ELF

Lächelnd balancierte er den Golfschläger auf der Handfläche, genoss dessen Schwere. Von Golf verstand er zwar nicht viel, wusste aber, dass diese Schläger vom Allerfeinsten waren. Es war berauschend, ein so teures Spielzeug in der Hand zu halten. Das Statussymbol eines reichen Mannes. Er legte die Hände um den Griff, versuchte einen Übungsschwung und fluchte. Die verdammten Dinger waren viel zu lang für ihn. Er schleuderte den Schläger aufs Bett.

Was hatte er erwartet? Der Anwalt war ein großer Mann. Im Gegensatz zu ihm.

Immer wieder wurde er mit diesem Makel konfrontiert. Die Gesellschaft bevorzugte Männer mit einer gewissen Körperlänge. Er hasste es, nicht groß zu sein. Das Wort klein benutzte er nie. Und schon gar nicht das Wort Zwerg. Diese Bezeichnungen hatte er in seinem Leben schon zu oft gehört. Und sie waren nur selten freundlich gemeint.

Er würde es allen zeigen. Bald würden sie zu ihm aufblicken und dabei würde seine Körpergröße keine Rolle spielen.

Er ging ans Fenster und warf durch die Jalousien einen Blick auf die dunkle Straße. Keine Autos. Man sollte doch glauben, der Mann wäre um diese Zeit zuhause. Es war fast ein Uhr morgens. Wie lang dauerte eine Verabschiedung in den Ruhestand? Hoffentlich hatte der Typ nicht irgendeine Schlampe aufgerissen und wälzte sich nun den Rest der Nacht in ihrem Bett herum.

Gelangweilt beschloss er, sich noch ein bisschen umzusehen. Er hatte bereits sechs Pornos, einen kleinen Vorrat Gras und über zweitausend Dollar in bar gefunden. Die DVDs und das Geld steckte er ein. Das Dope ließ er liegen. Mit dieser Art Müll verunreinigte er seinen Körper nicht. Das Zeug machte den Geist so stumpf wie eine feine Klinge, die man über den Asphalt zog.

Dieses Haus war das reinste Junggesellenparadies. Der Besitzer war seit fünf Jahren geschieden und hatte eine Schwäche für elektronischen Schnickschnack. Stereoanlagen der Premiumklasse und nagelneue XXL-Flachbildfernseher garnierten jedes Zimmer. Mehr Computerspiele, DVDs und Blue-Rays als in einer Videothek stapelten sich in den Regalen eines kinoähnlichen Vorführraums. In der Garage standen ein Porsche und ein Mini Cooper. Anscheinend war der Besitzer heute mit dem allradgetriebenen Mercedes unterwegs.

Noch einmal wanderte er durch den makellos aufgeräumten begehbaren Kleiderschrank. Dabei summte er eine alte Black-Sabbath-Melodie. Er hatte zweiundzwanzig Anzüge gezählt, neun Paar Anzugschuhe und etwa eine Million Krawatten. Seine Hand strich über eine graue Anzugjacke. Der Schnitt und der Stoff gefielen ihm. Das Kleidungsstück sprach seinen anspruchsvollen Tastsinn an. Er zog es vom Bügel und schlüpfte mit den Armen hinein.

Nicht einmal seine Fingerspitzen waren zu sehen.

Er riss sich die Jacke vom Leib und schleuderte sie zu Boden wie ein verwöhnter Vierjähriger im Zorn über ein kaputtes Spielzeug.

Seine Größe. Ständig wurde er daran erinnert.

Seine Mutter hatte oft behauptet, er würde nur langsamer wachsen und die anderen irgendwann einholen. Die Schlampe hatte gelogen. Wie immer.

Während der Schulzeit hatte er sich auf seine geistigen Fähigkeiten konzentriert und bereits als Neuntklässler Kurse für die Abschlussklassen und sogar College-Seminare belegt. An seiner Größe konnte er nichts ändern, aber er konnte seine Mitschüler auf andere Weise überflügeln.

Mit Intelligenz.

Für ihn war die Schule Mittel zum Zweck gewesen. Er hatte sich Lehrkräfte und Bibliothekspersonal ausgesucht – Leute, von denen er glaubte, dass sie ihm irgendwie nutzen und ihm etwas Besonderes beibringen konnten. Egal was, Hauptsache, es brachte ihn voran. Er lernte, mit Worten zu manipulieren, sich erfolgreich zu verkaufen.

Aber er hasste seine Mitschüler. Besonders die anderen Jungs. Sie ließen ihn stolpern, warfen seine Hefte in den Dreck und machten bitterbösen Highschool-Witze über ihn. Er wollte sie alle vernichten. Oft schwelgte er in Racheträumen, in denen er es den Arschlöchern heimzahlte, die ihm die Schulzeit zur Hölle machten.

Immer, wenn es an Schulen im Land Amokläufe gab, hing er gebannt vor dem Fernseher. Er verstand die Kids, die so etwas taten. Er konnte die Frustration und die Wut nachempfinden, die sie zum Töten trieb. Mit einer Mischung aus Neid und Bewunderung verfolgte er die endlosen Nachrichtensondersendungen. Sie hatten es tatsächlich getan. Er malte sich solche Szenarien in seinen kühnsten Wunschträumen aus – setzte sie aber nie in die Tat um. Welch ein Vermächtnis diese jungen Leute hinterließen. Niemand würde sie je vergessen.

Ein Lächeln zuckte um seine Mundwinkel. Er würde bald genauso berühmt sein; es war nur noch eine Frage der Zeit. Eigentlich musste er sich nur an seinen Plan halten. Die zeitlichen Abläufe hatte er jahrelang immer wieder überarbeitet und verfeinert. Im Grunde konnte nichts mehr schiefgehen.

Allerdings erwog er inzwischen, noch einen neuen Handlungsstrang einzuflechten.

Damit, dass Lacey Campbell so früh in Erscheinung treten würde, hatte er nicht gerechnet. Was für eine erstaunliche Laune des Schicksals, dass ausgerechnet sie bei der Bergung von Suzanne Mills’ Knochen dabei gewesen war. Ungläubig schüttelte er darüber zum hundertsten Mal den Kopf. Er hatte erst später mit ihr gerechnet – wenn die Überreste ins gerichtsmedizinische Institut gebracht wurden. Und selbst wenn sie an der Untersuchung gar nicht beteiligt gewesen wäre, hätte sie früher oder später gehört, wessen Skelett im Leichenschauhaus lag. Ihr verfrühter Auftritt in seinem Spiel war ein mächtiges Zeichen. Aber er musste es vorsichtig interpretieren.

Was hatte es zu bedeuten?

Sollte er seinem ursprünglichen Plan folgen? Sollte er gegen das Verlangen ankämpfen, mit ihr zu spielen? Oder hatten höhere Mächte beschlossen, ihren Platz in den zeitlichen Abläufen vorzuverlegen und ihm mehr Zeit mit dieser ganz besonderen Frau zu geben? War ihre Gegenwart ein Geschenk?

Ein Geschenk? Gute Idee. Sicher konnte er ihr doch einfach etwas schenken, ohne seine Pläne zu gefährden. Er musste sich nur genau überlegen, was es sein sollte. Vorerst schob er den Gedanken beiseite. Er brauchte Zeit, um alle Möglichkeiten abzuwägen.

Etwas zufriedener ging er die Schachtel mit den Manschettenknöpfen durch und suchte die goldenen heraus. Dass er beim Sortieren summte, war ihm nicht bewusst. Die Melodie schlief immer in seinem Kopf; er merkte es nicht, wenn er sie zum Leben erweckte.

Ein Paar mit stattlichen Diamanten besetzte Manschettenknöpfe erregten seine Aufmerksamkeit. Waren die echt? Er steckte sie ein.

Plötzlich merkte er, wie viel Durst er hatte. Auf dem Weg in die Küche überlegte er sich, was dieser Anwalt wohl an Trinkbarem im Kühlschrank aufbewahrte. Designerwasser? Bier aus trendigen Mikro-Brauereien? Gerade als er die Kühlschranktür geöffnet und sich glücklich eine Dose Cola gegriffen hatte, hörte er das leise Summen eines Garagentoröffners.

Verdammt. Warum ausgerechnet jetzt? Er betrachtete die kalte Brause in seiner Hand. Dass er sie nicht trinken konnte, bevor er anfing, ärgerte ihn. Er warf die Dose zurück in den Kühlschrank und knallte die Tür zu.

Wo war der Golfschläger? Er schlich sich zurück ins Schlafzimmer und versuchte, nicht an seinen Durst zu denken. Heute Nacht gab es noch viel zu tun.

Die Cola würde am Morgen auch noch da sein.