denselben Mann, der den roten SUV gemietet hat, der auf dem Weg zur Sandwood Bay im Naturschutzgebiet gesehen wurde – zu dem Zeitpunkt, als Sie sich mit Ihrer Frau Laura dort aufgehalten haben. Können Sie mir diesen außerordentlichen Zufall erklären?«
Julian presste die Lippen aufeinander. Sein Unbehagen war plötzlich wieder greifbar, umhüllte ihn wie ein Schatten, und Samantha fürchtete schon, er würde sich erneut in den Schutz seines Schweigens zurückziehen, doch er begann zu reden. Stockend erst, dann immer flüssiger erzählte ihr Mandant, was er auch ihr schon gestanden hatte. Wie er Laura jahrelang seine Vergangenheit vorenthalten hatte, wie sie heimlich Nachforschungen angestellt und letztlich den Kontakt zu Tom Noviak gefunden hatte.
Gills lauschte konzentriert. In Absprache mit Samantha hatte er ein Diktiergerät aufgestellt, das das Gespräch aufzeichnete. »Was hat Ihre Frau veranlasst, über Ihre Vergangenheit zu recherchieren?«, wollte er wissen.
»Sie müssen diese Frage nicht beantworten, wenn Sie nicht möchten«, warf Samantha ein, bevor Julian reagieren konnte. »Sie ist sehr persönlicher Natur und hat weder etwas mit Ihrer damaligen Anklage noch dem aktuellen Fall zu tun.«
»Das ist so nicht ganz korrekt, Miss Merryweather, aber …«, widersprach Gills.
»Ich werde dazu Stellung nehmen«, fiel Julian ihnen ins Wort. Seine Schultern strafften sich noch ein wenig mehr. »Ich habe nichts zu verbergen, auch wenn Sie«, und dabei sah er Gills direkt an, »anderer Ansicht sind.« Er griff nach der Flasche Wasser, die auf seinem Nachttisch stand, und schenkte sich ein. Samantha wandte betreten den Blick ab, als sie bemerkte, wie sehr seine Hand dabei zitterte.
»Lauras Anlass, sich mit meiner Vergangenheit zu beschäftigen, war ein hässlicher Streit, den wir vor etwa sechs Monaten hatten«, sagte er schließlich und trank einen Schluck Wasser. »Nach einer sehr verletzenden Bemerkung ihrerseits ist mir die Hand ausgerutscht.« Er stockte, nahm noch einen Schluck. »Ich habe ihr ins Gesicht geschlagen«, fuhr er fort, den Blick gesenkt und die Hand so fest um das Glas geschlossen, dass Samantha befürchtete, es müsse unter dem Druck bersten. »Laura war schockiert. Ebenso wie ich. Ich hatte mich all die Jahre unter Kontrolle gehabt … Ich habe mich bei ihr in aller Form entschuldigt, aber damit war es nicht getan. Nicht für Laura. Sie war sich sicher, dass es für mein Verhalten eine Ursache geben müsste, obwohl es nie wieder vorgekommen ist.« »Hat sie mit Ihnen über die Ergebnisse ihrer Recherche gesprochen?«
Julian nickte.
»Wann?«
»Vor etwa zwei Wochen«
Gills kombinierte schnell. »Da waren Sie bereits hier in Schottland. War das der Grund, warum Sie Ihrer Frau mit Trennung gedroht haben und sie Ihnen mit Selbstmord?«
»Ja.«
»Aber trotz dieser Differenzen haben Sie Ihren Urlaub nicht abgebrochen.«
»Wir haben versucht, weiterzumachen.«
»Das heißt, es gab vor dem Verschwinden Ihrer Frau in der Sandwood Bay keine weiteren nennenswerten Auseinandersetzungen zwischen Ihnen?«
Samantha horchte auf. Gills hatte die Frage wie beiläufig einfließen lassen. Für ihren Geschmack zu beiläufig.
Julian antwortete nicht sofort. »Es gab einige kleine Streitereien, aber nichts von Bedeutung.«
Gills runzelte kaum merkbar die Stirn. Dann rückte er mit einer Hand seinen Krawattenknoten zurecht. Julians Antwort befriedigte ihn offensichtlich nicht. Aber warum? Besaß er noch mehr Informationen?
»Es gibt zwei Dinge, die mich noch interessieren, Mr. Tahn.«
»Sicher«, erwiderte Julian, dem die Reaktion des Detective nicht aufgefallen zu sein schien.
»Als Erstes wüsste ich gern, worum es in dem Streit ging, der letztlich den Tod von Monique, Ihrer ersten Frau, zur Folge hatte.«
Julian wurde blass. »Ist das wirklich von Bedeutung?«
»Es rundet für den Detective Sergeant das Bild lediglich ab«, mischte sich Samantha ein. »Sie müssen nicht antworten.«
Julian atmete erleichtert auf. »Dann möchte ich dazu auch nichts sagen.«
»In Ordnung«, lenkte Gills ein. »Kommen wir dann noch einmal zu Tom Noviak zurück. Warum kam es zu diesem Treffen in der Sandwood Bay?«
»Tom ist uns nachgereist«, antwortete Julian ohne Umschweife, doch seine Stimme verriet die Anspannung, die jedes Mal, wenn der Name Tom Noviak fiel, hörbar war.
»Und woher kannte Herr Noviak Ihre Reiseroute?«
»Vermutlich wusste er über Lauras Facebook-Profil, wo wir uns aufhalten. Sie hat ihre Seite regelmäßig aktualisiert.«
»Hm«, murmelte Gills und blätterte in seiner Akte, »ich habe auf der Facebook-Seite Ihrer Frau keinen Eintrag zu dem geplanten Ausflug in die Bay gefunden.« Er reichte Julian einige Ausdrucke.
Der starrte darauf, aber Samantha war sich sicher, dass Gills ihm genauso gut ein leeres Blatt Papier in die Hand drücken könnte. »Dann hatten sie vielleicht Kontakt über SMS oder WhatsApp«, wich Julian aus. »Ich weiß es nicht.«
»Hat es Sie nicht interessiert, wie er …«
»Nein, das hat es nicht!«, fiel Julian ihm ungehalten ins Wort. Er zerknüllte die Ausdrucke in seiner Hand und warf sie zu Boden. »Es hat mir gereicht, ihn plötzlich zu sehen!«
Gills ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. »Warum ist Tom Noviak Ihnen nachgereist?«
Julian antwortete nicht sofort. Die Muskeln in seinem Gesicht arbeiteten, während er um seine Beherrschung kämpfte. »Tom ist uns nachgereist, weil er meinte, Laura vor mir schützen zu müssen«, stieß er schließlich hervor.