SECHZEHN

Detective Mason Callahan hielt die DVD an und drückte die Rücklauftaste. Während er sich den Clip mit dem Kuss noch einmal anschaute, trommelten seine Finger rhythmisch auf den Tisch. Mit einer neugierig hochgezogenen Augenbraue sah er die beiden Leute an, die mit ihm am Tisch saßen. Die Anspannung im Vernehmungsraum war greifbar. Dr. Campbell wandte sich errötend ab. Aber Harper starrte ihn mit kühlem Blick an.

»Sie beide haben es ganz schön eilig, was?« Mason zeigte mit dem Kopf auf den Fernseher, ohne den Blickkontakt mit Harper zu unterbrechen. »Aber irgendjemand war von dem, was er sah, alles andere als begeistert. Der Fluch am Ende sagt eigentlich alles.«

Harper starrte ihn nur schweigend an. Demonstrativ lehnte sich der große Mann auf dem billigen Stuhl zurück und kreuzte unter dem Tisch die Knöchel. Trotz der entspannten Pose strahlte er nur mühsam im Zaum gehaltene Gereiztheit aus. Dr. Campbell saß mit ineinander verschlungenen Händen und zusammengekniffenen Lippen am Tisch. Ihr Blick hing am Bildschirm. Sie hatte feuchte Augen, weinte aber nicht. Noch nicht. Seit die DVD lief, hatte sie kein Wort gesagt.

Das viel zu kleine Vernehmungszimmer der Staatspolizei war eine düstere Kammer. Nur ein Besprechungstisch, ein paar Stühle und ein Fernseher mit DVD-Player auf einem Rolltisch standen darin. Ein neuer Anstrich war überfällig. Die Stuhllehnen hatten die schmutzigweiße Farbe von den Wänden gescheuert. Die Decke wölbte sich in einer Ecke wegen eines Wasserschadens, um den sich nie jemand gekümmert hatte, und Masons Stuhl quietschte bei jeder Bewegung erbärmlich.

»Ich denke, wir können davon ausgehen, dass Dr. Campbell beobachtet wird«, sagte Detective Ray Lusco ruhig und sachlich. Er lehnte an der Wand. Mason wusste, dass sein Partner bestrebt war, den Wettstreit der Egos am Tisch in geordnete Bahnen zu lenken, bevor der Siedepunkt erreicht war. Ray verschränkte die Arme über der breiten Brust. Sein Bizeps wölbte sich unter dem gestärkten weißen Hemd.

»Was ist mit Suzanne? Um mich geht es hier doch gar nicht.« Dr. Campbell wedelte mit der Hand in Richtung Bildschirm. »Was ist mit Suzanne passiert? Hat er sie so lang ans Bett gefesselt, bis das Kind zur Welt kam?«, fragte sie gereizt. In ihren feuchten Augen flackerte Zorn.

»Natürlich geht es um dich«, sagte Harper. »Suzanne ist tot, aber du bist am Leben. Und jemand, der weiß, was mit Suzanne passiert ist, spioniert dir hinterher. Das gefällt mir nicht.« Der letzte Satz war an Callahan gerichtet, der zustimmend nickte.

»Ich glaube, wir können mit einiger Sicherheit sagen, dass Ihr Verfolger Trenton und Cochran auf dem Gewissen hat. Die wichtigste Verbindung zwischen DeCosta und den ermordeten Männern ist Suzanne. Die Männer haben wichtige Rollen beim DeCosta-Prozess gespielt und jetzt bezahlen sie dafür mit dem Leben. Darüber haben wir schon bei Ihnen zu Hause gesprochen. Wenn dieser Verrückte nach demselben Muster weitermacht, könnten Sie auch auf seiner Liste stehen. Vielleicht sogar als nächstes Opfer.«

»Aber wozu ihr die DVD schicken und sie wissen lassen, dass sie beobachtet wird?«, warf Harper ein.

Mason schüttelte den Kopf. »Gute Frage. Wir wissen nur, dass er uns etwas sagen will. Aber nicht was. Wir müssen herausfinden, wer den Film gedreht hat. DeCosta wurde keine vierundzwanzig Stunden nach Suzannes Entführung gefasst. Er kann es also nicht gewesen sein. Es gab ganz offensichtlich eine zweite Person. Jemanden, dem er vertraute, den er zu den Opfern ließ. Wir müssen uns seine Familie vornehmen und alle, die viel mit ihm zu tun hatten. Es ist durchaus möglich, dass ein und dieselbe Person beide Teile des Films gedreht hat.« Mason bemerkte die aufflackernde Neugier in Dr. Campbells Blick. »Und es muss jemand sein, der wusste, wohin Sie gestern nach der Arbeit gingen oder der Ihnen gefolgt ist.«

»Der Kerl weiß offensichtlich von Ihrer engen Freundschaft mit Suzanne«, fügte Ray hinzu. »Mit der DVD sagt er Ihnen, dass er das Verhältnis zwischen Ihnen und Suzanne kennt. Außerdem legt er Wert darauf, uns mitzuteilen, dass er hinter den aktuellen Ereignissen steckt.«

»Was meinen Sie damit?« Dr. Campbell rieb sich die Stirn.

»Die Morde an Trenton und Cochran. Suzannes sterbliche Überreste unter meinem Mehrfamilienhaus.« Harpers Worte klangen abgehackt.

»Irgendeine Ahnung, um wen es sich handeln könnte? Haben sich in letzter Zeit Fremde an Sie herangemacht? Bei dem ausgeprägten Ego, mit dem wir es hier zu tun haben, würde es mich nicht wundern, wenn er sich Ihnen genähert oder sogar mit Ihnen gesprochen hätte.« Mason sah, wie Dr. Campbells Gesicht noch eine Spur blasser wurde.

»Für Dr. Campbell ist er vielleicht gar kein Fremder«, gab Ray zu bedenken. »Es könnte eine Person aus ihrer Vergangenheit sein. Während des DeCosta-Prozesses hatte sie es mit zig verschiedenen Leuten zu tun.«

Callahan nickte. »Sind in letzter Zeit irgendwelche alten Bekannten wieder aufgetaucht? Leute, die Sie eher selten sehen?«

Mason sah den alarmierten Blick, den Dr. Campbell Harper zuwarf, und richtete sich auf seinem geräuschvollen Stuhl auf. »Was? Was ist passiert?«

Dr. Campbell schüttelte den Kopf. Sie schien anderer Meinung zu sein als Harper, der düster nickte.

Harper schnaufte. »Wir hatten gestern eine kurze Begegnung mit ihrem Exmann.«

»Gestern Abend?«

»Vor … dem hier.« Harper nickte zum Fernseher hin. »Etwa zehn oder fünfzehn Minuten eher.«

»Und wie dürfen wir uns diese Begegnung vorstellen?«

»Unangenehm.« Harper sah Dr. Campbell entschuldigend an. »Er hat sie vor etwa fünfzig Leuten eine hinterhältige Schlampe genannt. Laut und deutlich.«

»Name?« Ray machte sich in aller Ruhe Notizen.

»Frank Stevenson«, antwortete Harper, bevor Lacey überhaupt den Mund aufmachen konnte.

Mit was für einem Widerling war sie denn bloß verheiratet gewesen? Mason musterte Dr. Campbell, die immer noch den Kopf schüttelte.

»Frank kann es nicht sein. Er ist ein Arsch, aber kein Killer.«

»Wann waren Sie denn mit ihm verheiratet? Wusste er von DeCosta und Suzanne?«

Dr. Campbell nickte. »Frank und ich waren während des College zusammen. Wir heirateten in dem Jahr … nach Suzannes Verschwinden.« Sie schluckte, doch ihre Augen zeigten, dass sie sich im Griff hatte. »Wir waren damals alle miteinander befreundet. Frank begleitete unser Team zu fast allen Wettkämpfen. Jeder kannte ihn.«

»War er auch mit bei dem Wettkampf in Corvallis?«, fragte Mason.

In Dr. Campbells Zügen blitzte Ärger auf. »Ich habe in der Nacht damals DeCostas Gesicht gesehen. Ich habe gesehen, wie er sich Suzanne geschnappt hat. Das war nicht Frank!«

»Das behaupte ich auch nicht. Ich möchte nur gern wissen, wo er sich während gewisser Ereignisse aufhielt. Dank der DVD wissen wir jetzt, dass damals an den Taten mindestens zwei Personen beteiligt waren. Während der eine im Gefängnis saß, drehte der andere den Film.« Masons Magen brannte. Vor zehn Jahren hatte er irgendetwas übersehen. Wie hatte er so naiv sein können, zu glauben, mit DeCostas Verhaftung wäre alles vorbei? Hier hatten sie den Beweis, dass Suzanne auch Monate nach seiner Festnahme noch am Leben gewesen war und dass es einen weiteren Beteiligten an ihrer Entführung gab. »Ihr Exmann weiß also, wo Sie gestern Abend waren. Und ich nehme an, Ihre Adresse kennt er auch.«

Dr. Campbells Nicken wirkte ziemlich steif. Sie nahm anscheinend an, dass er sich in etwas verrannte. Aber im Augenblick war jeder, der irgendwie mit ihr Kontakt aufnahm, ein potenzieller Verdächtiger. Umso mehr, wenn es sich dabei um einen Spinner handelte.

»Ich denke nicht, dass er den Clip von gestern Abend gedreht hat«, warf Harper ein. »Ich habe Stevenson gestern gesehen. Als wir plötzlich vor ihm standen, war er ziemlich schockiert. Dass er uns zum Truck gefolgt ist, kann ich mir nicht vorstellen. Schon gar nicht mit seiner derzeitigen Ehefrau im Schlepptau.« Die Worte klangen sicher, doch Mason sah einen Anflug von Zweifel in Harpers Augen.

Mason fixierte den anderen Mann. »Dieser Verrückte könnte Sie jetzt auch im Visier haben. Dem, der den Film gemacht hat, hat der Kuss ganz und gar nicht gepasst.«

Dr. Campbell sog geräuschvoll die Luft ein.

»Soll das heißen, unser rätselhafter Kameramann hat eine Schwäche für Dr. Campbell?« Ray verzog nachdenklich das Gesicht. Mason hörte die Zahnräder im Kopf seines Partners ineinandergreifen. »Vielleicht ist das ein Vorteil.«

Mason wusste genau, was Ray meinte, aber nicht laut aussprach. Wenn der Kerl auf Dr. Campbell stand, brachte er sie vielleicht nicht um. Zumindest nicht gleich.

»So wie für Suzanne?« Dr. Campbell spuckte die Worte aus. Auch sie hatte verstanden, was Ray angedeutet hatte. »Wozu seine Schwäche für sie geführt hat, sehen wir ja.« Sie schlug mit beiden Handflächen auf den Tisch. »Wo ist das Baby? Wie kommt es, dass ich mir als einzige Gedanken über dieses Kind mache?«

»Erstens wissen wir nicht, ob es überhaupt eines gibt. Und zweitens ist die Schwangerschaft, die wir auf der DVD sehen, schon lang her. Im Gegensatz zu der Drohung gegen Sie. Die ist absolut aktuell.« Am liebsten hätte Mason auch noch mit dem Finger auf die Zahnärztin gezeigt.

Dr. Campbell schien etwas ganz anderes zu interessieren. »Vielleicht ist die DVD ja gar nicht alt. Vielleicht hat er Suzanne jahrelang gefangen gehalten, bevor sie schwanger geworden ist.« Sie griff nach Strohhalmen.

Mason schüttelte den Kopf. »Ich habe gestern kurz mit dem Gerichtsmediziner gesprochen. Er vermutet, dass sie seit fast zehn Jahren tot ist.«

»Stand in seinem Bericht, dass sie ein Kind geboren hat?«, fragte Lacey. »Das könnte man nämlich an den Knochen des Beckengürtels sehen.«

»Ach ja?« Allzu überrascht wirkte Mason nicht. Was Anthropologen aus einem Haufen Knochen alles herauslesen konnten, faszinierte ihn immer wieder. »Ob in dem Bericht auch eine Schwangerschaft erwähnt wird, weiß ich nicht mehr.« Er versuchte, sich zu erinnern. »Aber ich schaue gleich noch einmal nach.«

Er warf Dr. Campbell einen eindringlichen Blick zu. »Und Sie machen sich am besten rar, bis die Sache geklärt ist. Dieser Bekloppte hat ein ungesundes Interesse an Ihnen. Fahren Sie eine Zeitlang weg. Machen Sie Urlaub.«

»Urlaub?«, stammelte sie. »Ich soll Urlaub machen, während hier Leute ermordet werden? Mich an den Strand legen und Mai Tais schlürfen? Ich werde mich nicht verstecken. Für das ganz normale Leben, das ich führe, habe ich lang und hart gekämpft. Auf keinen Fall lasse ich mir von irgendeinem Phantom so viel Angst einflößen, dass ich mir zu Hause oder sonst wo die Decke über den Kopf ziehe und mich nicht mehr unter die Leute wage.« Ihre Stimme versagte. Mason glaubte zu ahnen, durch welche Art von Hölle sie vor einem Jahrzehnt gegangen war. Vermutlich hatte sie jahrelang jeder Schatten erschreckt.

»Ich gehe nirgendwohin.«

Mason bemerkte den glasigen Film über ihren Augen, der vor einer Minute noch nicht dagewesen war. Sie gab sich äußerlich stark, doch in ihrem Schutzwall gab es einen alten Riss, der langsam breiter wurde. Was dahinter zum Vorschein kam, wollte er lieber nicht sehen.

Harper berührte Lacey am Arm. »Er hat recht. Du solltest die Stadt verlassen.«

Sie riss den Arm weg und funkelte ihn an. »Sag du mir nicht, was ich tun soll.« Harper zuckte zurück. Dieselbe Irritation, die auch Mason empfand, spiegelte sich auf seinem Gesicht.

Lacey stand auf, kämpfte sich in ihre dicke Jacke und schnappte ihre Handtasche. »Ich bin hier fertig.« Auf dem Weg nach draußen wich sie jedem Blickkontakt aus. Harper öffnete ihr die Tür. »Die DVD können Sie behalten. Ich will sie nicht mehr sehen.«

Mason hörte das wütende Klacken der Stiefelabsätze im Flur verhallen.

»Sie läuft nicht weg. Wir sind mit meinem Wagen hier.« Harper starrte auf die Tür. Dabei knirschte er vor Frustration mit den Zähnen. Dann beugte er sich zu Mason. »Können Sie irgendetwas für sie tun?«

»Sie schützen, meinen Sie?«

Harper nickte grimmig. »Der Typ könnte sie jederzeit von der Straße pflücken oder aus dem Bett zerren.« Er hielt inne. Mit einem düsteren Blick bezog er Ray in das Gespräch mit ein. »Sie wissen beide, dass der Kerl etwas von ihr will.« Er zeigte auf den leeren Bildschirm des Fernsehers. »Können Sie sich die Hölle vorstellen, durch die ihre Freundin gegangen ist?«, fragte er leise.

Mason traute sich das zu. Es fiel ihm auch nicht schwer, sich über dem schwangeren Körper Dr. Campbells Gesicht an Stelle von Suzannes vorzustellen.

»Offiziell können wir nicht viel tun. Im Augenblick stützen wir uns nur auf Mutmaßungen. Gleichzeitig denke ich, wir sollten sie rund um die Uhr im Auge behalten. Nur schaffen wir das leider nicht.« Mason sah Harper an.

Harper nickte bedächtig.

Als Jack Lacey vor dem Polizeigebäude nirgends entdeckte, stockte ihm der Atem. Die vereiste Straße lag verlassen da, dabei hatte sie höchstens eine halbe Minute Vorsprung. In der Hoffnung, dass sie sich beruhigt hatte und jetzt bei seinem Truck auf ihn wartete, joggte Jack durch den festgefahrenen Schnee zu dem Parkplatz. Er warf einen Blick zum Himmel. Für die nächsten zwölf Stunden waren fünf bis zehn Zentimeter Neuschnee vorhergesagt. Wenn er Lacey dazu bringen wollte, die Stadt zu verlassen, musste er schnell sein.

Warum zerbrach er sich eigentlich ihren Kopf? Hatte er denn selbst nicht genug am Hals?

Er musste sich um seine Firma kümmern und einen schweren Imageschaden verhindern. Eigentlich hatte er gar keine Zeit, den großen Bruder zu spielen. Und abgesehen davon kannte er die Frau kaum. Doch dann flammte ihr breites Lächeln in seinem Kopf auf und fuhr ihm in die Lunge wie ein Schneidbrenner. Wem versuchte er eigentlich, etwas vorzumachen? Gefühle logisch erklären zu wollen, war sinnlos. Schließlich fühlte man sich nicht aus Vernunftgründen zu jemandem hingezogen. Er wusste nur, wie ihm im Augenblick zumute war. Am liebsten wollte er Lacey vor dem verdammten Video bewahren, ihr Gesicht an seine Brust drücken und die Hände in ihrem Haar vergraben. Der Schmerz und die Verletzlichkeit in den angstvollen braunen Augen zerrissen ihm das Herz.

Er wollte auf etwas einschlagen. Auf jemanden.

Als Jack um die Ecke des Ziegelbaus bog, entdeckte er die zierliche Gestalt neben seinem Truck. Dem Himmel sei Dank. Er würde Lacey nicht mehr aus den Augen lassen. Der Knoten in seinem Magen löste sich. Er hatte gute Lust, diese Frau zu schütteln, bis sie zur Vernunft kam.

Doch mit Druck kam er bei ihr nicht weiter. Sie würde eher das Gegenteil von dem tun, was er verlangte. Wenn er sie schützen wollte, musste er diplomatisch vorgehen, ihr das Gefühl geben, seine Ideen für ihre Sicherheit wären ihre eigenen. Als er beim Näherkommen den immer noch sehr frischen Ärger auf ihren Zügen sah, begrub er seine psychologische Strategie kurzerhand in einem Schneeberg. Diese Frau würde tun, was immer sie wollte.

Ihre Begrüßung bestätigte das.

»Du und die Cops – ihr werdet mir nicht vorschreiben, was ich zu tun habe.« Lacey lehnte an seinem Truck. Ihr Blick war unerbittlich. »Ich habe verdammt hart gearbeitet, um diesen Alptraum hinter mir zu lassen und zu verhindern, dass er mein weiteres Leben bestimmt. Ich lasse mir nicht einreden, ich müsste mich verstecken.«

»Nicht verstecken. Du sollst ihm nur aus dem Weg gehen.«

»Verdammt!« Sie stampfte auf. »Dieser Psychopath macht mir schon zum zweiten Mal das Leben zur Hölle. Beim letzten Mal habe ich es irgendwie geschafft, wieder auf die Beine zu kommen. Aber jetzt … Ich kann nicht ständig über die Schulter schauen. Selbst die Stadt zu verlassen, würde nicht helfen.«

Jack sagte nichts. Sie sollte erst einmal Dampf ablassen. Eigentlich wollte er sie umarmen, sie beruhigen. Aber er musste den richtigen Zeitpunkt abwarten. Stumm vergrub er die Fäuste in den Jackentaschen. Die Anspannung machte seinen Rücken steif. Geduld.

Plötzlich erstarrte sie, ihre Hände flogen zu ihrem Mund, ihre Augen weiteten sich. »Wo ist das Baby? Suzannes Verschwinden hat mir ein Loch ins Herz gerissen. Und seit ich weiß, dass sie schwanger war, ist das Loch doppelt so groß. Es ist ein Gefühl … ein Gefühl, als hätte ich selbst ein Kind verloren. Mir ist klar, dass ich gar nicht nachempfinden kann, was in einer Frau vorgeht, der so etwas tatsächlich passiert, aber ich muss dieses Kind finden. Ich muss es wenigstens versuchen. Das bin ich Suzanne schuldig … Ich hätte sie in der Nacht damals nicht loslassen dürfen.« Lacey kam ins Stocken. Ihr Blick hatte plötzlich etwas Gehetztes. »Glaubst du, der Killer ist der Vater des Babys? Oh Gott. Hat er das Kind vielleicht immer noch?«

Der Schmerz machte ihre braunen Augen noch dunkler. Jack betrachtete das als Zeichen.

Er legte die Arme um sie und zog sie an sich. Gern hätte er ihr den Schmerz abgenommen. Sie vergrub das Gesicht an seiner Jacke und atmete in mühsamen Stößen. Zögernd schlang sie unter der Jacke die Arme um ihn. Er spürte, wie ihr Herz gegen seine Brust hämmerte, hielt sie noch fester und legte sanft das Kinn auf ihr Haar. Jack sog ihren weiblichen Duft ein. Mit geschlossenen Augen wehrte er sich gegen das Verlangen, das in ihm aufkam. Er wünschte sich, er könnte ihre Qualen einfach verscheuchen.

Wie viele Jahre hatte die Heilung ihrer inneren Wunden nach dem Angriff gedauert? Die Narbe, die heute wieder aufgebrochen war, hatte ein empfindliches Nervenkostüm offenbart. Jack dachte an Cal und schluckte. Cal war für ihn mehr als ein Freund und Mentor gewesen. Und er war durch die Hand des Killers einen brutalen Tod gestorben. Vielleicht durch dieselbe Person, die nun hinter Lacey her war.

Beim Gedanken an den Kuss auf der DVD zog er sie noch heftiger an sich. Mit Lacey in den Armen fuhr er herum, suchte mit den Augen nach einer Kamera, einem Beobachter – irgendjemandem. Er hatte das Gefühl, als lauerten fremde Blicke auf sie. Callahan hatte recht. Jack musste Lacey an einen sicheren Ort bringen. Hawaii, Fidschi, die Antarktis – egal.

Jack knirschte wütend mit den Zähnen. Er würde sie beschützen. Ihm blieb keine andere Wahl. Sein Herz war stärker als sein Kopf.

Und er musste das Baby für sie finden.

Ray und Mason beobachteten das Paar durch das Bürofenster im ersten Stock.

»Es ist zum Kotzen!« Ray wandte sich ab. Der Stuhl, nach dem er trat, flog quer durch den Raum. »Wir können überhaupt nichts für sie tun.« Seine Stimme wurde eine Oktave tiefer. »So eine Kacke. Warum können wir sie nicht einfach irgendwo verstecken, bis die Sache vorbei ist?«

Mason stand stumm am Fenster, stützte sich mit der Hand am Sims ab und wartete geduldig, bis dieser ungewöhnliche Ausbruch vorbei war. Rays Frage war rein rhetorisch. Für so etwas hatten sie weder die Mittel noch das Personal. Das war ihnen beiden klar.

Mason sah, wie Harper herumfuhr und mit Blicken die Umgebung absuchte. Guter Mann. Vielleicht bist du ja der Richtige, um sie zu beschützen. Wenn Dr. Campbell schon keinen Polizeischutz kriegen konnte, tat es ein Ex-Cop vielleicht auch. Harper schob sie in den Truck und sah sich noch einmal auf dem Parkplatz um. Dann fuhr er so rasant davon, dass die Reifen eine Schneefontäne in die Luft warfen.

Harper hatte etwas Besitzergreifendes. Darin stand er Mason in nichts nach, der sich aufführen konnte wie ein bissiger Köter, der sein Lieblingsspielzeug verteidigte. Harper würde alles Menschenmögliche tun, um Dr. Campbell zu beschützen. Wenn sie ihn ließ.

Aber was war mit diesem Reporter … Brody? Mason dachte an den blonden Mann, der Dr. Campbell bewacht hatte wie eine Bärin ihre Jungen. Unter der coolen Oberfläche dieses Typen lauerte ein aufbrausender, unberechenbarer Charakter. Mason erinnerte sich daran, dass Harper und er sich bei ihrem ersten Gespräch einig gewesen waren, dass der Mann eine Nervensäge erster Güte war.

Wie würde sich Brody in dieses kuschelige Dreieck fügen?