EINS

Lacey Campbell starrte auf das große Zelt. An ein heruntergekommenes Mehrfamilienhaus angebaut stand es am Rand einer nebelverhangenen, verschneiten Fläche. Sie saugte die eisige Winterluft tief ein und spürte, wie ihre Entschlossenheit wuchs.

Dort drüben. Da ist die Leiche.

Lacey achtete sorgsam darauf, wohin sie auf dem Weg zur Fundstelle die Füße setzte. Ihr Magen rebellierte. Sie zog sich die Wollmütze tiefer ins Gesicht, vergrub das Kinn in ihrem Schal und bahnte sich einen Weg durch das Schneetreiben. Heftig blinzelte sie gegen die Schneeflocken an. Die weiße Pracht war etwas Wunderbares – solang man nicht mittendrin arbeiten musste. Im Augenblick versank der gesamte Einsatzort unter fünfzehn Zentimetern Neuschnee. Fürs Skifahren, Rodeln und für Schneeballschlachten war das Wetter ideal.

Aber nicht, um irgendwo in einem Zelt in einem Kaff in Oregon einen Knochenfund zu untersuchen.

Im unteren Teil ihres begrenzten Blickfeldes erschienen zwei derbe Stiefel. Lacey hielt so abrupt an, dass sie ausrutschte und auf den Hintern plumpste.

»Wohnen Sie hier?« Die Stimme des Cops klang rau und schroff. Von ihrer wenig eleganten Sitzposition im Schnee aus sah Lacey nur die fleischige Pranke, die er ihr hinstreckte.

Als er die Frage wiederholte, flog ihr Blick zu seinem grimmigen Gesicht. Er sah aus wie ein Fernseh-Cop zur besten Sendezeit. Massig, taff und kahlköpfig.

»Oh.« Laceys Gehirn löste sich aus dem Stand-by-Modus. Sie griff nach seiner Hand. »Nein. Ich wohne nicht hier. Ich bin …«

»Hier haben nur Bewohner Zutritt.« Mühelos zog er sie mit einer Hand vom Boden hoch. Sein strenger Blick wanderte von ihrer Ledertasche zu ihrer teuren Jacke.

»Sind Sie Reporterin? Dann kehren Sie am besten gleich wieder um. Um fünfzehn Uhr ist eine Pressekonferenz im Präsidium von Lakefield.« Der Cop war offenbar zu dem Schluss gelangt, dass sie nicht hierher gehörte. Dazu musste er kein Einstein sein: Die Gegend roch geradezu nach Essensmarken und Schecks vom Sozialamt.

Lacey wünschte sich, sie wäre größer. Mit hoch erhobenem Kinn und einer gequälten Grimasse klopfte sie sich den kalten, nassen Hosenboden ab. Wie professionell.

Dann zückte sie ihren Ausweis. »Ich bin keine Reporterin. Dr. Peres erwartet mich. Ich bin …« Sie hustete. »Ich arbeite für das gerichtsmedizinische Institut.« Wenn sie sagte, sie sei forensische Odontologin, verstand kein Mensch, wovon sie sprach. Aber unter Gerichtsmedizin konnte sich fast jeder etwas vorstellen.

Der Cop warf einen Blick auf ihren Ausweis, dann linste er unter ihren Mützenschirm. Seine braunen Augen blickten forschend. »Sie sind Dr. Campbell? Dr. Peres wartet auf einen Dr. Campbell.«

»Ja, ich bin Dr. Campbell«, sagte sie fest und hob dabei die Nase.

Wen hast du denn erwartet? Quincy?

»Kann ich jetzt durch?« Lacey spähte um ihn herum. Vor dem großen Zelt standen ein paar Leute. Dr. Victoria Peres hatte Lacey vor drei Stunden angefordert und Lacey brannte darauf zu erfahren, was die Frau für sie hatte. Es musste etwas ziemlich Ungewöhnliches sein, sonst hätte sie Lacey nicht direkt zum Fundort bestellt, sondern die Untersuchung in einem beheizten, sterilen Labor abgewartet.

Oder hatte es Dr. Peres nur Freude bereitet, Lacey aus dem warmen Bett zu werfen und sie bei diesem scheußlichen Wetter sechzig Meilen weit fahren zu lassen, damit sie anschließend im eiskalten Schnee hocken und ein paar Zähne anstarren konnte? Ein kleines Machtspiel? Mit einem düsteren Blick trug Lacey ihren Namen in das Register ein, das der Cop ihr hinhielt. Dann schob sie sich an diesem menschlichen Felsblock vorbei.

Den Blick an das eingeschossige Wohngebäude geheftet pflügte sie sich weiter durch den Schnee. Mit dem durchhängenden Dach wirkte es, als wäre ihm die Luft ausgegangen, als wäre es zu erschöpft, um noch aufrecht zu stehen. Hier wohnten ältere Leute mit kleinen Renten und Familien mit schmalem Geldbeutel. Die Fassadenverkleidung hatte sich verzogen, die Dacheindeckung wies kahle Stellen auf. Lacey spürte ein gereiztes Kribbeln unter der Haut.

Wer besaß die Frechheit, für diesen Schutthaufen auch noch Miete zu verlangen?

Im Vorbeigehen zählte sie fünf kleine Gesichter, die sich die Nasen an einer Scheibe plattdrückten.

Sie zwang sich ein Lächeln ab und winkte mit der behandschuhten Hand.

Die Kinder blieben lieber drinnen im Warmen.

Die Alten offenbar nicht.

Kleine Gruppen grauhaariger Männer und alter Frauen mit Plastikregenhauben stapften trotz der Kälte vor dem Haus herum. Die Regenhauben sahen aus wie durchsichtige Muscheln, die sich über die silbernen Köpfe gestülpt hatten. Sie erinnerten Lacey an ihre Großmutter, die früher mit diesen billigen Plastikdingern nach dem Waschen und Legen ihre Frisur geschützt hatte. Lacey schob sich an den neugierigen runzeligen Gesichtern vorbei. Zweifellos war dies für die alten Leute der aufregendste Tag seit Jahren.

Ein Skelett im Kriechkeller unter ihrem Haus.

Der Gedanke trieb Lacey einen Schauer über den Rücken. Hatte irgendwer dort vor zwanzig Jahren eine Leiche versteckt? Oder hatte sich da unten jemand eingeklemmt und war nie vermisst worden?

Ein halbes Dutzend Streifenwagen aus Lakefield verstopfte den Parkplatz. Vermutlich der gesamte Fuhrpark der Stadt. Cops in marineblauen Uniformen standen mit dampfenden Kaffeetassen in den Händen herum. Ihre Haltung wirkte resigniert und abwartend. Laceys Augen folgten dem Dampf aus den Pappbechern. Unwillkürlich sog sie den Duft ein. Die Koffeinrezeptoren an ihren Nervenenden schrien nach Kaffee. Lacey schob die Plane am Zelteingang beiseite.

»Dr. Campbell!«

Die scharfe Stimme riss sie aus ihren Kaffeeträumen. Sie zuckte zusammen und unterdrückte den Reflex, sich nach ihrem Vater – auch einem Dr. Campbell – umzusehen. Auf der grellblauen Plane vor Laceys schneeverkrusteten Stiefeln lagen Teile eines Skeletts. Mit dem nächsten Schritt hätte sie ein Schienbein zertreten und Dr. Peres’ Blutdruck durch das Zeltdach schnellen lassen. Lacey ignorierte den versengenden Blick der Frau. Stattdessen konzentrierte sie sich auf die Knochen vor ihren Füßen. Beim Anblick dieser Herausforderung jagte ein Adrenalinstoß durch ihre Adern.

Hier lag der Grund, warum sie sich bei dieser Kälte hier herausgequält hatte: Ein Opfer musste identifiziert und seiner Familie zurückgegeben werden. Hier konnte sie ihre Fähigkeiten einsetzen, um das Rätsel um die Todesursache zu lösen und die Fragen der trauernden Angehörigen zu beantworten. Es tat gut, das zu wissen.

Der Schädel war vorhanden, dazu ein Großteil der Rippen und der längeren Knochen der Extremitäten. In einer Ecke des Zeltes siebten zwei Kriminaltechniker in Daunenjacken eimerweise Erde und Steine, suchten akribisch nach kleineren Knochen. Ein großes klaffendes Loch in der Betonwand des Kriechkellers unter dem Gebäude zeigte, wo die Überreste entdeckt worden waren.

»Treten Sie mir hier bloß nichts kaputt«, blaffte Dr. Peres.

Ich freue mich auch, Sie zu sehen.

»Morgen.« Lacey nickte in Dr. Peres’ Richtung und versuchte, ihr rasendes Herz zu beruhigen. Ihre Augen sogen sich an der unwirklichen Szene fest: Knochen, Eimer, Vollzicke.

Dr. Victoria Peres, eine forensische Anthropologin, war in Fachkreisen als eiserne Lady bekannt und ließ sich von niemandem etwas sagen. Diese eins achtzig große Inkarnation einer Amazone betrachtete jeden Einsatzort als ihr persönliches Königreich und ohne ihr Einverständnis wagte sich kein Mensch auch nur auf Blickweite an dessen Grenzen. Davon, unaufgefordert irgendetwas anzufassen, durfte man nicht einmal träumen. Egal, worum es sich handelte.

Als junges Mädchen hatte Lacey Dr. Peres sein wollen.

Vier gemeinsame Bergungseinsätze waren nötig gewesen, bis die Anthropologin Laceys Arbeit vertraut hatte. Das hieß aber noch lang nicht, dass sie Lacey jetzt auch mochte. Dr. Peres mochte niemanden.

Auf der schmalen Nase der Frau klemmte eine Brille mit schwarzem Rahmen und kleinen Gläsern. Das lange schwarze Haar war wie üblich zu einem perfekten Knoten aufgesteckt. Obwohl Dr. Peres bereits seit fünf Stunden hier arbeitete, hatte sich noch kein einziges Strähnchen daraus gelöst.

»Nett, dass Sie es noch zu unserer kleinen Feier geschafft haben.« Beim Blick auf die Uhr zog Dr. Peres eine Augenbraue hoch.

»Der Lack auf meinen Zehennägeln war noch nicht ganz trocken.«

Das scharfe Schnauben der Frau überraschte Lacey. Wow. Es war ihr gelungen, Dr. Peres zum Lachen zu bringen. Zumindest beinahe. Damit würde sie sich in Zukunft vor sämtlichen Mitarbeitern des gerichtsmedizinischen Instituts brüsten können.

»Was haben Sie denn hier?« Lacey juckte es in den Fingern. Sie wollte sich an die Lösung des Rätsels machen. Geheimnissen auf den Grund gehen zu können, war das Beste an ihrem Job.

»Weiße weibliche Person, Alter zwischen fünfzehn und fünfundzwanzig. Wir holen sie stückweise aus dem Loch in der Kriechkellerwand. Der Typ, der sie gefunden hat, steht dort drüben.« Dr. Peres zeigte durch das Plastikfenster des Zeltes auf einen weißhaarigen Mann, der mit zwei Polizisten aus dem Ort sprach. Der Mann drückte einen Dackel mit grauer Schnauze an seine eingefallene Brust. »Er ist mit seinem Hund Gassi gegangen. Dabei fiel ihm auf, dass ein paar große Betonbrocken aus der Wand gebrochen waren. Der Hund kroch in das Loch und als Opa die Hand hineinsteckte und ihn herausziehen wollte, erlebte er eine Überraschung.«

Dr. Peres zeigte auf die klaffende Lücke in der Kellerwand. »Die Leiche lag vermutlich noch nicht lang dort. Als sie abgelegt wurde, war sie bereits skelettiert.«

»Was soll das heißen?« Laceys Neugier-Ampel schaltete auf Orange. So viel zu ihrer Theorie, dass jemand sich unter dem Gebäude eingeklemmt hatte.

»Ich denke, das Loch wurde erst kürzlich in die Mauer gebrochen und das Skelett dann hineingeschoben. Wir haben es als kleinen Berg von Knochen vorgefunden. Ein verwesender Körper, der nicht bewegt wird, verwandelt sich nicht in so einen Haufen.« Dr. Peres’ Augenbrauen vereinigten sich zu einem schwarzen Schrägstrich. »Knochen werden zwar manchmal von Tieren verstreut, aber die hier sehen aus, als hätte sie jemand aus einem Sack gekippt und in das Loch geschoben.«

»Ein einzelnes Skelett?« Laceys Augen flogen zurück zu dem Schädel. Wie krank musste man sein, um ein Skelett zu verstecken. Wie krank musste man sein, um eines zu haben?

Dr. Peres nickte. »Und es scheint weitgehend komplett zu sein. Wir finden so ziemlich alles. Finger- und Zehenglieder, Mittelfußknochen, Wirbel. Aber ich verstehe nicht, warum das Skelett nicht besser versteckt wurde. Dass jemand es findet, lag auf der Hand. Wer es hierher gebracht hat, hat das Loch absichtlich offen gelassen. Die Betonbrocken lagen so herum, dass der nächstbeste Passant darüber stolpern musste.«

»Vielleicht wurde die Person ja gestört, bevor sie fertig war. Todesursache?«

»Kann ich noch nicht sagen«, antwortete Dr. Peres knapp. »Keine offensichtlichen Schläge auf den Schädel und das Zungenbein habe ich noch nicht gefunden. Aber beide Oberschenkelknochen sind an derselben Stelle gebrochen. Die Bruchstellen sehen ähnlich aus wie die Unfallverletzungen, wenn eine Person von einem Wagen gerammt wird.« Dr. Peres legte die Stirn in Falten. »In diesem Fall müsste es eine hoch sitzende Stoßstange gewesen sein. Also kein normaler PKW. Vielleicht ein Truck.«

Laceys Oberschenkel fingen an zu kribbeln. »War die Person dabei noch am Leben?«

»Die Brüche sind post mortem verursacht worden. Oder ganz kurz vor dem Tod. Es gibt keinerlei Anzeichen für einen beginnenden Heilungsprozess.« Dr. Peres’ Ton war brüsk, doch sie beugte sich vor und zeigte auf einige keilförmige Bruchstellen an den Oberschenkelknochen.

Laceys Blick sog sich daran fest. Sie stopfte die Fausthandschuhe in ihre Tasche, ging auf die Knie und zog sich mechanisch lilafarbene Gummihandschuhe aus einer Schachtel neben dem Schädel über. Die dünnen Handschuhe fühlten sich an wie eine zweite Haut.

»Jemand hat sie überfahren und die Leiche versteckt«, murmelte Lacey und handelte sich damit einen abfälligen Blick von Dr. Peres ein. Lacey wusste, wie sehr die Frau jede Art von Spekulation über die Todesursache vor Abschluss einer Untersuchung verabscheute. Über Victoria Peres’ Lippen kamen stets nur belegbare Fakten.

Lacey ärgerte sich über sich selbst. Sie stand auf und klopfte sich verlegen die Knie ab. Sie hatte sich zu weit vorgewagt. Das Wer, Was, Wo, Wann, Warum und Wie rauszukriegen, gehört nicht zu meiner Jobbeschreibung. Sie war angefordert worden, um sich mit einem winzigen Detail zu befassen – den Zähnen.

Einer der Techniker am Sieb stieß einen Jubelschrei aus und legte eine Kniescheibe zu dem größer werdenden Häufchen winziger Knochen. Dr. Peres nahm sie zwischen die Finger, warf einen kurzen Blick darauf, drehte sie und erklärte sie zu einem Teil der Knochen des linken Beines auf der Plane.

»Sie wirkt so klein.« Zu klein. Die Tote sah aus wie ein Kind.

»Sie ist klein. So um die eins fünfzig. Aber es handelt sich um eine ausgewachsene Frau. Das sagen mir ihre Hüften und die Wachstumsfugen.« Dr. Peres hob eine schwarze Braue. »Auch die Zähne deuten darauf hin. Aber dafür sind Sie zuständig.«

»Wie es ist, so klein zu sein, kann ich nachfühlen.« Unbewusst verlagerte Lacey ihr Gewicht auf die Zehenspitzen und drückte den Rücken durch. Wenn sie neben der hochgewachsenen Victoria Peres stand, musste sie beim Sprechen fast den Kopf in den Nacken legen. »Können Sie schon sagen, wie lang die Frau bereits tot ist?«

Dr. Peres schüttelte den Kopf und wandte sich wieder den Knochen zu.

»Es gibt keine Kleidungsstücke, die uns irgendwie weiterhelfen könnten. Außer den Knochen haben wir nur blonde Haarsträhnen und ich möchte keine Vermutungen anstellen. Nach der Laboruntersuchung weiß ich sicher mehr.«

»Mein Vater sagte, Sie hätten ungewöhnliche zahntechnische Arbeiten gefunden.«

Dr. Peres’ Miene hellte sich etwas auf. »Vielleicht können wir damit einen Zeitrahmen festlegen. Die Dinger ließen sich herausnehmen. Ich habe sie bereits eingetütet.« Sie ging zu einem Kunststoffkoffer und fing an, die Plastikbeutel mit den Beweisstücken durchzusehen.

Laceys Schultern entspannten sich ein wenig. Victoria Peres gehörte nicht zu den Leuten, die gleich »Vetternwirtschaft« raunten, wenn es um Laceys Job ging. Vielleicht wusste die Anthropologin, dass es die Arbeit nicht gerade leichter machte, wenn man die Tochter des obersten Gerichtsmediziners des Staates war. Die Tochter des Chefs.

Lacey kniff die Lippen zusammen. Jeder, der schon einmal mit ihr zusammengearbeitet hatte, wusste, dass sie gut war. Sehr gut sogar.

»Das ist ein Stein, kein Knochen.« Einer der Techniker beäugte einen elfenbeinfarbenen kleinen Brocken in der ausgestreckten Hand seines Kollegen.

»Quatsch. Das muss ein Knochen sein«, widersprach der Mann.

Lacey nahm an, dass Dr. Peres den Disput klären würde, doch die war noch immer mit dem Aufbewahrungskoffer beschäftigt. Neugierig stieg Lacey über das kleine Skelett hinweg und streckte die Hand aus.

»Darf ich mal sehen?«

Zwei erstaunte Gesichter wandten sich ihr zu. Lacey hielt den Blicken stand und versuchte auszusehen wie eine kompetente forensische Expertin. Die Männer waren jung, einer dunkelhaarig, einer blond. Beide hatten sich eingemummt wie für eine Polarexpedition. Vermutlich College-Studenten, die bei Dr. Peres ein Praktikum machten.

»Klar.« Mit einer Geste, als würde er Lacey den Hope-Diamanten überreichen, gab der dunkelhaarige Techniker ihr das schmale, etwa zwei Zentimeter große Stück. Er warf einen raschen Blick auf Dr. Peres’ Rücken.

Lacey begutachtete das kleine Ding in ihrer Hand. Sie verstand, warum die Männer sich uneins waren, denn sie konnte auch nicht mit Sicherheit sagen, ob es sich um einen Knochen handelte. Kurz entschlossen führte sie es zum Mund und berührte es vorsichtig mit der Zunge. Es fühlte sich glatt an.

»Igitt!«

»Was zum Teufel …!« Beide Männer zuckten zurück und starrten Lacey schockiert an.

Lacey unterdrückte ein Lächeln und gab ihnen den kleinen Brocken zurück. »Das ist ein Stein.«

Ein Knochenstück wäre wegen seiner Poren an ihrer Zunge hängengeblieben. Diesen kleinen Trick hatte sie von ihrem Vater gelernt.

»Sie hat recht«, sagte Dr. Peres’ Stimme direkt neben ihr. Lacey zuckte zusammen und fuhr herum. Die Ärztin sah die Männer über die Schulter hinweg an. »Diese beiden zu erschrecken, ist mir selbst bislang noch nicht gelungen. Vermutlich sollte ich öfter mal an einem Skelett nagen.« Sie musterte Lacey mit schmalen Augen. »Machen Sie das nicht noch mal.«

Bei ihrem Ruf als knallharte Lady hatte Dr. Peres es gar nicht nötig, zusätzlich mit den Zähnen Knochen zu knacken.

»Ich suche immer noch den Zahnersatz, den ich gleich heute Morgen eingetütet habe. Während ich im anderen Koffer nachsehe, könnten Sie sich ja mal die Zähne anschauen.«

Lacey nickte und ging neben dem zarten Skelett auf die Knie. Die Plane raschelte laut. Beim Anblick der armseligen Überreste rieselte ein Gefühl stiller Trauer durch ihre Brust.

Was ist mit dir passiert?

Der Schädel starrte stumm ins Nichts.

Laceys Herz zog sich vor Mitgefühl schmerzhaft zusammen. Diese komplett hilflose tote Frau weckte ihren Beschützerinstinkt.

Ob Distanzschüsse beim Fußball oder verwundete Tiere – Lacey schlug sich stets auf die Seite der Schwächsten. Das galt auch für ihren Job: Jedes einzelne Opfer entfachte ihre volle Einsatzbereitschaft.

Aber diese Bergung berührte sie noch tiefer als sonst. Lag es an der Eiseskälte? Am deprimierenden Fundort?

Die Sache geht mir unter die Haut.

Das war es. Genau. Sie fühlte sich auf merkwürdige Art persönlich betroffen.

Vielleicht weil der Körper so klein war? So zierlich wie sie selbst? Jung. Weiblich. Das Opfer eines grässlichen …

Schluss jetzt. Sie durfte sich nicht mit den sterblichen Überresten der anderen Frau identifizieren. Lacey drückte ihre Gefühle weg. Hier war professionelle Distanz gefragt. Sie schluckte.

Mach deinen Job. Gib dein Bestes. Sag Dr. Peres, was du herausfindest, und dann fahr nach Hause.

Aber irgendwo vermisste irgendwer seine Tochter. Oder seine Schwester.

Beherzt, aber doch behutsam nahm sie den Unterkieferknochen von der Plane und konzentrierte sich. Ein perfektes, ebenmäßiges Gebiss ohne Füllungen. Allerdings fehlten auf beiden Seiten die vorderen Backenzähne. Seltsamerweise standen die Zähne hinter den Lücken völlig gerade. Lacey schob den kleinen Finger in einen der Zwischenräume. Er passte genau. Meist neigten oder verschoben sich die nächststehenden Zähne früher oder später und drängten sich in den frei gewordenen Platz. Bei diesem Unterkiefer war das nicht der Fall. Dabei handelte es sich nicht einmal um frische Lücken. Wo früher die Zahnwurzeln gesessen hatten, hatte sich die Knochensubstanz vollständig regeneriert.

»Irgendetwas hat die Zahnlücken offen gehalten«, murmelte Lacey. Sie legte den Kieferknochen ab und griff nach dem Schädel. Prüfend ließ sie die Fingerspitzen über die glatten Knochenflächen des Kopfes gleiten. Weiblich. Eindeutig. Männliche Schädel waren uneben und rau. Weibliche Formen bewahrten sich selbst im Tod ihre charakteristische geschmeidige Anmut. Sie drehte den Schädel um und begutachtete den vollkommen geformten Gebissbogen im Oberkiefer, in dem kein einziger Zahn fehlte.

Eine Zahnspange. Oder besonders gute Gene. Die Frau hatte ein umwerfendes Lächeln gehabt.

Die vorderen Backenzähne im Oberkiefer hatten große, silberfarbene Füllungen.

»Im Oberkiefer ist ihr dieses Zahnpaar geblieben«, murmelte Lacey. Mit zusammengekniffenen Augen suchte sie nach weniger leicht erkennbaren weißen Füllungen. »Aber die unteren Zähne waren irgendwann nicht mehr zu retten«, überlegte sie laut. »Irgendetwas hat sie anscheinend von Anfang an geschwächt.« Lacey betrachtete die vorderen Schneidezähne, suchte nach Anzeichen von Fehlentwicklungen. Denn diese Zähne bildeten sich etwa zur selben Zeit wie die vorderen Backenzähne. Aber die Schneidezähne waren weiß, ebenmäßig und sehr, sehr schön.

Lacey betastete die Enden der Zahnreihe. Die Weisheitszähne, die dort den Kieferknochen durchstießen, waren kaum zu erahnen. Ohne Röntgenbilder, auf denen sie die Wurzellänge der Weisheitszähne sehen konnte, wollte sie sich noch nicht auf das Alter der Frau festlegen. Aber bislang sprach nichts gegen Dr. Peres’ Schätzung, dass sie um die zwanzig gewesen sein musste.

Das Dröhnen eines näherkommenden Fahrzeugs riss Lacey aus ihren Gedanken.

Mit eiskalten Fingern umklammerte sie den Schädel. Durch das Plastikfenster sah sie verschwommen, wie ein Mann auf einem Quad auf den verschneiten Parkplatz bretterte und mit einer Drehung absichtlich eine Schneefontäne auf eine Gruppe von Cops schleuderte.

Lacey sprang auf, schob die Zeltplane beiseite und ging hinaus. Mit angehaltenem Atem beobachtete sie die Szene.

Wirklich lustig fanden die Cops den albernen Streich vermutlich nicht.

Murrend und missmutig klopften die Männer sich den Schnee von den blauen Uniformen. Der Quadfahrer lachte laut auf, sprang von seinem Fahrzeug und stapfte zu der aufgebrachten Gruppe. Dabei zog er lässig die Handschuhe aus.

War der Kerl noch zu retten?

Er war hochgewachsen, hatte einen selbstbewussten Gang und fürchtete den Zorn der Cops anscheinend nicht. Der Mann drehte Lacey den Rücken zu. Sie registrierte das gepflegte schwarze Haar unter der Baseballmütze und hätte gern sein Gesicht gesehen. Verblüfft beobachtete sie, wie die Cops ihn in ihren Kreis treten ließen, ihm auf den Rücken klopften und die Hand schüttelten. Der Knoten in Laceys Rückgrat löste sich.

Sie würden ihn nicht in Stücke reißen.

Der Quadfahrer stand etwa fünfzehn Meter von ihr entfernt. Als er überraschend den Kopf drehte, traf sein lachender, stahlgrauer Blick den ihren wie ein Schlag. Unwillkürlich wich Lacey vor dieser Attacke zurück. Sie blinzelte. Während der Mann sie von oben bis unten musterte, spannte sein markantes Kinn sich kurz an. Dann zwinkerte er ihr zu, grinste und drehte sich zu der Gruppe zurück.

In Laceys Gehirn ging die Lust in Habachtstellung. Sollte das etwa ein Flirtversuch sein?

Nicht übel. Die Kälte wich aus ihren Gliedern.

Laceys Fingerspitze glitt in eine leere Augenhöhle. Sie schnappte nach Luft. Ihr Blick sprang zurück zu dem vergessenen Schädel. Hoffentlich hatte sie nicht aus Versehen einen zarten Knochen zerdrückt. Nervös musterte sie den Schädel, suchte nach frischen Rissen. Als sie keine fand, stieß sie pfeifend den Atem aus.

Wenn sie diesen Schädel beschädigte, würde Dr. Peres ihr ihren vom Hals reißen.