NEUNUNDZWANZIG

Sam klopfte an die Tür des Doppeltrailers. Dabei lächelte sie Michael aufmunternd an. Sein Bauch kribbelte. Er war gespannt, wer die Tür aufmachen würde. Situationen wie diese brachten sein Reporterblut in Wallung. Dasselbe galt für die Frau an seiner Seite. Dass sie so draufgängerisch war, gefiel ihm. Sam klopfte noch einmal an. Diesmal mit einem Stirnrunzeln.

»Es muss jemand da sein. Es ist immer jemand da.«

Er merkte, dass sie ihn aus dem Augenwinkel musterte.

Während sie warteten, trommelte sie ungeduldig mit der Stiefelspitze auf den Boden. Michael hörte Geräusche im Trailer, dann öffnete jemand die Tür.

»Hey, Sam.« Der Gruß kam von einem schlaksigen Teenager, der gerade das kritische Alter erreicht hatte, in dem das Längenwachstum dominierte.

»Hi Bruce. Ist deine Mom da?«

Der Junge machte die Tür ganz auf. Er streifte Michael mit einem gleichgültigen Blick. »Nein. Sie ist in der Stadt.«

Michael und Sam zwängten sich durch den schmalen Durchgang.

»Und wer passt auf die Kleinen auf?«

»Lila. Dort drüben.« Er zeigte auf einen kleineren Trailer auf der anderen Seite der Freifläche.

Sam machte auf dem Absatz kehrt und schob Michael gleich wieder aus der Tür. Er stolperte einen halben Schritt rückwärts und verlor beinahe das Gleichgewicht. Ihre Augen sahen an ihm vorbei. Erstaunt bemerkte er darin so etwas wie … ein Aufglimmen von Angst? Unmöglich. Nicht bei ihr. Ohne auf ihn zu warten, hastete sie die Treppe hinunter.

Bruce rief hinter ihr her: »Hey, Sam. Dad wollte, dass du bei deinem nächsten Besuch zum Essen bleibst.«

»Aber heute nicht«, antwortete sie über die Schulter hinweg. Inzwischen rannte sie beinahe.

Michael holte sie ein, packte sie am Arm und zwang sie, stehenzubleiben. Dann rückte er mit dem Gesicht ganz nahe an sie heran. »Hey! Was sollte das denn eben?«

»Was meinen Sie?«

Er musterte sie eingehend. Sie starrte unverwandt zurück. Doch dann weiteten sich ihre Pupillen ein klein wenig und sie schüttelte seine Hand von ihrem Arm.

»Ich meine, warum haben Sie mich fast über den Haufen gerannt, um aus dem Haus zu kommen? Und warum haben Sie fast angefangen zu rennen, als der Junge das mit der Essenseinladung gesagt hat?«

»Ich bin nicht gerannt.« Sie drehte den Kopf weg.

Michael lächelte grimmig. »Ihnen mag das nicht so vorkommen. Aber Menschen, die sich in normalem Tempo bewegen, würden von Rennen sprechen.«

Sam starrte ihn an und hob trotzig das Kinn. Wie ein kleines Kind, das einem Schulhofrabauken die Stirn bot. »Ich fühle mich hier nicht wohl. Ich bin nicht gern in den Trailern.«

Michael wich ein kleines Stück zurück und ließ ihre Worte auf sich wirken. Auch er fand die drangvolle Enge in diesen Behausungen alles andere als einladend. Aber er wusste, dass es für Sams fluchtartigen Rückzug noch einen anderen Grund geben musste, den sie ihm allerdings nicht verraten wollte. Er wechselte das Thema. »Wer ist Lila?«

Sams Anspannung legte sich. Mit einer Kopfbewegung schüttelte sie sich ein paar lästige Ponyfransen aus den Augen. »Ich glaube, sie ist die Frau, nach der Sie suchen. Schon ein bisschen älter.«

»Linda. Lila. Vermutlich hat sie ihren Namen geändert. Das täte ich auch, wenn meine Söhne Serienkiller wären.«

»Söhne?« Die schwarzen Brauen schossen in die Höhe.

Verplappert. Verdammt. Er hatte ihr erzählt, er würde nach dem zweiten Sohn und der Mutter suchen, dabei aber nicht erwähnt, dass die Polizei den zweiten Sohn ebenfalls verdächtigte. Sein Atem dampfte in der Schneeluft. Wie viel sollte er ihr sagen?

Michael entschied sich für die Flucht nach vorn. »Laut Polizei könnte es vielleicht sein, dass ihr jüngerer Sohn gerade mordend durch Portland zieht. Es sind Leute getötet worden, die dazu beigetragen haben, seinen Bruder in den Knast zu bringen. Deshalb möchte ich mit der Mutter reden.« Würde Sam sich nun weigern, ihm weiterhin zu helfen?

Sie musterte ihn skeptisch. »Klingt nach einer persönlichen Mission.«

Er richtete sich auf. Merkte man ihm tatsächlich an, wie ungeheuer wichtig ihm die Sache war? Er nickte kurz. »Schon möglich.«

»Dann sehen wir doch mal nach.« Sie stapfte die wackelige Treppe des kleineren Trailers hinauf und klopfte energisch an die Tür. Ein scharfer Wind blies um die Ecken. Sam vergrub Kinn und Nase im Jackenkragen. Michael stand zwei Schritte hinter ihr und stampfte lächelnd den Schnee von seinen Stiefeln. Anscheinend hatte er sich für seine Mission die passende Partnerin ausgesucht.

Eine ältere Frau in einem verwaschenen Hauskleid mit Blumen-muster öffnete die Tür einen Spalt breit und sah Sam mit müden Augen an. Zur Begrüßung nickte sie nur stumm. Dann wartete sie darauf, dass Sam erklärte, warum sie gekommen war. Michael musterte die Frau. Sam sah ihn mit einer hochgezogenen Augenbraue an. Sie fragte ihn damit wortlos, ob dies die Person war, die er suchte.

Sie war älter und wirkte unendlich müde. Doch sie ähnelte der Frau, die er auf den Archivbildern vom DeCosta-Prozess gesehen hatte. Sein Gefühl sagte ihm, dass er hier richtig war.

Er nickte.

»Lila, das hier ist Michael. Er hilft mir heute. Können wir einem Moment reinkommen?«

Die Frau warf einen gleichgültigen Blick auf Michael. »Es ist niemand da.«

»Ich glaube, Sie können uns weiterhelfen. Es dauert nur eine Minute.« Sam gab sich wirklich Mühe.

Nach kurzem Zögern machte Lila die Tür ein Stück weiter auf.

Sie sah aus, als zwänge das Leben sie, täglich einen Wüstenmarathon zu laufen. Der eingefallene Mund ließ darauf schließen, dass ihr die Zähne fehlten. Davon hatte Detective Callahan mehrfach gesprochen. Hatte sie ihren Namen geändert?

Michael folgte Sam in den Trailer. Der stechende Geruch schmutziger Windeln schlug ihm entgegen. Es war viel zu heiß hier drin. Zu heiß, zu eng, und es stank. Michael wurde fast übel. Als er den sauren Klumpen hinunterschluckte, der sich in seiner Kehle bildete, sah er Sam dasselbe tun.

Er musste die Sache hier schnell erledigen.

Lila ging voraus in die Küche, doch es gab keinen Platz zum Sitzen. Auf jeden einzelnen Stuhl am Tisch war ein Kindersitz montiert; auf der Tischfläche standen zahlreiche benutzte Cornflakes-Schalen. An einer Seite des Tisches standen drei klapprige alte Hochstühle. Die Frau lehnte sich gegen den Herd und sah Sam erwartungsvoll an. Michael würdigte sie keines Blickes.

Aus einem angrenzenden Raum drang die Titelmusik einer Daily Soap zu ihnen. Falls Kinder im Trailer waren, verhielten sie sich ungewöhnlich still. Vielleicht schliefen sie gerade.

Sam richtete ihre blauen Augen fragend auf Michael.

Er beschloss, es auf die direkte Art zu versuchen, und gab Lila seine Visitenkarte. Beim Lesen der Karte weiteten sich ihre Augen. Und Michael hätte schwören können, dass ihre gefängnisfahle Haut noch eine Spur blasser wurde.

»Ich bin aus Portland und schreibe für den The Oregonian.« Nach einer kurzen Pause setzte er hinzu: »Vielleicht ahnen Sie, warum ich hier bin.«

Lila schüttelte den Kopf und hielt ihm die Karte wieder hin. Er ignorierte die Geste.

»Sie sind Linda DeCosta. Stimmt doch?«

Die Frau zuckte die Schultern.

»Ich habe ein paar Fragen zu Ihrem Sohn.«

»Dave ist tot.« Weil sie keine Zähne hatte, waren die Worte nicht ganz einfach zu verstehen.

»Zu Ihrem anderen Sohn.«

Ihre Lippen wurden zu einem schmalen Strich, wodurch ihr Gesicht noch weiter schrumpfte. »Was soll mit ihm sein?«

»Wo ist er?«

Die Frau studierte die Visitenkarte. Sie mied weiterhin Michaels Blick.

»Wann haben Sie zum letzten Mal von ihm gehört?«

Diesmal bekam er nicht einmal ein Schulterzucken zur Antwort. Er versuchte, sich den Ärger, der in ihm aufloderte, nicht anmerken zu lassen.

»Hören Sie. Unschuldige Menschen sterben und Ihr Sohn ist einer der Verdächtigen. Die Polizei will ihn befragen, kann ihn aber nicht finden. Welchen Namen benutzt er?« Michaels Stimme klang zu laut.

»Ich weiß nicht, wovon Sie reden.«

Michael fand, sie sah mürrisch aus. Verdammt! Er atmete tief durch. Dabei strafften sich seine Schultern und seine Brust weitete sich. Er suchte nach den richtigen Worten, um sie aus der Reserve zu locken.

Aber Lila duckte sich, wich ängstlich zwei Schritte zurück und hob schützend den Arm vors Gesicht.

Michael fiel die Kinnlade herunter. Sein Ärger verpuffte. »Grundgütiger. Ich würde Sie doch niemals schlagen!« Was für ein Leben führte diese Frau?

Sam berührte ihn an der Hand. »Lassen Sie mich mit ihr reden.« Sie wirkte ruhig und sicher. »Vielleicht warten Sie am besten draußen.«

Michael bewunderte Sams demonstrative Gelassenheit. Sie glaubte tatsächlich, dass sie die Frau zum Reden bringen konnte. Lila machte nun einen sehr beklommenen Eindruck. Ihre Hände zitterten. Wortlos verließ Michael den Raum.

Draußen vor dem Trailer sog er die saubere Luft tief in seine Lunge. Den Gestank bekam er damit nicht aus der Nase.

Der Mann fixierte den Computerbildschirm und ballte die Fäuste. Mist! Wo war sie?

Vielleicht kam er ja durch logisches Kombinieren darauf, wohin Lacey Campbell verschwunden war. Er schloss die Augen und drückte die Handballen dagegen. Konzentration! Das letzte Mal hatte er sie zusammen mit Harper gesehen. Und der kauzige alte Nachbar hatte behauptet, Harper hätte die Nacht bei ihr verbracht. War sie vielleicht immer noch mit Harper zusammen? Zwischen den beiden lief etwas. Seine Kiefermuskeln spannten sich. Das war nicht in Ordnung, aber im Augenblick tat das nichts zur Sache. Er musste wieder auf den richtigen Kurs zurückfinden und herausbekommen, wo sie war.

Wohin konnte dieser Dreckskerl sie bringen?

Er verfluchte seine mangelnde Weitsicht. Warum hatte er nur an Laceys Truck einen GPS-Tracker angebracht und nicht auch an Harpers? Sie konnten in jedem Hotel im Staat sein. Oder in einem Flugzeug sitzen.

So war das alles nicht gedacht gewesen.

Ein saurer Geruch umwehte ihn. Es roch nach sorgfältig eingefädelten Plänen, die in ihre Einzelteile zerfielen. Die Sache lief immer mehr aus dem Ruder. Dazu gehörte auch der Zeitungsbericht über die vermisste Frau. Er biss sich auf die Innenseite der Wange, bis er den metallischen Geschmack von Blut auf der Zunge hatte. Mit Kelly Cates hatte er nichts zu tun. Es musste noch jemand anderen geben. Aber wen?

Vielleicht verbreitete die Polizei ja irgendwelche Fehlinformationen, um ihn zu verwirren. Er stieß sich vom Schreibtisch ab und drehte sich so, dass er auf die kahle Wand starren konnte. Oder aber die Cates-Familie war der Köder in einer perfiden Falle, die die Polizei ihm stellte. Aber bei den Cates hatte er sich sorgfältig umgesehen. Der Mann war völlig aufgelöst, die Tochter hatte verweinte Augen. Außer ihnen schien niemand im Haus zu sein und ihre Verzweiflung wirkte echt. Würde die Polizei tatsächlich ein unschuldiges Kind benutzen, um ihn aus der Reserve zu locken?

Einen Moment lang wurde er zornig.

Dann zwang er sich zur Ruhe, atmete tief und regelmäßig. Über Cates und ihre Tochter konnte er sich im Moment keine Gedanken machen. Erst musste er Lacey Campbell finden. Er drehte sich wieder zum Computer zurück, ließ die Fingerknöchel knacken und begann dann die Suche nach Immobilien im Besitz von Jack Harper und Harper Immobilien.

Die Liste war unsäglich lang. Er überflog den Bildschirm. Wonach suchte er eigentlich? Erwartete er, dass irgendwo ein roter Wimpel erschien? Hier ist sie! Da versteckt sie sich gerade! Er schnaubte angewidert. Dann zwang er sich, die Einträge genau zu lesen.

Jack Harper besaß drei private Häuser in drei verschiedenen Countys in Oregon. Eine Adresse lag sogar in Mount Junction. Der Mann hob die Augenbrauen. Was für ein Zufall.

Ihm fehlte die Zeit, zu allen drei Orten zu fahren. Aber die Chance, dass Lacey sich in einem der Häuser aufhielt, war sowieso verschwindend gering. Er hatte das Gefühl, nach Strohhalmen zu greifen. Die Frustration wurde langsam unerträglich. Er sprang auf und stapfte in die Küche, nahm sich eine Cola light aus dem Kühlschrank und knallte die Tür zu. Wo zur Hölle sollte er nach Harper suchen?

Vielleicht konnte er den Spieß ja umdrehen.

Die Plastikflasche schwebte drei Zentimeter vor seinen Lippen, während sein Gehirn sich auf den Gedanken stürzte und ihn festhielt.

Er musste Harper dazu bringen, nach ihm zu suchen.

Aus Angst, die Idee könnte ihm entgleiten, wenn er auch nur einen Muskel bewegte, stand er wie erstarrt. Wie konnte er Harper dazu bewegen, Jagd auf ihn zu machen? Plötzlich nahmen seine Gedanken Fahrt auf. Auf Anhieb fielen ihm mehrere Möglichkeiten ein.

Scheiße, ja! Er nahm einen kräftigen Schluck und genoss das Prickeln in seiner Kehle. Dann wischte er sich den Mund mit einer Serviette ab.

Er hatte wieder alles unter Kontrolle.