Samantha lag im Bett und lauschte auf das Dröhnen der Brandung, die nur wenige hundert Meter entfernt gegen die Felsen schlug. Draußen war es bereits hell, aber noch so früh, dass sich im Haus nichts regte. Nicht einmal der Hund, der sie am Abend zuvor so stürmisch begrüßt hatte, war zu hören. Sie fragte sich, wie es hier im Winter sein würde, wenn die Nächte lang waren, der Regen über das Land peitschte, und der Wind die Wellen vor der Küste zu grauen, schaumgekrönten Bergen anschwellen ließ. Dann würde vermutlich niemand mehr mit offenem Fenster schlafen, und der Geruch des Torffeuers würde das ganze Haus erfüllen. Am liebsten hätte sie gestern Abend noch das Cottage bis in den letzten Winkel erkundet und für sich in Besitz genommen. Von den dunklen, rauchschwarzen Deckenbalken über die alten Holzdielen und rauh verputzten Wände bis zu der Einrichtung, die von einer generationenübergreifenden Sammelleidenschaft für Schönes zeugte, fühlte sie sich von lebendiger Geschichte umgeben und konnte sich nur schwer den romantischen Gedanken entziehen, die dabei in ihr aufstiegen.
»Das macht diese Gegend mit den Menschen«, hatte John Gills ihr leise zugeraunt, der bemerkte, was in ihr vorging. Peinlich berührt, hatte sie versucht, ihre Gefühle zu kaschieren, und sich gleichzeitig gefragt, was die Gegend wohl mit ihm machte, oder ob er immun war, weil er hier aufgewachsen war.
Jetzt schob sie das Daunenbett zurück und schlich mit nackten Füßen ans Fenster. Gedankenverloren betrachtete sie die Wiese, die sich hinter dem Haus bis an den Rand der Klippen erstreckte. Schafe waren darauf wie weiße Flecken verteilt, ein Raubvogel kreiste über der Herde, und Schwalben waren im Tiefflug nicht einmal einen Meter über dem Boden auf der Jagd nach Insekten unterwegs. Die Friedlichkeit der Szene überwältigte sie, so dass sie sich erneut einigen sehr romantischen Gedanken hingab, die jedoch abrupt von einer kauzigen, lauten Stimme beendet wurden, die auf Gälisch etwas rief.
Samantha war Johns Vater noch nicht begegnet. Er pflegte früh zu Bett zu gehen, das war das Einzige, was sie über ihn erfahren hatte. Jetzt lief er in das friedliche Bild hinein, ein leicht gebeugter älterer Herr mit einer dunklen Wachsjacke, das Haar unter einer Schiebermütze verborgen, den schwarz-weißen Hund auf den Fersen. Mit einem kurzen Kommando schickte er ihn die Schafe holen, die sich schwerfällig aus dem taufeuchten Gras erhoben.
Samantha trat vom Fenster zurück, zog sich hastig etwas an und griff nach ihrem Kosmetikbeutel, um ins Bad zu gehen. Als sie nach einer kurzen Dusche herauskam, begegnete sie im Flur Johns Mutter. Die Herzlichkeit, mit der sie von ihr empfangen worden war, hatte sie sofort für die attraktive Frau eingenommen und den Wunsch in ihr geweckt, sie näher kennenzulernen.
»Guten Morgen, Mrs. Gills.«
»Guten Morgen, Miss Merryweather. Haben Sie gut geschlafen?«
»Danke, Madam. Ganz wunderbar, wie ein Baby«, entgegnete Samantha und wünschte sich, Miriam Gills würde sie mit dem Vornamen ansprechen, um ihr durch diese Geste ein heimisches Gefühl zu vermitteln. Aber sie wagte nicht, sie darum zu bitten.
»Trinken Sie Tee oder Kaffee zum Frühstück?«
»Kaffee, wenn es keine Umstände macht. Kann ich Ihnen vielleicht behilflich sein?«
Miriam Gills lächelte. »Gern. Kommen Sie in die Küche, wenn Sie fertig sind.«
Beinahe hastig zog Samantha sich an, machte ihr Bett und räumte ihre Tasche ein, in der Hoffnung, ein paar Minuten allein mit Johns Mutter zu haben. Fragen zur Geschichte der Familie und des Hauses brannten ihr auf den Lippen, die sie jedoch nicht in seiner Gegenwart stellen wollte, um nicht neugierig zu erscheinen. Als sie wenig später in die Küche kam, saß er allerdings schon mit übereinandergeschlagenen Beinen am Küchentisch und nippte an einem Becher Kaffee.
»Ah! Guten Morgen, Miss Merryweather«, begrüßte er sie. »Mein Vater hat Sie mit seinem Gebrüll also auch aus dem Bett getrieben.«
»Nein, ich war schon wach.« Sie nahm die Teller entgegen, die seine Mutter ihr reichte und verteilte sie auf dem Tisch.
Johns Vater leistete ihnen auch beim Frühstück keine Gesellschaft, sie begegneten ihm erst, als sie sich bereits verabschiedet hatten und auf dem Weg zum Auto waren. Frank Gills zog gerade das Gatter der Schafsweide hinter sich zu. Der schwarz-weiße Hütehund drängte sich an ihm vorbei und kam mit hängender Zunge und wedelndem Schwanz auf sie zugetrabt.
»Guten Morgen, Vater«, sagte John Gills höflich, aber kühl.
Der alte Mann blieb stehen.
»Guten Morgen, John«, erwiderte er nahezu im gleichen Tonfall.
Die beiden Männer sahen einander schweigend an. Samantha beugte sich zu dem Hund hinunter und tat, als bemerke sie nicht, was vor sich ging.
Als sie den schmalen Weg zurück zur Straße entlangfuhren, kam ihnen in einer Kurve eine Frau mit einem Kinderwagen entgegen. John bremste so abrupt, dass Samantha hart in ihren Sicherheitsgurt gedrückt wurde.
»Entschuldigung«, murmelte er. Sie sah ihn an. Er war kalkweiß.
Die Frau mit dem Kinderwagen war stehen geblieben und starrte abwechselnd sie und John an. Sie war sehr schlank, groß und trug ihr rotblondes Haar in einem schlichten Zopf im Nacken zusammengefasst. Ihr Gesicht wäre trotz seiner Herbheit hübsch gewesen, wenn die plötzliche Ablehnung, die darin nun aufblitzte, es nicht entstellt hätte.
John schaltete in den Leerlauf und zog die Handbremse. »Ich bin gleich zurück«, sagte er, mit der Hand bereits am Türgriff.
»Hallo, Susan«, hörte sie ihn noch sagen, bevor die Autotür wieder ins Schloss fiel und das leise dudelnde Radio alle Geräusche von draußen übertönte. Samantha widerstand der Versuchung, es auszuschalten, und beobachtete stattdessen, wie John auf die Frau zuging. Unbehagen sprach aus jeder seiner Bewegungen. Susans Blick huschte zu Samantha, die sich beeilte, ihr mit einem freundlichen Lächeln zuzunicken. Susan nickte kühl zurück.
Der folgende Austausch zwischen ihr und John war, so man ihrer Körpersprache trauen konnte, nicht einer der freundlichsten. Das Gespräch war hitzig, und der Zug, der um Susans Mund lag, während sie ihm nachblickte, als er zum Auto zurückkehrte, bestätigte Samanthas Vermutung. Er bemühte sich um einen neutralen Gesichtsausdruck, aber es gelang ihm nicht, seine Anspannung zu verbergen.
Den restlichen Weg zur Sandwood Bay legten sie schweigend zurück. Samantha blickte interessiert aus dem Fenster auf die einsame, rauhe Landschaft. Bei ihrer gestrigen Ankunft war es bereits dunkel gewesen, und sie hatte die weitläufigen baumlosen Hügel nur erahnt, durch die sie die schmale Straße jetzt führte. Zu ihrer Linken eröffnete sich zwischen den vereinzelten weißen Cottages hindurch immer wieder der atemberaubende Blick auf den Atlantik. Samantha fragte sich, warum es sie noch nie hierhergezogen hatte und warum sie dieses Erlebnis nun ausgerechnet mit einem Detective Sergeant teilen musste, dessen Missstimmung wie schlechte Luft den Innenraum des Wagens verpestete.
Wortlos stoppte er schließlich inmitten einer kleinen Ansammlung von Häusern vor einem Gatter, an dem ein Holzschild mit der Aufschrift Walkers welcome befestigt war. Hinter dem Gatter erstreckte sich ein unbefestigter Weg, der sich nach etwa fünfhundert Metern hinter der nächsten Anhöhe verlor.
»Das ist der Wanderweg zur Bay«, informierte er sie knapp. »Wenn Sie vielleicht aussteigen könnten und das Tor aufhalten, während ich durchfahre?«
Sie räusperte sich. »Haben Sie denn überhaupt den Kopf jetzt dafür frei, Detective?«
Er sah sie fragend an.
»Wenn Sie unterwegs jeden Stein aus dem Weg treten aus Ärger über die Begegnung, die Sie gerade hatten, werden wir nicht weit kommen.«
Betroffen senkte er den Blick.
»Miss Merryweather, es tut mir leid. Ich benehme mich wirklich unmöglich.«
»Schon gut.«
»Nein, das ist nicht zu entschuldigen.«
»Sie müssen sich nicht entschuldigen, wirklich! Ich habe doch gesehen, wie sehr Sie das unerwartete Zusammentreffen mit der jungen Dame aus dem Gleichgewicht gebracht hat.«
Er gönnte ihr das Vergnügen, zu sehen, wie er rot wurde. Aber anstatt das Gespräch hier abzubrechen, nahm er die Hände vom Lenker und drehte sich zu ihr.
»Sie ist meine Ex-Freundin.«
»Oh.«
»Ich habe mich von ihr getrennt, weil sie entgegen unserer Absprache schwanger geworden ist.«
»Oh«, entfuhr es Samantha erneut, sie war erstaunt über so viel Offenheit. »Dann war das Kind im Wagen …« Sie brach den Satz ab, als sie merkte, dass sie ihre Gedanken laut aussprach, aber Gills nahm es ihr nicht übel.
»… mein Sohn«, vervollständigte er sachlich ihre Überlegung. »Er ist jetzt ein halbes Jahr alt.«
Er hatte dem Kind keine Beachtung geschenkt, und Samantha musste an die distanzierte Begegnung mit seinem Vater denken. John Gills hatte ganz offensichtlich das Aussehen seiner Mutter geerbt, aber auch die Sturheit seines Vaters.
»Sie haben keinen Kontakt zu Ihrer Ex-Freundin?«, fragte sie vorsichtig.
»Wir haben seit unserer Trennung nicht mehr miteinander gesprochen.«
»Nun«, bemerkte Samantha trocken, »im Interesse Ihres Kindes wäre das jetzt dann vielleicht der richtige Zeitpunkt, den Kontakt wieder aufzunehmen.«
Gills sah sie an. »Da spricht die Anwältin.«
Sie zuckte lächelnd mit den Schultern. »Tut mir leid, wenn ich Ihnen zu nahe trete, aber ich kann nicht aus meiner Haut.«
»Das ist schon in Ordnung.« Er seufzte. »Vermutlich haben Sie auch recht, aber es ist …« Er suchte nach dem passenden Wort.
»Kompliziert?«, half sie, und er nickte.
»Kompliziert ist es in solchen Fällen immer«, sagte sie daraufhin. »Aber durch beharrliches Schweigen schaffen Sie das Problem nicht aus der Welt. Ebenso wenig wie den Zorn Ihres Vaters«, wagte sie einen weiteren Vorstoß, der, wie sie an seinem Gesichtsausruck ablesen konnte, ins Schwarze traf.
»Ist das so offensichtlich?«, fragte er beschämt.
»Auch für jemanden, der weniger Feingefühl besitzt.«
Er runzelte die Stirn. »Ich weiß nicht, warum ich Ihnen das alles erzähle.«
»Sie sind nicht der Erste«, beruhigte sie ihn und hätte ihm beinahe eine Hand auf den Arm gelegt. »Ich scheine solche Geständnisse zu provozieren.«
Sein Blick streifte sie von der Seite, und ein verlegenes Lächeln huschte über sein Gesicht. »Stimmt. Auch Julian Tahn konnte sich Ihnen nicht entziehen. Wie machen Sie das?«
»Keine Ahnung. Wahrscheinlich ist es meine Haarfarbe.«
Er lachte. »Rothaarige Frauen wurden hier vor zweihundert Jahren noch verbrannt.«
»Ich weiß. Vielleicht ist das der Grund, warum ich noch nicht hier war.«
Er wies auf den Wanderweg. »Dann wird es jetzt aber Zeit, dass Sie die schönste Bucht Schottlands kennenlernen. Sind Sie bereit?«
»Das bin ich. Wenn der Ort wirklich so spektakulär ist, wie Sie ihn beschrieben haben und auch nur annähernd den Fotos entspricht, kann ich es ehrlich gesagt kaum erwarten, ihn endlich zu sehen.«
In diesem Moment klingelte sein Handy.
Es lag zwischen ihnen in der Mittelkonsole, und sie konnte erkennen, dass der Anruf von einer Festnetznummer in Inverness kam, bevor Gills das Gespräch mit einer entschuldigenden Geste annahm. Er lauschte angestrengt, und seine Miene wurde immer ernster.
»Was ist passiert?«, fragte sie, kaum dass er aufgelegt hatte.
»Die Tote vom Strand ist identifiziert.«