Vorschaukapitel

Kendra Elliot

VERFROREN

Erscheint Winter 2013

»Das ist die letzte bekannte Position des Flugzeugs.« Sheriff Patrick Collins tippte auf die wasserfeste Karte des Kaskadengebirges, die er auf der Motorhaube seines Suburban ausgebreitet hatte. Ernst musterte er mit seinen braunen Augen das Team. Brynn studierte fröstelnd die nasse Karte und versuchte, nicht auf das Kribbeln im Bauch zu achten, das ihr die Adrenalinschübe bescherten.

Ein schönes Gefühl.

»Gestern rief spätabends ein Jäger an. Er hat ein Flugzeug beobachtet, das ziemlich tief flog und sich nicht gut anhörte«, sagte Collins grimmig. Er war ein dunkler, hagerer Typ. Fünfundzwanzig harte Jahre im Polizeidienst hatten tiefe Furchen um seinen Mund hinterlassen. »Der Mann sagte, die kleine Maschine hätte es nur knapp über die Cougar-Kette geschafft, und er möchte wetten, dass sie auf der anderen Seite in den Wald gestürzt ist. Rauch hat er allerdings keinen gesehen.«

Die drei Mitglieder der Such- und Rettungsmannschaft des Madison Countys prägten sich die entsprechende Stelle auf der Landkarte ein. Eisregen lief über ihre roten Kapuzen. Brynn wischte sich ein kaltes Rinnsal von der Wange und vergrub die Hände in den Taschen ihres Winterparkas.

»Hat er nicht versucht, näher ranzukommen? Konnte er keine genaueren Angaben machen?« Jim Wolf, der Teamleiter, warf einen düsteren Blick auf die Karte. Den stämmigen Mann umgab eine Aura von Selbstbewusstsein. »So, wie es aussieht, haben wir ein riesiges Suchgebiet.«

Collins schüttelte den Kopf. »Er war allein und hat das Flugzeug nur von einem Waldweg aus gesehen.« Mit dem Finger fuhr er eine gepunktete Linie auf der Karte nach. »Dieser Waldweg ist nicht mehr als eine sumpfige, holprige Fahrspur. Zu den Gipfeln der Cougar-Kette hätte der Jäger weit über dreihundert Meter nahezu senkrecht bergauf kraxeln müssen, um in das tief eingeschnittene Tal auf der anderen Seite sehen zu können. Das war nicht zu machen.«

Brynn versuchte, anhand der Karte die Distanz zwischen dem Punkt unter Collins’ Finger und ihrem derzeitigen Standort abzuschätzen. »Wir sind meilenweit entfernt«, murmelte sie. Von der Stelle, an der vielleicht ein kleines Flugzeug in den Wald gestürzt war.

»Von hier aus erreichen wir das Tal am schnellsten«, erklärte Collins. »Aber das wird ein harter Marsch. Ihr seid meine erfahrensten Leute, deshalb schicke ich euch da raus. Ein besseres Vorauskommando als euch habe ich nicht.«

Als Vorauskommando hatten sie die Aufgabe, so rasch wie möglich an den Einsatzort vorzustoßen und die Lage abzuschätzen. Auf dem Revier hatte man ihnen den Spitznamen »schnelle Eingreiftruppe« verpasst. Sobald sie sich einen Überblick über die Situation verschafft hatten, forderten sie beim Sheriff die nötige Ausrüstung und die entsprechenden Spezialkräfte an oder übermittelten schlechte Nachrichten.

Brynn sah sich die Route an, die der Finger des Sheriffs auf der Karte beschrieb. Anfangs folgte sie einem guten Wanderpfad, führte dann aber bald abseits davon durch einen der dichtesten Wälder des Kaskadengebirges. Der Weg war alles andere als eben. Bis zum Einsatzort ging es ständig bergauf und bergab. Aber mehr bergauf.

Das würde ein ziemlich harter Einsatz werden.

Dann mal los.

Auf der Karte kreuzten zwei geschlängelte blaue Linien die vorgesehene Marschroute. Brynn spürte einen Stich im Magen. Flüsse. Und sie würden von dem starken Regen, der in den letzten vierundzwanzig Stunden in Oregon gefallen war, tödlich reißend und angeschwollen sein. Brynns Blick glitt über die drei Männer. Sheriff Collins und das größte, kräftigste Mitglied des Teams, Thomas Todoroff, studierten das Höhenprofil der Route. Jim schaute nicht auf die Karte. Sein besorgter Blick ruhte auf Brynn. Er wusste, wie sehr sie Flussüberquerungen hasste. Sie deutete ein Kopfschütteln an.

»Dann wissen wir also nicht mit letzter Sicherheit, ob das Flugzeug tatsächlich abgestürzt ist? Und was den Absturzort betrifft, können wir nur raten?« Brynns hastige Fragen hinterließen Atemwolken in der frostigen Luft. Sie sollten Jim ablenken, damit er seinen bohrenden Blick endlich von ihr nahm. »Was ist mit dem Notsender? Ist der nicht zu orten?«

Collins schüttelte den Kopf. »Das Flugzeug ist gestern Abend nicht wie geplant auf dem Flugplatz von Hillsdale gelandet. Wir haben im Umkreis von zweihundert Meilen überall angerufen. Keine Landung. Und ein Notsignal hat bislang niemand aufgefangen. Zwischen dem Sender und dem Ortungsgerät dürfen allerdings keine größeren Hindernisse liegen, und Flugzeuge können wir bei diesem Mistwetter für die Suche nicht einsetzen. Es kann natürlich auch sein, dass der Sender beschädigt ist.«

»Wie bitte? Ich dachte, die Dinger wären nicht kaputt zu kriegen«, hörte Brynn sich sagen. Sie starrte den Sheriff an.

»Sie sind batteriebetrieben«, sagte er verdrießlich. »Und abschalten kann man sie auch.«

Die Teammitglieder schüttelten verständnislos die Köpfe.

»Kein Glück mit dem Radar?« fragte Jim.

Der Sheriff verzog das Gesicht. »Anscheinend werden die Kaskaden nicht lückenlos erfasst. Der Jäger hat das Flugzeug nördlich der Stelle gesehen, an der es zum letzten Mal auf dem Radar erschien. Das Tal scheint der beste Ort zu sein, um mit der Suche zu beginnen, und das Wetter wird eher schlechter. Also müssen wir den Einsatz zu Fuß durchführen.« Nach einer kurzen Pause sprach Collins weiter: »Eins noch.« Das Team sah ihn aufmerksam an. Das Unbehagen in seinem Blick ließ Brynns Anspannung wachsen.

Womit konnte er die Ausgangslage noch erschweren?

Collins rieb die Lippen aneinander.

»Was ist?«, fragte Jim scharf. »Was gibt es denn noch?«

»Heute Morgen kam ein Anruf von den US-Marshals. Sieht aus, als handelt es sich bei dem Flug um einen ihrer Transporte.«

Ein Transport? Ein Flugzeug voller Straftäter?

»Ich dachte, die fliegen größere Kisten. Sagtest du nicht, wir suchen eine kleine Maschine?« Brynns Magen zog sich zusammen.

Collins schüttelte den Kopf. »Das Flugzeug war gechartert. Es sollte nur einen einzigen Häftling zurück nach Portland bringen. Außer ihm waren zwei Piloten und ein Marshal an Bord.«

Brynns Magen entknotete sich ein klein wenig. Nur ein Straftäter.

»Und was ist das für ein Kerl? Was hat er angestellt?« Thomas stellte die Frage, die allen auf der Zunge lag. Der dunkle Mann machte selten den Mund auf. Und wenn, dann kam er ohne Umschweife zur Sache. Dieser Riesenkerl aus Alaska war mit Worten sparsamer als mit Tausenddollarscheinen.

»Der Marshal hat ihn als ›extrem gefährlich‹ bezeichnet.« Collins richtete die braunen Augen auf Brynn. »Viel mehr war nicht aus ihm herauszubekommen, aber ich hatte das Gefühl, dass ihm der Gedanke, der Kerl könnte frei irgendwo herumlaufen, überhaupt nicht behagt. Selbst wenn es nur hier in der eisigen Wildnis ist.«

Brynn hielt dem Blick des Sheriffs stand. Am liebsten hätte er sie im Basislager behalten, wagte es aber nicht, das laut auszusprechen. Alle im Team glaubten immer, sie beschützen zu müssen. Sie war eine Fachkraft für forensische Medizin – eine Krankenschwester mit Spezialausbildung – kein Cop. Thomas und Jim waren beide Deputys des Sheriffs von Madison County, und außer ihr trugen alle ein oder zwei Waffen bei sich. Brynns Aufgabe war es, bei Todesfällen Beweise für die Gerichtsmedizin zu sammeln und zu sichern. Dazu musste sie nicht schießen können. Im Team war sie für Verletzte, Kranke oder Tote zuständig.

Sie sah sich auf der trostlosen Lichtung um. »Wo ist Ryan? Er kommt doch mit, oder?«

Ryan Sheridan war das vierte und letzte Teammitglied der schnellen Einsatztruppe. Der junge, energiestrotzende Cowboy von einem Cop schob eigentlich in Salem Dienst. An den Rettungseinsätzen nahm er als Freiwilliger teil. So wie alle anderen auch – ohne Sonderzulage und Überstundenzuschlag.

Collins’ Handy klingelte. Den Blick aufs Display gerichtet, beantwortete er Brynns Frage. »Ryan müsste jeden Augenblick hier sein. Ich habe ihn gleich um sechs heute Morgen angerufen. Moment, ich muss den Anruf annehmen. Es ist noch mal das Marshal-Büro. Augenblick.« Er trat ein paar Schritte beiseite.

»Brynn sah die beiden anderen Männer an. »Marshals? Wie in Auf der Flucht? Oder in Con Air?« Bilder von Tommy Lee Jones und John Cusack schossen ihr durch den Kopf.

»Extrem gefährlich? Was zum Teufel soll das heißen?«, knurrte Jim. »Wahrscheinlich irgendein Psycho. Ein beschissener Kinderschänder, der auf kleine Mädchen steht, oder ein Killer, der die Opfer zwingt, ihre Finger zu essen, bevor er sie erledigt. Für so ein Stück Dreck will ich bei diesem Mistwetter meine Zeit nicht verschwenden.«

»Meine Güte, Jim. Vielen Dank für die aufmunternden Worte.« Brynn schluckte den Klumpen in ihrer Kehle hinunter und sah hinauf zum dunklen Himmel. Ein Vergewaltiger? Ein Mörder?

Jim trat mit dem wasserdichten Stiefel so heftig in eine Pfütze, dass die schlammige Brühe in alle Richtungen spritzte. »Ich hasse diesen Regen. Typisch März in Oregon.«

»Besser als durch einen Schneesturm zu stapfen«, warf Thomas ein. Er hatte die Kapuze seines Parkas entfernt, den Kragen hochgeschlagen und eine rote Mütze mit dem Logo der Madison County Such- und Rettungsmannschaft auf dem Kopf. Eine Kapuze trug Thomas nie. Brynn spürte den eisigen Luftzug an ihren Wangen und fragte sich, wie er die bittere Kälte am Hals aushielt.

»Der Schnee kommt schon noch. Laut Wettervorhersage sinken die Temperaturen. Heute noch oder spätestens morgen kriegen wir es damit zu tun.« Beide Männer fluchten über Brynns Worte. Das war kein eintägiger Quickie-Einsatz – schnell rein und wieder raus. Sie würden mindestens zwei Nächte in der eisigen Wildnis verbringen.

Brynn machte das Wetter nichts aus. Sie freute sich über den Einsatz, weil sie dann mal wieder aus der Stadt kam und Liam eine Weile nicht sehen musste. Mit schlechtem Gewissen berührte sie das Handy in ihrer Tasche. Als der Anruf für den Einsatz gekommen war, hatte Liam noch geschlafen. Sie hatte ihm einen Zettel geschrieben.

Brynn klappte das Telefon auf und schaltete es ab.

»Hey.« Jim zog sie beiseite und senkte die Stimme. Seine blauen Augen sahen sie forschend an. »Kann es sein, dass du schwanger bist?«

»Bitte was?« Brynn blieb fast die Luft weg. Schwanger? Wie zum Teufel kam er denn darauf? Immerhin hatte Jim den Anstand zu erröten – ein seltsamer Anblick bei einem so harten Kerl. »Liam fand deinen Unfall beim letzten Einsatz gar nicht gut. Er meinte, er würde dich notfalls schwängern, damit du nicht wieder in die Wildnis ziehst.«

»Das hat Liam gesagt?« Brynns Kehle wurde eng. Sie schwängern? War das ein schlechter Film? Dass Jim sie kannte, seit sie fünfzehn war, gab ihm noch lange nicht das Recht, die Nase in ihre Privatangelegenheiten zu stecken. Brynn blinzelte heftig gegen den Eisregen an, öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Dann hustete sie, starrte Jim an und versuchte es noch einmal. »Erstens geht dich das einen feuchten Dreck an.«

»Als Teamleiter …«

Sie schnitt ihm mit einer unwirschen Geste das Wort ab. »… solltest du nachdenken, bevor du irgendwelches Blech redest. Ob ich schwanger werde, entscheidet nicht Liam.« Selbst wenn er das behauptet.

»Als du beim letzten Einsatz in den Steinschlag geraten bist, war er stinksauer. Mit der Gehirnerschütterung und dem Schlüsselbeinbruch hattest du noch Glück.« Jim beugte sich näher zu ihr.

Mit heißem Kopf sah sie Thomas an, der das Gespräch ganz unverhohlen und leicht belustigt verfolgte. »Das hätte jedem passieren können. Ich werde so tun, als hättest du diese Frage nie gestellt. Wenn Anna wüsste, was wir hier reden, könntest du einen Monat lang auf der Couch übernachten.«

Sie hatte gute Lust, Jim eine Kopfnuss zu verpassen. Anna, seine Frau, hätte ihr sicher applaudiert. Jim presste die Lippen aufeinander.

Die Wut verengte Brynns Blickfeld zu einem Tunnel. Wollte Liam ihr die Einsätze vermiesen? Und warum zum Teufel redete er mit Jim über private Angelegenheiten? Grundgütiger. Schwanger? Sie schnaubte. Sich am Morgen einfach davonzuschleichen, war genau richtig gewesen.

Jim sollte nicht alles glauben, was Liam erzählte. Liam campierte seit einem Monat auf der Couch seines Bruders. Dass sie schwanger war, war völlig ausgeschlossen. Die vergangene Nacht hatte er nur deshalb in ihrem Gästezimmer verbracht, weil sie sich bis spätabends gestritten hatten. Brynn biss sich auf die Zunge. Sie hatte jetzt nicht den Nerv, mit Jim darüber zu reden. Er glaubte, sie und Liam würden immer noch zusammen wohnen und demnächst in den Hafen der Ehe einsegeln.

Träum weiter.

Aufgeregtes Gebell schallte aus dem Wald. Brynn drehte sich zu dem Geräusch. Ihr grauweißer Hund sauste zwischen den Bäumen hindurch, sprang über Pfützen und jagte auf die Gruppe zu.

»Kiana!« Brynn breitete die Arme aus und führte sie dann vor dem Bauch zusammen. »Hierher, Mädchen!«

Nach einem weiteren Handkommando kam die Hündin schlitternd vor Brynn zum Stehen. Brynn machte einen Sprung zur Seite, denn sie wusste, was gleich passieren würde. Kiana schüttelte sich, bespritzte dabei Jim von oben bis unten, setzte sich artig und richtete die blauen Augen auf ihr Frauchen.

Braver Hund.

»Ich nehme mal an, du bist wasserfest angezogen. Das ist auch nichts anderes als Regen.« Sie kraulte den Hund am Kinn und sah lachend zu, wie Jim Kiana mit beiden Händen herzhaft den Kopf wuschelte. Die Hündin drückte die Schnauze an Jims Bein. Sie forderte weitere Streicheleinheiten. Dass Kiana Jim nass gespritzt hatte, heiterte Brynn gewaltig auf. Ihre kleine Unstimmigkeit war vergessen. Fast.

»Regen fällt nicht von unten nach oben.« Jim wischte sich ein paar trübe Wassertropfen von den Wangen.

Ein alter Ford-Truck kam auf die Lichtung gebraust und stoppte hinter Brynns Nissan. Ryan Sheridan warf den zerbeulten Cowboyhut auf den Sitz, stülpte sich die Kapuze seiner Jacke über, schnappte seinen Rucksack und joggte zu der Gruppe. Er hielt den fast zwanzig Kilo schweren Rucksack so lässig, als wäre nur sein Pausenbrot darin.

Dann warf er ihn sich über die Schulter. »Sorry. Der Verkehr war übel. Sind wir so weit?« Erwartungsvoll nickte er die drei anderen Teammitglieder an. Ryan war voller Tatendrang. Wie immer.

Thomas schüttelte den Kopf und neigte ihn dann Richtung Sheriff. »Wir warten noch auf Collins’ Okay.«

Jim erklärte dem Neuankömmling, was sie über das Flugzeug und die Insassen wussten. Ryans Augen strahlten. »Ein Straftäter? Jemand, dessen Hintern wir in Handschellen zurückschleifen können? Cool.«

Collins ließ sein Handy zuschnappen und kam zu der durchnässten Truppe zurück. An dem angespannten Muskel in seinem Kiefer und an seinem steifen Gang erkannte Brynn, dass er wütend war.

»Okay. Hört zu. Die Marshals schicken uns einen von den Feds. Er müsste jeden Augenblick hier sein und geht mit euch auf die Suche.«

»Wie bitte?« Brynn blinzelte.

»O Kacke«, sagte Ryan mit Nachdruck.

»Nicht mit mir.« Jim schüttelte den Kopf. »Auf einen Idioten, der von dem Gelände hier keine Ahnung hat, können wir verzichten. Für einen Krawattenheini setze ich weder die Sicherheit meines Teams aufs Spiel noch werde ich das Tempo runterfahren.«

Collins redete weiter, als hätte er nichts gehört. »Wir sollen den Mann zuvorkommend behandeln …«

»Zuvorkommend? Das hier ist kein Kaffeekränzchen. Müssen wir den Kerl mit auf den Einsatz schleppen? Was ist, wenn er nicht mithalten kann?« Thomas’ wütende Stimme klang wie das Grollen eines gereizten Löwen.

Collins sah dem aufgebrachten Mann fest in die Augen. »Ich habe denen gesagt, dass wir so hier draußen nicht arbeiten. Aber sie bestanden darauf, dass er mitgeht. Ich hatte irgendeinen Oberindianer von der US-Marshal-Behörde von Oregon am Telefon, und wenn der sagt, er will einen seiner Männer im Team haben, dann haben wir einen seiner Männer im Team.« Collins schnaubte. »Der Kerl, mit dem ich telefoniert habe, steht ein paar Ränge über mir. Anscheinend ist sein Mann körperlich fit und dürfte keine Probleme haben mitzuhalten. Startet regelmäßig bei Triathlons. Es gab also keinen plausiblen Grund, ihn abzulehnen.«

Die vierköpfige Gruppe stand einen Moment lang schweigend da.

Als Erstes fand Jim die Sprache wieder. »Du weißt, dass es hier nicht nur um körperliche Fitness geht, Collins. Das kann ein mentaler Alptraum werden. Besonders, wenn uns am Absturzort hässliche Dinge erwarten. Und du meinst wirklich, ich soll mit einem ahnungslosen Neuling in diesem Mistwetter ein Flugzeugwrack mit einem verurteilten Verbrecher, vielleicht sogar einem Mörder an Bord suchen?«

Bei dem Wort Verbrecher fing Brynn einen Blick von Ryan auf. Er grinste erwartungsvoll. Adrenalinjunkie. Sie kniff streng die Augen zusammen, aber er zwinkerte ihr mit seinen Götterwimpern zu. Ein solches Gesicht würden sich Highschool-Mädchen als Poster an die Wand hängen. Erwachsene Frauen auch.

»Marshals sind keine Weicheier. Ich glaube, er wird da draußen ganz gut zurechtkommen. Außerdem saßen zwei gute Piloten und mindestens ein Agent in dem Flugzeug. Sie verdienen, dass wir unser Bestes geben.« Collins bemerkte Ryans Grinsen. »Und keine Heldentaten. Wahrscheinlich wirst du sowieso enttäuscht sein.«

Was im Klartext hieß: Ein Flugzeugabsturz in den Kaskaden bedeutete den sicheren Tod.

»Ich halte diesen Trip für eine gigantische Zeitverschwendung«, sagte Thomas ungerührt. »Einen Absturz überlebt dort draußen niemand. Und vermutlich finden wir die Maschine auch erst mit Unterstützung aus der Luft. Wir werden uns bald vorkommen, als würden wir in der Arktis im Kreis laufen.«

»Kein Problem. Setz dich einfach auf deinen breiten Hintern«, sagte Brynn scharf. Sie warf ihm einen düsteren Blick zu. »Ich habe jedenfalls nicht vor, Däumchen zu drehen, solange die Möglichkeit besteht, dass es dort draußen Verletzte gibt, deren Überleben vielleicht von meiner Hilfe abhängt. So bin ich nun mal programmiert. Wenn die Chance besteht zu helfen, dann marschiere ich verdammt noch mal auch los. Und ob es sich um einen Verbrecher oder um deine Großmutter handelt, interessiert mich erst mal nicht. Für mich macht das keinen Unterschied.«

Das einzige Geräusch auf der Lichtung war das Geprassel der Regentropfen auf ihren Outdoor-Jacken. Thomas sah zu Boden. Seine Stiefel scharrten im Schlamm.

In einem freundlicheren Ton, aber genauso drängend sprach Brynn weiter. »Genaueres wissen wir sowieso erst, wenn wir dort sind. Wir müssen es versuchen. Der Marshal im Flugzeug und die beiden Piloten könnten noch am Leben sein.« Die Männer nickten. Auf ihre Mienen trat Entschlossenheit.

Jim sah Collins an. »Und wo ist er jetzt, dein Fed?«

Alex Kinton trat auf die Bremse seines Geländewagens. Er suchte sich zum Parken die kleinste Pfütze aus, blieb dann noch einen Augenblick sitzen und betrachtete die trostlose Szenerie. Nass, nebelig, kalt und nass. Ein eng zusammenstehender Kreis aus roten Parkas drehte sich geschlossen zu ihm um. Selbst aus fast zwanzig Metern Entfernung sah und spürte er die Ablehnung, die ihm entgegenschlug.

Er war hier nicht willkommen.

Das nahm er niemandem übel, und es war ihm egal.

Auf ihn wartete ein Flugzeugwrack.

Alex zwang sich, die Tür zu öffnen und in die bitterkalte Märzluft hinauszutreten. Verdammt. Was für ein Mistwetter. Aber jetzt gab es kein Zurück mehr. Fahrig strich er sich durchs Haar, zerrte sich die Kapuze über den Kopf und spürte, wie ihm eine Gänsehaut über die Arme lief.

Während Alex durch Matsch und Schlamm stiefelte, löste sich einer der roten Parkas aus dem Kreis. Die kalte Feuchtigkeit, die Alex in die Lunge stach, nahm ihm fast den Atem. Es roch nach Schnee. Dieser frische, eisige Hauch bedeutete immer, dass bald Tonnen von dem weißen Zeug zur Erde rieseln würden. Die Temperatur musste um den Gefrierpunkt liegen. Unwillkürlich überlief ihn ein Schauer - von den Haarwurzeln bis zu den Zehen. Er hoffte nur, dass die anderen es nicht bemerkt hatten. Warum war das Flugzeug nicht im August abgestürzt? Dann hätte er in Shorts losziehen können.

Der Mann in dem Parka kam auf ihn zu und streckte ihm die Hand hin. Doch seine braunen Augen sahen ihn zweifelnd an. Der dunkle Typ musste in den Fünfzigern sein und strahlte die natürliche Autorität eines geborenen Anführers aus.

»Alex Kinton?« Alex nickte.

»Sie müssen Collins sein. Mein Boss sagte, Sie hätten einen Rucksack und einen Satz Ausrüstung für mich.«

Collins’ Kinn zuckte angesichts des knappen Tons, und Alex sah ihm fest in die Augen. Er hatte weder die Zeit noch die Geduld für belanglosen Smalltalk. Überraschend erinnerte ihn in diesem Moment ein Magenkrampf daran, dass er nicht gefrühstückt hatte. Der Schmerz im Bauch wetteiferte mit den stärker werdenden Kopfschmerzen. Er hatte weder gestern Abend noch heute Morgen seine Medikamente eingenommen. Weil er für das Flugzeug einen klaren Kopf brauchte, hatte er das kleine orangefarbene Tablettenröhrchen absichtlich im Regal stehen lassen.

Einen klaren Kopf hatte er jetzt – aber einen, der pochte.

Collins nickte bedächtig. Er musterte sein Gegenüber unverhohlen. Als wäre er zu einer Entscheidung gelangt, wurde sein Gesichtsausdruck plötzlich kühler und seine Lippen wurden schmal. »Ich hole Ihnen den Rucksack. Das Team ist abmarschbereit. Jim führt das Kommando.« Collins deutete mit dem Kopf auf die vier verbliebenen Personen und stapfte zu seinem Suburban.

Alex gestattete seinem Rückgrat, sich um einen Millimeter zu entspannen. Der Sheriff hatte verstanden, was für ein Mensch vor ihm stand: Ein Soldat, der sich zum Dienst meldete. Der keine Meinung zu dem Einsatz hatte, in den er geschickt wurde, sondern einfach tat, was von ihm erwartet wurde. Geladen, gesichert, kampfbereit.

Alex drehte sich zu den anderen um und holte tief Luft. Nacheinander sah er den Männern in die Augen und überlegte, in welchem der roten Parkas Jim steckte. Uuups. Die letzte Person war eine Frau. Ihr Mund zuckte, und ihre Augen blitzten selbstbewusst. Anscheinend amüsierte sie seine Verblüffung.

Alex erstarrte. Sein Blickfeld verengte sich auf ihr Gesicht; ihre Augen weiteten sich kaum merklich. Dieser Blickkontakt ließ seine sorgfältig konstruierte Mauer aus Gleichmut zerbröseln. Einen Sekundenbruchteil lang spürte Alex die Kälte nicht. Alle Gedanken an das Flugzeug lösten sich in Luft auf, und sein Geist wurde erfrischend klar. Sie biss sich auf die Lippe und schaute weg. Die Verbindung riss ab.

Alex’ Hirn sprang zurück zu der Aufgabe, die vor ihm lag und zu dem sumpfigen Wald.

Aufgrund ihrer Größe, des unförmigen Parkas und der Kapuze hatte sie sich von den Männern erst einmal kaum unterschieden. Der grauweiße Hund neben ihr sah ihn aus aufmerksamen blauen Augen an und wedelte freundlich mit dem Schwanz. Alex’ Blick wanderte zurück zu den Männern. Anscheinend hatten sie bemerkt, wie er die Frau angestarrt hatte. Im Blick der Männer lag Feindseligkeit. Alex’ Körper spannte sich.

Wenigstens der Hund schien nichts gegen ihn zu haben.

»Alex Kinton.« Er nickte steif und unterdrückte den Impuls zu salutieren.

Alle rasselten ihre Namen herunter. Der ungewöhnliche Name der Frau ließ Alex aufhorchen. Brynn. Anders. Jetzt blickten ihre warmen braunen Augen neugierig. Mit einem kaum sichtbaren Lächeln beugte sie sich zu dem Hund und streichelte ihn. Blondes Haar lugte unter ihrer Kapuze hervor. Die klaren Züge und der lange, elegante Hals erinnerten ihn an eine Balletttänzerin. Konnte sie bei einem Marsch mit den Männern mithalten? Collins hatte sich lange gesträubt und tausend Gründe angeführt, warum er Alex nicht im Vorauskommando haben wollte. Er behauptete, die meisten Leute seien den körperlichen und mentalen Strapazen nicht gewachsen.

Jim war der kleinste unter den Männern. Er musterte Alex mit einem erfahrenen, eindringlichen Blick - von den nagelneuen Wanderstiefeln bis zur Kapuze der Columbia-Sportswear-Titanium-Jacke. Alex hatte direkt vor dem Aussteigen aus seinem Wagen noch kurz das Etikett abgerissen.

Jetzt sprach sein neuer Boss. »Im Team sprechen wir uns alle beim Vornamen an. Also, Alex: Was trägst du unter der Regenhose?«

Alex presste die Lippen zusammen. War das ein Verhör?

»Kleider.«

Jim stand mit einem Schritt fast Nase an Nase mit ihm. »Wir sind unterwegs in eine knochenkalte, verdammt nasse Gegend. Wenn du müde oder gereizt wirst, weil du mit der Kälte und der Nässe nicht klarkommst und weil du die falschen Sachen anhast, wird mein Team keinen Schritt langsamer gehen, und ich werde dich nicht bemuttern.« Jims blaue Augen blitzten angriffslustig.

Deutliche Worte.

»Funktionsunterwäsche, Kampfanzug. Zwei Paar Socken. Keine Baumwolle. Meine Stiefel sind wasserdicht und die verdammten Handschuhe waren teurer als diese Platinum-Jacke.« Alex hob eine marineblau behandschuhte Hand. Er konnte noch immer nicht fassen, was er dafür bezahlt hatte. »Entweder ich bin für dieses scheußliche Gebirgswetter perfekt gerüstet oder der Verkäufer in dem Outdoor-Laden hat mich schon von Weitem kommen sehen und heute eine Kommission eingesackt, die für einen Flachbildfernseher reicht.« Er sprach direkt mit Jim, sah ihm dabei fest in die Augen und bemühte sich um einen lockeren, aber respektvollen Ton. Er hatte einen Fehler gemacht. Einen Teamleiter wie Jim wollte man nicht zum Feind haben.

»Gut.« Jim wich schnaubend zwei Schritte zurück, musterte Alex aber immer noch misstrauisch. Offenbar passte ihm der Fremde im Team überhaupt nicht.

»Titanium«, stellte Brynn fest.

Alex sah sie an. »Wie bitte?«

»Deine Jacke heißt Titanium, nicht Platinum.« Ihr Mundwinkel zuckte nach oben, und ihre Augen lachten.

»Dem Preis nach sollte sie aber aus Platin sein. Was ich heute Morgen für diese Klamotten ausgegeben habe, ist für viele Leute ein Monatslohn.« Die lebhaften dunklen Augen der Frau blitzten bei seiner Antwort. Sie war nicht auf konventionelle Art schön. Ihr Mund war zu breit und das Kinn ein wenig zu stur. Sie sah eher interessant aus. Dennoch gab es sicher viele Männer, die sie unwillkürlich anstarren mussten. Männer wie ihn.

Einer aus dem Team hustete. Ein schlecht überspieltes Lachen. Ryan vielleicht. Alex musterte die Kerle kühl. Ihm war klar, dass er gerade zum zweiten Mal dabei ertappt worden war, wie er länger hingeschaut hatte, als höflich war.

Ryan biss sich in dem halbherzigen Bestreben, ein Grinsen zu unterdrücken, in die Innenseite der Wange. Mit dem sonnengebleichten blonden Haar, das ihm lässig in die Stirn fiel, erinnerte er Alex an einen Surfer. Ryan sah aus, als gehörte er in eine nasse Umgebung einer ganz anderen Art. Jim hatte Führungsqualitäten und scharfe, durchdringende Augen, die versprachen, Alex genau zu beobachten. Der dritte Mann hatte bislang schweigend und mit ausdrucksloser Miene dabeigestanden. Sein schwarzes Haar und der dunkle Teint ließen auf indianische Wurzeln schließen. Thomas war der Größte und Kräftigste in der Gruppe, und Alex spürte, wie sich seine Halsmuskeln unter dem Blick aus den tiefliegenden Augen des Mannes anspannten.

Einer, vor dem man sich in Acht nehmen musste.

Brynn lachte immer noch stumm über ihn. Außer dem wedelnden Hundeschwanz waren ihre braunen Augen das einzig Fröhliche an diesem trostlosen Ort. Fast sonnig, fand Alex. Wenn man braune Augen sonnig nennen konnte. Bei ihrem Anblick durchrieselte Wärme seine Brust.

»Hier.« Collins kam mit einem schweren Rucksack zurück und warf ihn fast in Alex’ Arme. Überrascht griff er zu. »Das ist meine eigene Zweiundsiebzigstunden-Ausrüstung«, sagte der Sheriff. Er sah an Alex hinauf. »Die Kleider zum Wechseln sollten Ihnen passen. Haben Sie ein Handy?«

»Ja.«

»GPS?«

»Ähm … ja. Im Telefon.« Alex hatte keine Ahnung, wie man das Ding benutzte.

Einige Teammitglieder schnaubten. Collins presste die Lippen aufeinander. »Es geht nicht darum, den Weg zu einer Party in der Innenstadt zu finden. Dieses Teil wird Ihnen hier draußen nicht viel nützen. Ich spreche von einem GPS mit Höhenmesser und den US-Geological-Survey-Karten.«

Alex hob das Kinn. »So was habe ich nicht.« Er hatte beinahe das Gefühl, mit heruntergelassenen Hosen erwischt worden zu sein.

»Wahrscheinlich ist das auch nicht so wichtig. Alle anderen haben ja eins.« Fünf Sekunden lang stand der Sheriff reglos da, sein Blick schien sich in Alex’ Gedanken bohren zu wollen. »Ihr Boss wollte mir über das Flugzeug nicht viel sagen. Ich weiß, dass es sich um eine Piper Cheyenne handelt.«

Alex konzentrierte sich darauf, ruhig zu atmen. Seine Hände ballten sich zu Fäusten, aber von ihm würde der Sheriff nichts weiter erfahren. »Sind wir abmarschbereit?« Er musste so schnell wie möglich zu der Maschine. Weg von diesem Mann, der ihn mit den Augen eines Hellsehers musterte, in die entlegensten Ecken seines Hirns vordrang und ihn für unzulänglich befand.

Collins nickte kühl. »Jim wird Ihnen alles erklären.« Neugier stahl sich auf seine Züge. »Verdammt, Sie kommen mir irgendwie bekannt vor. Aber Ihr Name sagt mir nichts.«

»Ich habe ein Allerweltsgesicht.« Alex wandte sich ab und sah Jim mit einer hochgezogenen Braue an. »Von mir aus kann’s losgehen.«

Thomas und Ryan stapften bereits einen Pfad entlang, der kaum mehr war als eine schlammige Gehspur. Jim forderte Alex mit einer knappen Geste auf voranzugehen, ließ Brynn auch noch vorbei und ging dann als Letzter.

»Kiana, ab«, sagte Brynn. Ihr Hund schoss an Alex vorbei und verschwand zwischen den Bäumen.

Alex schnaubte. Er wünschte sich, der Regen würde ihm so wenig aufs Gemüt schlagen wie dem Hund. Ihm machten Wanderungen in unwegsamem Gelände in etwa so viel Freude wie eine Prostatauntersuchung. Und Wanderungen in unwegsamem Gelände bei Regen mied er wie der Teufel das Weihwasser. Aber jetzt war er hier und hatte sich viel vorgenommen. Schwerfällig stapfte er in den neuen Stiefeln drauflos und spritzte Wasser auf seine Regenhose. Er sah zu, wie die Rinnsale an der wasserdichten Oberfläche abliefen. Eine Zeitlang würde er das bisschen Regen schon ertragen. Vielleicht würde alles gar nicht so schlimm werden.

Er warf einen Blick über die Schulter auf die Frau, die hinter ihm hermarschierte, und fragte sie: »Hat Collins grade von einer Zweiundsiebzigstunden-Ausrüstung gesprochen? Was heißt das?«

»Das heißt, der Inhalt deines Rucksacks reicht für drei Tage.«

»Drei Tage?« Alex stolperte über ein unsichtbares Hindernis, und das Lachen der Frau brach sich an den turmhohen Tannen.

»Wir sind hier nicht in einer Fernsehshow. Dachtest du, wir finden das Flugzeug vor der ersten Werbepause?«

Er wünschte sich, er hätte die Tabletten eingepackt.