Julian Tahn spürte, wie ihm der Alkohol zu Kopf stieg und sein Hirn benebelte. Er hatte den ganzen Tag nichts gegessen, daher würden zwei weitere Gläser des dünnen Biers genügen, ihn in eine warme, weiche Welt des Vergessens gleiten zu lassen.
Es war nicht seine Art, sich zu betrinken, tatsächlich vertrug er nichts, weshalb er auf Partys immer einer der Ersten war, der nach dem Begrüßungsgetränk nach einer Cola fragte. Deswegen war meistens auch er derjenige, der fuhr. Laura kannte diese Zurückhaltung nicht. Sie trank gern und oft auch zu viel, war dann überdreht und albern, bis sie schließlich im Auto saß und durch das Absacken des Adrenalinspiegels sofort einschlief.
Während er auf die schäumenden Wogen des Atlantischen Ozeans blickte, der weit unter ihm gegen die Felsen der schottischen Küste anbrandete, dachte er an ihre erste Begegnung, die sich genauso abgespielt hatte. Auf einer Premierenveranstaltung waren sie buchstäblich ineinandergelaufen, und sie hatte ihm ihren Sekt über den Anzug gekippt. Anstatt sich zu entschuldigen, hatte sie lediglich gekichert und war dann in seinen Arm gesunken. Er war zu überrascht gewesen, um wütend zu reagieren, denn sie hatte, obwohl sie ziemlich betrunken gewesen war, unbeschreiblich gut ausgesehen. Ihre unerwartete Hilflosigkeit hatte ihn herausgefordert. Er erinnerte sich, dass er sie entgegen dem Rat seines besten Freundes nicht in ein Taxi gesetzt, sondern nach Hause gefahren hatte, nachdem er in ihrer Handtasche ihren Personalausweis mit ihrer Adresse gefunden hatte. Er schluckte unwillkürlich. Dreieinhalb Jahre waren seither vergangen, dennoch stand ihm ausgerechnet jetzt jedes Detail jenes Abends so lebhaft vor Augen, als wäre es gestern gewesen.
Seine Finger schlossen sich fester um das Bierglas in seiner Hand, und er bemühte sich, das unangenehme Gefühl, beobachtet zu werden, zu ignorieren. Natürlich zog er als Fremder in diesem gottverlassenen Ort die Blicke aller Anwesenden auf sich, denn nach Kinlochbervie verirrte sich nur selten jemand zufällig. Wer die A383 nach Durness im äußersten Nordwesten Schottlands bei Rhiconich verließ und der kurvigen Straße entlang des Loch Inchard bis zur Küste folgte, lebte entweder hier oder arbeitete in der Fischindustrie, das hatte Julian während seines kurzen Aufenthalts bereits erfahren. Und dass die Männer am Tresen über ihn gesprochen hatten in ihrem völlig unverständlichen Dialekt, war ihm sofort klargeworden, als er den Raum betreten und mitten unter ihnen den Mann bemerkt hatte, der ihn und Laura vor ein paar Tagen mit dem Boot hinausgefahren hatte. Sicher hatte er von dem Streit erzählt. Julian schloss die Augen. Hatte er ihnen auch von dem Messer erzählt? Er widerstand dem Drang, sich nach ihnen umzudrehen und in ihren Gesichtern danach zu forschen, als er sich an das bestürzte Gesicht des Skippers erinnerte, an seine fahrigen Bewegungen und seinen ausweichenden Blick. Was hatte sich Laura bloß dabei gedacht? Ohne den Blick vom Meer und den hohen Klippen abzuwenden, setzte Julian das Glas an und leerte auch das zweite Bier in einem Zug.
Laura.
Was wäre es für ein Geschenk, sie einfach vergessen zu können. Die Erinnerung auszuschütten wie Wasser aus einem Krug. Für einen Moment gab er sich diesem Gedanken hin, beruhigte sich, doch unter der Oberfläche brodelte weiter das Entsetzen, das ihn letztlich zurück an diesen Ort getrieben hatte. Und die Wut über seine Hilflosigkeit.
Das Gelächter hinter ihm erinnerte ihn, warum er hier in diesem Hotel war. Er musste handeln. Jetzt. Er hätte es längst tun müssen.
Die lauten Stimmen der Männer füllten den Raum, das Klirren der Gläser. Er sehnte sich so sehr nach der Normalität und Sicherheit, die diese Geräusche vermittelten, nach ihrer Einfachheit, von der er sich Lichtjahre entfernt fühlte, so dass sein Körper sich schmerzhaft verkrampfte.
Er durfte sich nicht von seinen Emotionen leiten lassen, nicht dem Gefühl der Hilflosigkeit hingeben, das seine Gedanken zu lähmen drohte. Es gab eine plausible Erklärung für alles, was geschehen war, und er hielt die Fäden in der Hand. Er war der Situation nicht ohnmächtig ausgeliefert.
Er fuhr sich mit der Hand über das Gesicht, als er spürte, dass es unmöglich war, sich die Ereignisse der vergangenen Tage konkret ins Gedächtnis zu rufen, denn der Alkohol zeigte bereits seine Wirkung. Bilder und Wortfetzen, Gedanken und vor allem Emotionen flossen ineinander. Was war Realität, was Einbildung? Konnte er unter diesen Bedingungen sein Vorhaben überhaupt ausführen? Seine Füße waren schwer wie Blei, als er durch den spärlich beleuchteten Raum zurück zum Tresen ging. Er durfte jetzt nicht die Nerven verlieren.
»Noch ein Pint?«, fragte die matronenhafte Wirtin, die sicher so manchen ihrer männlichen Gäste zum Träumen brachte, mit ihrem ausladenden Busen und den wiegenden Hüften.
»Danke, Ma’m«, lehnte er höflich ab. »Können Sie mir sagen, wo die nächste Polizeidienststelle ist?«
Schweigen breitete sich im Pub aus, und aus dem Blick der Wirtin wich die herbe Freundlichkeit, und Unbehagen machte sich breit. »In Rhiconich«, antwortete sie dann jedoch in die Stille.
»Können Sie mir die Telefonnummer geben?«
Sie nickte und ging hinaus an die Rezeption in der kleinen Eingangshalle. Julian folgte ihr.
Sie blätterte in einem abgegriffenen Telefonbuch, reichte es ihm schließlich aufgeschlagen hinüber und wies auf das Telefon, das neben ihm auf dem schlichten weißen Tisch stand. »Ist schon spät, aber mit ein bisschen Glück ist der diensthabende Officer noch da.« Sie räusperte sich. »Wenn nicht, müssen Sie es bei ihm privat versuchen.« Sie kritzelte ihm eine weitere Nummer auf die Seite.
Julian erwartete, dass sie wieder in den Pub zurückkehren würde, aber sie blieb mit verschränkten Armen stehen und betrachtete ihn mit jener Neugier, wie sie Menschen in solch entlegenen Gegenden der Welt zu eigen ist. Zögerlich tippte er die Nummer ein.
Nach zweimaligem Klingeln sprang ein Anrufbeantworter an. Julian wollte gerade auflegen, als er hörte, wie die Ansage unterbrochen wurde.
»Rhiconich, Polizeistation«, meldete sich eine rauhe männliche Stimme.
Julians Mund wurde plötzlich trocken. »Ich möchte eine Vermisstenmeldung aufgeben«, erwiderte er gepresst. »Mein Name ist Julian Tahn. Ich bin …«
»Ich kann das telefonisch nicht aufnehmen. Können Sie auf die Polizeistation kommen?«, unterbrach ihn der Officer am anderen Ende der Leitung.
Nein, das konnte er nicht. Nach Rhiconich waren es vier Meilen. Mit wenigen Worten setzte er dem Polizeibeamten seine Situation auseinander. Einen Moment war es still am anderen Ende der Leitung. »Ich bin in einer halben Stunde bei Ihnen«, sagte der Mann dann.
Julian legte langsam den Hörer zurück. Die Uhr über dem Schlüsselbord hinter der Rezeption zeigte achtzehn Uhr. In einer Stunde würde alles, was bislang nur in seinem Kopf tobte, schwarz auf weiß niedergeschrieben und damit offiziell sein. Realität. Er zwang sich, die Beklemmung darüber zu verdrängen und dem Blick der Wirtin zu begegnen. »Kann ich bei Ihnen auch etwas zu essen bekommen?« Er musste essen, selbst wenn ihm bei dem Gedanken übel wurde.
»Wir haben unter der Woche abends keine warme Küche, aber ich kann für Sie eine Ausnahme machen, wenn Sie nehmen, was da ist«, entgegnete sie nach einem Moment des Überlegens, während sie ihn gleichzeitig abschätzend musterte.
»Das ist äußerst entgegenkommend«, bedankte er sich.
Sie antwortete ihm mit einem zurückhaltenden Lächeln.
Er stocherte noch in den Spiegeleiern mit Speck herum, als die Tür aufschwang und ein kantig wirkender Mann in Polizeiuniform den Raum betrat. Er wurde mit viel Hallo begrüßt. Als Julian bemerkte, dass sich der Polizist suchend umschaute, schob er seinen Teller beiseite und stand von seinem Platz an einem der Fenster auf.
Der Polizeibeamte nickte und kam durch den Raum auf ihn zu. »Detective Ian Mackay«, stellte er sich vor. »Sie haben angerufen?«
Julian bestätigte das und schüttelte die ihm entgegengestreckte Hand.
Mackay nahm seine Mütze ab, legte sie auf den Tisch und nahm ihm gegenüber Platz.
»Danke, dass Sie gekommen sind, Detective«, sagte Julian und hoffte, dass sein Gegenüber nicht bemerkte, wie nervös er war. »Keine Ursache«, erwiderte Mackay und zog aus seiner mitgebrachten Aktentasche eine Mappe heraus. »Auf dem Heimweg komme ich sowieso durch Kinlochbervie. Ich wohne nur zwei Meilen weiter die Küste hoch. Die Meldung kann ich auch von dort an die Zentrale weitergeben.« Er öffnete die Mappe und zog ein Formular heraus, zückte einen Stift aus seiner Brusttasche und sah Julian auffordernd an. »Wenn ich es am Telefon richtig verstanden habe, wollen Sie Ihre Frau als vermisst melden?«
Julian nickte.
»Wollen Sie mir erst einmal erzählen, was geschehen ist? Wo waren Sie zuletzt gemeinsam?«
Julian schluckte, als die Erinnerungen ihn erneut überfluteten. »In der Sandwood Bay«, stieß er mühsam hervor.
Ian Mackay blickte überrascht auf.